Russlands Kalkül
Es spricht vieles dafür, dass die russische Regierung eine militärische Eskalation in der Ukraine ernsthaft in Erwägung zieht. Die Gelegenheit ist günstig: Die russischen Streitkräfte haben in den vergangenen Jahren eine weitestgehend erfolgreiche Modernisierung durchlaufen. Die russische Rüstungsindustrie ist einer der wenigen international konkurrenzfähigen Wirtschaftszweige des Landes, das bis heute – wenn auch mit einigem Abstand hinter den USA – der zweitgrößte Waffenexporteur weltweit ist. Diese leistungsfähige Rüstungsindustrie versorgt die russische Armee mit ebenso preisgünstigen wie hochwertigen Waffen, wodurch Russland eine der schlagkräftigsten Armeen der Welt unterhalten kann, obwohl es in US-Dollar gerechnet kaum mehr für Rüstung ausgibt als beispielsweise Großbritannien oder Deutschland. Das in den vergangenen Jahren ebenfalls modernisierte russische Atomraketenarsenal, inklusive neuer Hyperschallwaffen, soll sicherstellen, dass die USA nicht direkt in einen Konflikt in der Ukraine eingreifen.
Überdies scheint Russland trotz der Pandemie auch für einen ökonomischen Krieg gerüstet. Dank der hohen Weltmarktpreise für Rohstoffe und fossile Energieträger verfügt es über Devisenreserven von mehr als 600 Milliarden US-Dollar, was bei einer eher mäßigen Auslandsverschuldung von etwas über 400 Milliarden US-Dollar einen Schutz gegen kurzfristige Wirtschaftssanktionen darstellt. Neu errichtete Pipelines nach Deutschland und China sind zusätzliche Machthebel. Westeuropa ist wegen explodierender Energiepreise auf russische Lieferungen angewiesen, während Russland das Exportgeschäft mit China weiter ausbaut. Schließlich ist die Opposition in Russland weitgehend ausgeschaltet, das Regime sitzt fest im Sattel. Nach der Niederschlagung der belarussischen Oppositionsbewegung im vergangenen Jahr ist auch Belarus stärker an Russland gebunden und wird derzeit zum Aufmarschgebiet russischer Truppen.
Dennoch findet diese taktische Offensive Moskaus aus einer strategischen Defensivstellung heraus statt. Russland fordert »Sicherheitsgarantien«, also die Aufrechterhaltung des Status quo im postsowjetischen Raum. Die Nato hingegen will, dass ihr auch in Zukunft weitere Staaten beitreten können. Nachdem westliche Staaten den prowestlichen Umsturz 2014 in Kiew unterstützt hatten, hatte der Beitritt der Ukraine zu einem EU-Assoziationsabkommen die Bildung eines um Russland zentrierten postsowjetischen Wirtschaftsraums empfindlich gestört: Die 2015 auf russische Initiative hin gegründete Eurasische Wirtschaftsunion blieb mit den Mitgliedstaaten Belarus, Kasachstan, Russland, Armenien und Kirgistan ein vergleichsweise schwaches Wirtschaftsbündnis, dessen gemeinsamer Binnenmarkt auch keine so enge politische Integration wie die EU besitzt.
Selbst die an Paranoia grenzende Furcht der russischen Staatsführung vor westlich finanzierten »Farbenrevolutionen« in ihren Nachbarstaaten ist insofern begründet, als die meisten postsowjetischen Staaten – trotz aller Repression – keine stabilen und fest verankerten Herrschaftsverhältnisse aufgebaut haben. Die Stagnation und soziale Misere in Ländern wie Belarus oder Kasachstan destabilisiert auch deren autoritären politischen Überbau. Zwischen Ostsee und Wladiwostok scheiterte in den vergangenen Jahrzehnten die industrielle Modernisierung und der Aufbau eines dynamischen Wirtschaftsgroßraums, und entsprechend fragil ist auch der russische Einfluss auf seine Nachbarstaaten.