Claire Denis’ »Trouble Every Day« hat mit 20 Jahren Verspätung einen deutschen Kinostart

Verzehrende Liebe

»Trouble Every Day«, 2001 erschienen, soll in Deutschland nun erstmals im Kino gezeigt werden. Der schockierende Film der Regisseurin Claire Denis, in dem es um sexuelle Gewalt und Kannibalismus geht, könnte jetzt wohlwollender von der Kritik aufgenommen werden als vor 20 Jahren.

Ein anonymes Paar nachts auf der Rückbank eines Autos. Er beugt sich über sie und beginnt, sie zu küssen. Langsam wird der Kuss drängender, ungelenk tasten seine Finger über ihren Körper. Durchs Seitenfenster beobachtet die Kamera in einer nahen Einstellung die Begebenheit, kurz scheint es, als wolle sie lieber ins Dunkel weghuschen, doch dann hält sie weiter auf den intimen Moment. Dazu ertönt die melancholisch-minimalistische Musik der Tindersticks. Der Sänger erzählt vom alltäglichen Ärger, den man in den Augen der oder des anderen sieht und der nicht verstanden werden kann. Nach einer langen Schwarzblende folgen Aufnahmen der Seine im Pariser Sonnenaufgang.

Claire Denis’ skandalumwitterter Körperhorrorschocker »Trouble Every Day« von 2001 nähert sich seinen Themen und Motiven in diskontinuierlich kreisenden Bewegungen. Immer wieder richtet sich der Blick der Kamera auf Wolken am Himmel, auf Umgebungen und alltägliche Verrichtungen, immer wieder wird das Vergehen von Zeit beobachtet. Handlung ergibt sich weniger durch einen stringent verfolgten Plot, eher ist sie vom Publikum anhand von Seherfahrungen zu kon­struieren. Die Figuren – eine Frau, die ein verirrter nomadischer Vampir aus Kathryn Bigelows »Near Dark« von 1987 sein könnte, ein Trucker, dessen Körper bald blutig und tot auf einer Wiese liegt, ein solitärer schwarzer Motorradfahrer – stammen eher aus den Tiefen des Genrefilms, als dass sie ausformulierte Charaktere wären. In ihrer Sprachlosigkeit wirken sie wie zufällig in die suburbane und städtische Landschaft, in Hotels und Verkehrsmittel geworfen.

Als »Trouble Every Day« 2001 bei den Filmfestspielen in Cannes uraufgeführt wurde, fielen zwei Besucherinnen angesichts der tatsächlich äußerst unangenehmen Gewaltszenen in Ohnmacht.

Ein weiteres sich küssendes Paar wird ebenfalls durch den Blick aus der Kälte der Nacht in ein Fenster eingeführt: Shane (Vincent Gallo) und June Brown (Tricia Vessey) sind frisch getraut, nun fliegen sie nach Paris, wo sie ihre Flitterwochen verbringen werden. Dort macht sich Shane, der in der Forschung gearbeitet hat und dessen Mimik sich darauf beschränkt, unter seinem Serpico-Schnurrbart den Mund mal spöttisch, mal ostentativ anteilnehmend zu verziehen, auch auf die Suche nach seinem verschollenen Kollegen Léo (Alex Descas). Der ist nicht nur ein geschasster Wissenschaftler, sondern auch der einsame Motorradmann, der schon Erwähnung fand. Bei nicht näher erläuterten Experimenten im Dschungel eines französischen Überseegebiets hat er einst Menschen in Wesen verwandelt, deren Libido und Begehren sich jeglicher Kontrolle entziehen und die im wahrsten Sinn des Wortes verschlingend sind. Zu seinen Probanden gehörten seine Frau Coré (Béatrice Dalle) und Shane. Hinter der von unersättlichem Appetit getriebenen Coré muss Léo nun immer wieder aufräumen, was heißt, die beim Sex ihrem Fleischeshunger zum Opfer gefallenen Leichen verschwinden zu lassen und Coré, die nur wünscht, selbst zu sterben, damit das alles ein Ende hat, nach Hause zu bringen, zu waschen und einzusperren.

Shane gelingt es, die Folgen von Leos Experimenten mit Hilfe von Medikamenten zu kontrollieren, er fürchtet sich aber davor, dass eines Tages seine Geliebte June Opfer seiner Begierde und er zu ihrem Mörder werden könnte. Deshalb flieht er mitten im Liebesakt im Hotel ins Badezimmer, um dort allein zum Höhepunkt zu kommen. Anschließend irrt er durch die Straßen der Stadt, um etwa einen kleinen Hund anzuschaffen oder das Zimmermädchen zu stalken, zu vergewaltigen und im Blutrausch brutal zu ermorden.

