Ein Gespräch mit Iván Molina Jiménez über die Krise der Demokratie in Costa Rica

»Costa Ricas Reformweg erinnert an den Chiles unter Pinochet«

Vor den Wahlen in Costa Rica. Der Historiker und Science-Fiction-Autor Iván Molina Jiménez spricht über die beunruhigende politische Entwicklung Costa Ricas und die bevorstehende Stichwahl um die Präsidentschaft zwischen zwei wirtschaftsliberalen Kandidaten.
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Am Abend der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen vom 6. Fe­bruar sprachen fast alle costa-rica­nischen Medien und Politiker von einem »Fest der Demokratie«. Sie hingegen schrieben in einer Vorwahlanalyse von einer »Demokratie am Rande des Abgrunds«. Wie ­bewerten Sie Ihre Prognose heute?

Wir befinden uns in einer sehr komplizierten Situation. Costa Rica hat sehr solide demokratische Institutionen, die Wahlbetrug praktisch verunmöglichen. Aber das Parteiensystem steckt in einer tiefen Krise. Über Jahrzehnte hatte Costa Rica ein Zweiparteiensystem, in dem die sozialdemokratische Partei der Nationalen Befreiung (Partido Liberación Nacional, PLN) und die konservative Partei der Sozialchristlichen Einheit (Partido Unidad Social Cristiana, PUSC) sich an der Regierung abwechselten. Mit dem Niedergang dieses Systems in den nuller Jahren ist eine Vielzahl neuer Parteien aufgekommen. ­Jedoch sind viele dieser Parteien praktisch nichts anderes als Wahlvereine, deren einziger Zweck es ist, bestimmte Personen an die Macht zu bringen. Bei den Wahlen im Februar erreichte Costa Rica mit fast 30 zur Wahl stehenden Parteien die Grenze des Absurden (das Land hat nur gut 5,2 Millionen Einwohner und 3,5 Millionen Wahlberechtigte, Anm. d. Red.).

»Costa Rica ist eine sehr konservative Gesellschaft. In ihren Ursprüngen ist sie eine von Kleinbürgern und Kleinbauern.«

Auf der anderen Seite steht die wachsende Unzufriedenheit der Bevölkerung mit den Parteien. Grund dafür ist zum einen die grassierende Korruption in den Parteien, die bis zu Verbindungen zu Drogenkartellen reicht. Zum anderen produziert das costa-ricanische Wirtschaftsmodell keinen Wohlstand mehr für die breiten Massen.

Wie äußert die Bevölkerung ihre Unzufriedenheit?

Vor allem indem sie in immer größerer Zahl den Wahlen fernbleibt. Costa Rica hatte traditionell eine sehr hohe Wahlbeteiligung, doch bei der jüngsten Wahl lag sie bei 60 Prozent. Ich bin gespannt, wie gering die Wahlbeteiligung bei der Stichwahl um die Präsidentschaft am 3. April ausfallen wird. Sie dürfte noch geringer werden als in der ersten Runde.

In der Stichwahl werden der frühere Präsident José María Figueres von der PLN und Rodrigo Chaves von der Partei des Sozialdemokratischen Fortschritts (Partido Progreso Social Democrático, PSD) aufeinandertreffen. Internationale Medien charakterisieren beide Kandidaten in der Regel als »sozialdemokratisch« oder »zentristisch«.

Diese Beschreibungen sind das Produkt der ausufernden Phantasie internationaler Journalisten. Figueres wird als Sozialdemokrat bezeichnet, weil der PLN bis 1978 tatsächlich sozialdemokratisch war. Aber seit den achtziger Jahren verfolgt er wie viele sozialdemokratische Parteien eine Politik des freien Markts. Der PSD von Chaves ist weder sozialdemokratisch noch eine Partei, sondern schlicht der Name eines Wahlvereins.

Die Agenda beider Kandidaten unterscheidet sich im Kern nicht. Beide wollen die neoliberale Politik des amtierenden Präsidenten Carlos Alvarado nicht nur fortsetzen, sondern sogar verschärfen.

Bei den Wahlen hat die regierende progressive Partei Bürgerallianz (Partido Acción Ciudadana, PAC) Alvarados eine demütigende Wahl­niederlage erlitten und wird nicht mehr im Parlament vertreten sein. Was sind die Gründe dafür?

