Adornos Vorlesung »Fragen der Dialektik« liegt jetzt in Buchform vor

Fester Knoten

Drei Vorlesungen hielt Adorno über sein Verständnis von Dialektik. Bei der letzten, »Fragen der Dialektik« im Wintersemester 1963/1964, streikte das Aufnahmegerät ausgerechnet bei den Sitzungen zu Marx. Nun ist sie in den Nachgelassenen Schriften erschienen.

Wenn heutzutage die Polarisierung oder Spaltung der Gesellschaft beklagt wird, ist der Erkenntniswert meist so gering, dass es nur ermüdet. Jede halbwegs ehrliche Analyse der modernen bürgerlichen Gesellschaft weiß doch, dass Spaltung ihr grundlegendes Moment ist – nenne man es nun Klassengegensätze, Ungleichheit, Diskriminierung, cleavages oder, mit postmoderner Konnotation, einen Konflikt zwischen Hegemonie und Anteilslosen. Unversöhnliche Gegensätze festzustellen, ist so elementar, dass es dem Denken eigentlich spätestens seit der Erkenntniskritik eines Immanuel Kant ohnehin eigen war. Vielmehr dürfte das Neue am Stand des Bewusstseins heute sein, dass es bereits beim einfachen Nachvollzug dessen, wie diese Gegensätze zusammenhängen, an seine Grenze stößt.

Adorno geht es nicht bloß darum, Dialektik auszubuchstabieren und eine Lehre darzulegen. So harsch er den Idealismus angeht, so klar wendet er sich auch gegen die Vereinnahmung durch die falschen Freunde der Dialektik.

Die Spaltung, die etwa durch die Pandemie zwischen den Vernünftigen und den Leugnenden passiert sein soll, ist deshalb so unverständlich, weil sich hier keine klar abgegrenzten Lager gegenüberstehen, sondern solche, die miteinander vermittelt sind. Die Maßnahmenbefürworter lassen die pure Vernunft teilweise repressive Regeln entfalten, dass sie einem Sinn von Vernunft – Freiheit – platt widersprechen. Aber jene Freiheitsliebenden, die dem eine zum Selbstzweck verkommene Rebellion entgegensetzen, sitzen einem Verständnis von Freiheit auf, das wiederum den Impuls der Freiheit negiert, nämlich Vernunft. Die widersprüchlichen Positi­onen enthalten sich gegenseitig und verweisen damit über ihren Widerspruch auf einen Zusammenhang. Um dieser Vermittlung auf die Schliche zu kommen, so die Erkenntnis seit Hegel, braucht es dialektisches Denken. Nicht umsonst ist es daher bis heute eine Grundfrage linker Theorie: Wie hältst du’s mit der Dialektik?

An dieser Frage hängt eine ganze Menge praktischer Konsequenzen. Nicht zuletzt geht es mit der Dialektik darum, ob es möglich ist, die Gesellschaft in ihrer Widersprüchlichkeit als Gesamtzusammenhang zu begreifen. Wer das als scholastische Frage abtut, sei daran erinnert, dass dies überhaupt erst die Voraussetzung wäre, um Gesellschaft zu verändern. Denn andernfalls müsste man sie an dem einen oder anderen Punkt so hinnehmen, wie sie ist. Weil sich die moderne Gesellschaft aber gerade als menschengemachte auszeichnet, ist das dann eben Ideologie: das notwendig falsche Bewusstsein, in dem die sozialen Verhältnisse zu handlungsleitenden Naturverhältnissen verdinglicht sind. Es geht also um die Erkenntnis, welchen Anteil das gegenwärtige Bewusstsein daran trägt, dass das »Ganze« so weitergeht wie bisher. Diese Frage trieb auch Theodor W. Adorno um. Dialektik, so sagte er etwa in seiner Vorlesung zur »Einführung in die Dialektik«, sei im Grunde der »Kampf gegen die Verdinglichung der Welt«.