Als »Trouble Every Day« 2001 bei den Filmfestspielen in Cannes außerhalb des Wettbewerbs uraufgeführt wurde, fielen zwei Besucherinnen angesichts der tatsächlich äußerst unangenehmen und schmerzhaft anzuschauenden kannibalischen Gewaltszenen in Ohnmacht, was neben verheerenden frühen ­Kritiken den schlechten Ruf des Films begründete. Zwei Jahre zuvor war Denis mit »Der Fremdenlegionär« (im Original »Beau Travail«) sowohl in Cannes als auch von der Presse gefeiert worden. Mit Reminiszenzen an Herman Melvilles Erzählung »Billy Budd« und Jean-Luc Godards Film »Der kleine Soldat« (1960) sowie der Gegenüberstellung von banalen ­militärischen Alltagsritualen, Tragik und Gewalt habe sie, so hieß es, neue Sphären der Inszenierung von Männlichkeit und Körperlichkeit ­erschlossen. Dabei sei sie im Gegensatz zu ihren Vorbildern nicht nur explizit postkolonialistisch vorgegangen, sondern habe mit dem weit­gehenden Verzicht auf Dialoge und Anleihen beim zeitgenössischen Tanztheater auch formal Neues geschaffen.

Nach so viel Lob konnte das Nachfolgewerk, das Kannibalismus und sexuelle Gewalt zum Thema hat, ohne sie zu erklären oder explizit zu verdammen, selbst von hartgesottenen Kritikern wie Peter Bradshaw vom Guardian kaum anders denn als albern, prätentiös, leer und lang­weilig verstanden werden. Da »Trouble Every Day« jenseits einiger Fes­tivals kaum zu sehen war und beispielsweise in Deutschland gar nicht erst in den Kinos lief, änderte sich an seinem Ruf lange Jahre kaum etwas. Ebenfalls nicht gut getan haben dürfte ihm das Image seines Hauptdarstellers Vincent Gallo, der in den folgenden Jahren vor allem durch seinen eigenen Skandalfilm »The Brown Bunny« von 2003 – den der US-Filmkritiker Roger Ebert als den schlechtesten Film in der Geschichte von Cannes bezeichnete –, haarsträubend rassistische Äußerungen und die ­Unterstützung Donald Trumps auf sich aufmerksam machte.

Es gibt also durchaus Gründe, eine Wiederaufführung von »Trouble Every Day« skeptisch zu betrachten. Andererseits hat der Körperhorror, der 2001 für das Publikum in dieser Form noch neu war und deren Erwartungen erschütterte (immerhin ist »Trouble Every Day« insgesamt eher dem Arthouse zuzurechnen als dem Horror, schon weil er für Fans des Gore- oder Slashergenres viel zu langsam, elegisch und eben nicht auf Effekte hin inszeniert ist), seitdem seinen festen Platz im Gegenwarts­kino gefunden, vor allem im neuen französischsprachigen Film. Nicht zuletzt als Reaktion auf den Aufstieg der extremen Rechten in Frankreich hat sich das Genre des New French Extreme etabliert, zu dem unter anderem das Frühwerk von Gaspar Noé, die Filme von Catherine Breillat, Bruno Dumont sowie Virginie Despentes’ und Coralie Trinh This »Baise-moi« zählen. Dieses Genre wendet sich einer neuen Körperangst zu, wobei die Werke der genannten Filmemacherinnen und Filmemacher sich in ihrer politischen Ausrichtung deutlich unterscheiden; während einige soziale Härten beobachten und ihre Filme als transgressiv-progressive Kommentare verstehen, fallen ­andere als affirmativ bis homophob auf. Insbesondere die Aufmerksamkeit, die im vergangenen Jahr Julia Ducournaus Bodyhorrortrip »Titane« erregt hat, dürfte maßgeblich zur Entscheidung des Verleihs beigetragen haben, »Trouble Every Day« nun einen Kinostart zu bescheren.

Interessanter als die sich wandelnden Moden und Sehgewohnheiten ist allerdings die Erzählweise von Denis’ Film; in ihr sind Ansätze enthalten, die weit über die beanstan­dete Langeweile und die Konzeptlosigkeit hinausgehen, die ihr oft vor­geworfen wurde. Ähnlich wie in ihrer Science-Fiction-Neuinterpretation »High Life« von 2019 bannt sie Blicke und Details wie Körperbehaarung in Bilder von ausgesuchter Schönheit. Motive und Handlungsstränge ro­tieren umeinander, ohne dass eine Synthese oder eine Katharsis erzwungen wird. Aus Körpern, Schmerz, Trauer und Fremdheit entstehen so Filme, die wie »High Life« aus konventionellen Erzählmodellen wie dem der Heldenreise ausbrechen. Keine Rettung ist in Sicht, auch nicht in »Trouble Every Day«.

Trouble Every Day (F/D/J 2001). Buch: Claire Denis und Jean-Pol Fargeau. Regie: Claire Denis. Darsteller: Vincent Gallo, ­Tricia Vessey, Béatrice Dalle, Alex Descas. Kinostart: 3. März