Der Hauptgrund ist die Amtszeit des Präsidenten selbst. Er war praktisch abwesend, die entscheidenden politischen Impulse gab das Kabinett. In ökonomischen Fragen waren dies Kreise des PUSC, der als kleiner Partner mit dem PAC koalierte. Der PUSC verficht einen strengen Neoliberalismus.

2018 (einige Monate nach Alvarados Amtsantritt, Anm. d. Red.) gab es eine als progressiv beworbene Steuerreform, die vor allem Menschen mit niedrigen und mittleren Einkommen trifft, höhere Einkommen jedoch praktisch ausspart. Dagegen gab es Massenproteste und einen Generalstreik der Gewerkschaften des öffentlichen Diensts. Als Reaktion verabschiedete die Regierung ein gewerkschaftsfeindliches Gesetz, das mich an Gesetze während der Diktatur Augusto Pinochets in Chile erinnert. Es erleichtert die Auflösung von Gewerkschaften, das Verbot von Streiks und die Kriminalisierung von Sozialprotesten. Schließlich wurden zu Beginn der Covid-19-Pandemie der Kündigungsschutz und Regulierungen der Höchstarbeitszeit gelockert.

Sie haben die Amtszeit Alvarados als »neoliberale Konterrevolution« bezeichnet, jedoch bereits die Vorgängerregierungen als neoliberal kritisiert. Worin bestand die Konterrevolution der Regierung Alva­rados?

Seine Regierung hat den institutionellen Rahmen Costa Ricas radikal und ­repressiv umgebaut, ohne Rücksicht auf bestehende und etablierte Verhältnisse. Costa Rica ist ein Land ohne Armee. Es hat sich ein politischer Modus etabliert, Konsens durch Verhandlungen zu erzeugen. So konnten Massenproteste, starke Gewerkschaften im öffentlichen Sektor und auch eine gewisse Rechtsprechung des Verfassungsgerichts seit den achtziger Jahren tiefgreifende neoliberale Reformen verhindern. Deshalb hat der Staat in Costa Rica bis heute eine monopolistische oder zumindest dominante Rolle in einigen hochrentablen Sektoren: zum Beispiel im Finanzsektor, in der Strom- und Wasserversorgung oder im Gesundheits- und Versicherungswesen.

Und das hat sich unter Alvarado ­geändert?

Seine Regierung war die erste, die bereit war, die neoliberalen Reformen zu radikalisieren, ohne sich um mögliche politische Kosten und den bestehenden politischen Konsens im Land zu scheren. Die Regierung verließ die typisch costa-ricanische Linie der Verhandlungen und verfolgte einen immer repressiveren Kurs. Als Reaktion auf die stärkere Repression sind auch die Proteste immer gewalttätiger geworden. 2020 fragte die konservative Zeitung La Nación: »Wie kann es sein, dass Costa-Ricaner Molotowcocktails herstellen?« Nun, wenn die Türen für Verhandlungen geschlossen werden, dann fangen die Leute an, Molotowcocktails zu bauen.

Die linke Partei Frente Amplio konnte ihre Mandate von einem auf sechs von insgesamt 57 Sitzen im Einkammerparlament erhöhen. Doch im Vergleich zu anderen Ländern in Lateinamerika scheint es, als sei die costa-ricanische Linke nicht in der Lage, die große soziale Unzufriedenheit aufzunehmen. ­Woran liegt das?

Costa Rica ist eine sehr konservative Gesellschaft. In ihren Ursprüngen ist sie eine von Kleinbürgern und Kleinbauern. Obwohl heute eine große Mehrheit der Bevölkerung lohnabhängig ­beschäftigt ist, ist diese Kleinbürgermentalität noch sehr präsent. Gleich­zeitig hat es in Costa Rica einen reform­orientierten Antikommunismus gegeben. Die »Eliten« bekämpften die Kommunisten nicht mit offener Gewalt oder durch Verbote, sondern politisch. Forderten die Kommunisten höhere Löhne, dann forderten dies auch die dominierenden Parteien und verwirklichten es sogar.