Auch in dem neuen Band aus seinen Nachgelassenen Schriften mit dem Titel »Fragen der Dialektik« nimmt er sich ihrer an. Sie umfasst eine Vorlesung, die Adorno von November 1963 bis Februar 1964 zweimal wöchentlich in insgesamt 26 Sitzungen hielt. Es ist die letzte der drei Vorlesungen zu seinem Verständnis der Dialektik, die schließlich in die »Negative Dialektik« mündeten, jenem »philosophischen Hauptwerk« Adornos, dessen Gehalt bis heute so wenig erschlossen wurde, dass es ­eigentlich nur in Schlagworten rezipiert wird: irgendwas mit Hinwendung zum Nichtidentischen, Vorrang des Objekts, nicht verwirklichter ­Befreiung.

Adornos Vorstellung einer negativen Dialektik kann man sich in der Vorlesung noch einmal mit studentischer Neugier zuwenden. Das bietet nicht nur den Vorteil, dass Adornos Vortrag wesentlich zugänglicher ist als die sperrige Sprache seiner durchkomponierten Texte, sondern auch den, dass Adorno die Dialektik hier vom Problem aus entwickelt: Was sind die Fragen, aus denen sich dialektisches Denken, wie er sagt, als eine Notwendigkeit ergibt? Denn wenn die Fragen »diesen Ernst auch wirklich verdienen, dann muß in der Sache selbst ein Zwang liegen«, aus dem »der Übergang zu dialektischem Denken (…) stringent erfolge«. Grund­legend ist die Frage, wie der Widerspruch zwischen Besonderem und Allgemeinem zu begreifen oder gar zu überwinden ist, in den das Denken zwangsläufig zu verfallen scheint, wenn es sich zur Erkenntnis der Wirklichkeit bewegen möchte. Für Adorno ist daher »der Knoten zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen das logische Zentralproblem des dialektischen Ansatzes«.

In anderen Worten bedeutet das, dass man, wenn man etwa »Kapitalismus« sagt, um die Gesellschaft auf den Begriff zu bringen, die Wirklichkeit damit noch gar nicht begriffen hat. In jedem Begriff bleibt Adorno zufolge etwas auf der Strecke, das im Denken nicht aufgeht, ihm widerspricht. Adorno nennt es das Nicht­identische. Weil es aber keine Alternative zur begrifflichen Erkenntnis gibt, ist für Adorno Dialektik »nichts anderes, als durch Denken und Reflexion zu versuchen, das rückgängig zu machen (…), was das Denken, um überhaupt als Denken möglich zu sein, seiner Sache angetan hat«. Es muss also auch das auszudrücken versuchen, was in der Sache liegt, aber nicht als Ding, als Festes begriffen werden kann. Und was soll dieses Nichtidentische sein? Eine verborgene Essenz, doch wieder eine Art geheimes Wesen der Dinge? Nein, es ist deren Gewordensein, die gesellschaftliche Bestimmung, sprich ihre Vermittlung. Um genau das nachzuvollziehen, müsse Dialektik daher eine »Erkenntnis qua Prozess« sein.

Die Schwierigkeit solcher Erkenntnis erklärt Adorno etwa anhand von Kants Versuch einer Synthese von Empirismus und Rationalismus und anhand von Hegel, der den Widerspruch im System einer gesellschaftlichen Totalität aufhob. Das seien, so sagt Adorno, bessere oder schlechtere Lösungen des Problems auf der Höhe ihrer jeweiligen Zeit, die aber zugleich den Kardinalfehler des bestimmenden Denkens wiederholten: der Sache Herr werden zu wollen, indem man den Widerspruch letztlich eben doch im Denken aufzulösen versucht. Die zugrundeliegende Annahme, dass Sache und Denken identisch sein könnten, ist für Adorno der Schritt in den Idealismus.

Das Problem mit dem idealistischen Denken ist strenggenommen, dass es Ideologie bleibt. Es versteht nicht, dass die Trennung zwischen Besonderem und Allgemeinem ein ­realer gesellschaftlicher Widerspruch ist, der als solcher das Denken bestimmt. Er liegt in der Grundoperation des Denkens, der Abstraktion, mit der sich die Menschen die Natur unterworfen haben. In der kapitalis­tischen Herrschaft des abstrakt Allgemeinen hat er sich durch das universelle Tauschverhältnis totalisiert und betrifft nun potentiell alles.

