Diskussion über komplexe Themen

Keine Zeit für Krieg

Klassenkampf Von

Ich brauche euch ja nicht zu sagen, welches Thema seit dem Donnerstag vergangener Woche alle Unterhaltungen in meiner Schule bestimmt hat. Ihr ahnt es bereits, vielleicht könnt ihr es auch schon gar nicht mehr hören, weil es wirklich allgegenwärtig ist seit voriger Woche. Mich persönlich hat ja der Tonfall in einigen Diskussionen erschreckt, wie schnell das geht, dass nicht mehr über die Sache diskutiert wird, sondern über persönliche Integrität, übers Bescheidwissen, darüber, wer der bessere Mensch sei. Aber gut: Dass die Emotionen jetzt hochkochen, liegt auf der Hand, es geht halt wirklich um was.

Zugleich ist das Thema auch schrecklich komplex, man muss auf jeden Fall sehr viele verschiedene ­Aspekte bedenken, bevor man wirklich entscheiden kann, ob es jetzt gut oder schlecht ist, dass Berlin die schriftlichen Prüfungen zum mittleren Schulabschluss in diesem Jahr nicht als separate Prüfungen wertet, sondern als vierte Klassenarbeit zu einem Achtel in die Endjahresnote einfließen lässt, womit der Wert dieser Prüfung natürlich enorm gesenkt wird. Einerseits die ganzen Belastungen, denen die Jugendlichen in den vergangenen zwei Jahren aus­gesetzt waren, der verpasste Schulunterricht, der Stress, den der Gedanke an die Prüfung bei ihnen ausgelöst hatte – aber andererseits auch die Tatsache, dass im kommenden Jahr dann natürlich noch mehr Leute in den Deutschkursen sitzen, für die es ganz unmöglich ist zu verstehen, was irgendein Schiller da in sein Drama hineingeschrieben hat. Weswegen sie einander mit Papierkügelchen bewerfen und Schweinkram in die Tische ritzen, die ja letztlich auch nichts dafür können.

Ach so, über den Krieg, den Russland seither gegen die Ukraine führt, wurde natürlich auch geredet. Soweit Zeit war, heißt das, also nur ein bisschen, beziehungsweise, ich selbst habe mit den Kindern eigentlich gar nicht darüber geredet, denn mit den einen musste ich ja diese Änderungen bei den Prüfungen besprechen, mit den anderen den Aufbau einer Gedichtanalyse durchgehen; wieder andere konnten sich einfach nicht auf ein von allen zu lesendes Buch einigen, weswegen es sehr laut wurde und wieder kein Raum war für die Ukraine. Aber irgendwann zwischendrin habe ich dann doch gehört, wie Merve Esra mitteilte, sie finde es absurd, dass jetzt erst Nord Stream 2 in Frage gestellt werde, wo doch Nord Stream 1 schon ein Problem gewesen sei, und wie Esra antwortete, sie fände die Nato ja schon wichtig, und wissen wollte, ob Nord Stream jetzt so was Ähnliches sei, und wie Merve ihr dann ganz in Ruhe alles erklärte. Natürlich konnten die beiden nicht gleichzeitig über Nord Stream 2 sprechen und die Gedichtanalyse üben, aber es war ja auch Freitag und ich dachte mir, dass wir damit dann ja am Montag weitermachen können: damit, mit den Prüfungen und allen anderen Sachen, die wirklich wichtig sind.