Das hat es der Linken und ihren Programmen in Costa Rica immer schwer gemacht. Ein weiterer Faktor ist, dass sich mit dem Zusammenbruch der ­Sowjetunion die linken Parteien transformierten und dabei eines ihrer wichtigsten Elemente verloren: die Verbindung zur Arbeiterklasse. Seitdem sind die linken Parteien, auch der Frente Amplio, im Kern Parteien von Intellektu­ellen, mit einer starken Verankerung an den Universitäten und einer gewisse Basis im öffentlichen Sektor, aber praktisch ohne Beteiligung der Arbeiterklasse.

Erklärt das auch, warum bei den Wahlen die ärmsten Gegenden Hochburgen der Konservativen und Erzkonservativen geworden sind und nicht der Linken?

Das hat viel mit kultureller Distanz zu tun. Man darf nicht vergessen, wie groß der Einfluss der katholischen Kirche und der immer stärker werdenden evangelikalen Gruppen auf die Ärmeren ist. Die Werte dieser Menschen sind kaum vereinbar mit den in den vergangenen Jahren innerhalb der Linken sehr dominant geworden Diskursen von Geschlechtergleichheit und ­Diversität. Es gibt noch keine abschließenden Studien dazu, aber erste Forschungen legen nahe, dass bestimmte ärmere Milieus, die früher der Linken nahestanden, fast vollständig von den Evangelikalen gewonnen wurden.

Am 29. Januar verkündete Präsident Alvarado, Costa Rica habe 2021 das höchste Wirtschaftswachstum und das geringste Haushaltsdefizit seit 2008 verzeichnet. Er kommentierte, dass er »das Haus geordnet« hin­terlasse.

Das Vergleichsjahr dieser Zahlen ist 2020, also das Jahr, in dem die Covid-19-Rezession Costa Rica heftig traf. Im Vergleich dazu ist es nicht schwer, positive Entwicklungen aufzuweisen. In Costa Rica lag 2019 das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf bei 12 000 US-Dollar und die Arbeitslosenquote bei elf Prozent, während der Gini-Koeffizient einer der schlechtesten der Welt war. Das bedeutet, dass die Wirtschaft nur begrenzt produktiv ist, zu wenig Arbeitsplätze schafft und ihren Wohlstand ­extrem ungleich verteilt (Letzteres wird mit dem Gini-Koeffizienten gemessen; Anm. d. Red.). Alvarado brüstet sich also mit einer Wirtschaftsentwicklung, die man als oligarchenfreundlich bezeichnen kann. Er spricht von einem geschrumpften Haushaltsdefizit, erwähnt aber nicht, dass die öffentlichen In­vestitionen reduziert wurden, beispielsweise die in Bildung um zehn Prozent. Außerdem hat die costa-ricanische Währung, der Colón, im Verhältnis zum US-Dollar enorm an Wert verloren. Es hat also eine allgemeine Wertminderung der Gehälter und somit schrumpfende Einkommen gegeben.

Könnte man mit Blick auf die Wahlergebnisse sagen, dass sich die Wahlberechtigten für Kandidaten entschieden haben, die den von ­Ihnen diagnostizierten »Abgrund« vergrößern werden?

Ganz eindeutig. Die kommende Regierung, egal ob unter Chaves oder Figueres, wird die Politik Alvarados fortführen. Sie wird autoritärer und weniger dialogorientiert regieren und weiter versuchen, Arbeiterrechte auszuhöhlen und die Wohlhabenden auf Kosten der Lohnabhängigen zu entlasten. Das ­Resultat wird ein noch gewalttätigeres Land mit noch schärferen sozialen ­Gegensätzen sein.

Deshalb bin ich nicht sonderlich ­optimistisch, was die unmittelbare Zukunft Costa Ricas betrifft. Costa Ricas Reformweg erinnert an den Chiles unter Pinochet. Die Transformationen, die das Land derzeit erlebt, nähern es an die schlimmsten Beispiele an, die Lateinamerika gesehen hat.

 

Iván Molina Jiménez

Iván Molina Jiménez ist ein Historiker und Autor von Science-Fiction-Kurzgeschichten aus Costa Rica. Zurzeit bekleidet er eine Professur an der Fakultät für Geschichtswissenschaften der Universidad de Costa Rica und forscht am Centro de Investigación en Identidad y Cultura Latinoamericanas.