Das ist Adornos Diagnose der total verwalteten Welt, der negativen Totalität, aus der die Konsequenz für negative Dialektik gezogen werden müsse: Alles ist gesellschaftlich ­vermittelt, also auch mit dem Widerspruch der Gesellschaft vermittelt. Diese reale Grundlage des Problems nicht zu reflektieren, ist der Fehler eines jeden Idealismus.

Adornos Dialektik ist somit am Materialismus geschult. Genau diese Auseinandersetzung mit Marx fehlt aber in den Vorlesungen, da die entsprechenden Sitzungen aufgrund von Tonbandproblemen nicht mit aufgezeichnet wurden. Das ist ärgerlich, schützt aber auch vor der Phantasie, nun endlich einmal alle Fragen beantwortet zu bekommen. Denn Adorno geht es nicht bloß darum, die Dialektik auszubuchstabieren und eine Lehre darzulegen.

So harsch er den Idealismus, die positivistischen Wissenschaften und die Feindschaft gegen das Denken im »herrschenden Geist der Zeit« angeht, so klar wendet er sich auch gegen die Vereinnahmung durch die falschen Freunde der Dialektik. Und das meint nicht nur, »was man aus der Dialektik im Ostbereich gemacht hat«, also die Zurückbildung zur Herrschaftsideologie im Dialektischen Materialismus. Dialektik lässt sich auch nicht wie eine Naturwissenschaft entfalten.

Aber das kann auch nicht bedeuten, dass sie wie eine Mystik zu behandeln wäre, die das Zauberwort des Widerspruchs oder der Vermittlung an die Stelle der Erkenntnis setzt. Damals wie heute wurde der Dialektik kritisch vorgehalten, sie sei selbst eine Mystifizierung, weil sie auf das Ungreifbare im Denken ziele, sophistisch sei oder gar irrational. In so mancher Theoriedebatte gilt der Verweis auf Dialektik tatsächlich als das letzte Wort, als erhabene Position, die sie, nimmt man Adorno ernst, auf keinen Fall sein kann. Mit der Dialektik fangen die Probleme erst an.

An mehreren Stellen warnt Adorno vor dem Missverständnis, man würde mit Dialektik »nun so eine Art von Kunst erlernen«, oder vor der Vorstellung, »wenn man nun also nur die Dialektik hat, dann hat man’s in der Tasche«. So verwendet Adorno in den Notizen zu einer der verschollenen Vorlesungen das erste Mal seine Formulierung, Dialektik sei nur die »Ontologie des falschen Zustands«. Das wirft die Frage auf, ob Dialektik nicht selbst etwas sei, das zu überwinden wäre. Gäbe es in der befreiten Gesellschaft noch die Notwendigkeit, in Widersprüchen zu denken? Und brauchte es dann nicht eigentlich eine radikale Kritik an jenem Denken selbst, das immer auch Gefahr läuft, überall in der Welt Widersprüche finden zu wollen?

Die Fragen der Dialektik bleiben noch immer offen. Sie sind mit der bloßen Affirmation von Dialektik nicht beantwortet, aber sie lassen sich auch nicht einfach übergehen. Wenn etwa der »immense geschichtsphilosophische und wahrheitstheoretische Ballast des Dialektikbegriffs« mittlerweile mit großer Erleichterung abgeworfen scheint, wie es der So­zialphilosoph Daniel Loick formulierte, zeugt das mehr von Verdrängung als von Emanzipation. Insofern ist Adornos Vorlesung eine Lektion darüber, welcher Anstrengung es bedarf, wenn man sich nicht mit dem Zustand einer Gesellschaft ­zufriedengibt, die sich selbst nicht versteht.

Theodor W. Adorno: Nachgelassene Schriften. Abteilung IV: Vorlesungen. Band 11: Fragen der Dialektik (1963/64). Herausgegeben von Christoph Ziermann. Suhrkamp, Berlin 2021, 515 Seiten, 58 Euro