Proteste in Georgien ­gegen Russlands Angriff auf die Ukraine

Die Sorge, der Nächste zu sein

Viele Georgierinnen und Georgier solidarisieren sich mit dem ukrainischen Widerstand, doch die Regierung schweigt und lehnt Sanktionen gegen Russland ab.

In den bergigen Straßen und Gassen der georgischen Hauptstadt Tiflis gibt es kaum einen Fleck, der nicht in den ukrainischen Farben geschmückt ist. Blaugelbe Fahnen, Schilder und Aufkleber zieren Balkone, Clubs, Restaurants, Bars, Supermärkte, Denkmäler, Bankautomaten und sogar Autobahnen. Oft weht die georgische neben der ukrainischen Fahne, mancherorts sind auch die Flaggen der Europäischen Union oder der Nato zu sehen. Im Radio ertönen die ukrainische Nationalhymne und generell ukrainische Musik, an den Schulen soll nun für die aus der Ukraine geflüchteten Kinder Unterricht auf Ukrainisch eingeführt werden.

Viele Georgierinnen und Georgier sind solidarisch mit der Ukraine, doch es ist auch die Sorge über die Bedrohung ihres eigenen Landes, die sie umtreibt. 20 Prozent des georgischen Staatsgebiets sind seit dem Kaukasus-Krieg 2008 von Russland besetzt, die Erinnerungen an diesen und auch an den Georgisch-Abchasischen Krieg 1992/1993 werden durch die schrecklichen Bilder aus der Ukraine lebendiger denn je. Viele Georgier befürchten, dass sie ein ähnliches Schicksal ereilen könnte.

Es gibt auch Unterstützung für die zurückhaltende Politik der georgischen Regierung, da man jegliche Handlung, die Putin irgendwie provozieren könnte, vermeiden möchte.

Historisch weisen Georgien und die Ukraine viele Parallelen auf: Beide Staaten waren Republiken der Sowjetunion, orientieren sich politisch nach Westen und haben einen geopolitisch wichtigen Zugang zum Schwarzen Meer. Vor allem aber ist Russland in den bereits besetzten Gebieten Südossetien und Abchasien in Georgien militärisch präsent. Russland könnte diese den ostukrainischen »Volksrepubliken« vergleichbaren Gebiete offiziell annektieren und sie als Aufmarschgebiet für eine weitere territoriale Expansion nutzen.

Deshalb werden auf den zahlreichen georgischen Demonstrationen seit Kriegsbeginn neben Solidaritätsbekundungen mit der Ukraine Forderungen nach einem EU- und Nato-Beitritt laut. Nicht wenige Georgier wollen demokratische Werte gegen das autoritäre Regime des russischen Präsidenten Wladimir Putin verteidigen. Bereits seit 2014 kämpft ein von einem ehemaligen georgischen Offizier geführtes und etwa zur Hälfte aus Georgiern bestehendes Bataillon auf ukrainischer Seite, weitere Georgier haben sich nun dem Freiwilligenverband Internationale Legion in der Ukraine angeschlossen.

Etliche Georgierinnen und Georgier fordern, die Handelsbeziehungen mit Russland zu kappen und russische Waren zu boykottieren. Die Regierung zögert jedoch, sich offen solidarisch mit der Ukraine zu zeigen, hüllt sich in Schweigen und hat sich den Sanktionen gegen Russland nicht angeschlossen. Täglich wird harsche Kritik an dieser Zurückhaltung geübt, die es Russland erleichtern könnte, Georgien noch stärker unter Druck zu setzen.

Es gibt jedoch auch Unterstützung für die zurückhaltende Politik der Regierung, da man jegliche Handlung, die Putin irgendwie provozieren könnte, vermeiden möchte, auch weil russische Truppen unweit der Hauptstadt stationiert sind. Bloß kein erneuter Krieg! Außerdem hat Georgien Weizen bislang überwiegend aus Russland importiert, auch bei Milchprodukten ist das Land von russischen Lieferungen abhängig. Aus Angst vor einem Einfuhrstopp kommt es bereits zu Hamsterkäufen. Auch auf russische Energieprodukte ist Georgien angewiesen. Da die Preise für diese erheblich angestiegen sind, können sich viele Georgier das Heizen oder Autofahren immer weniger leisten.

Ungeachtet der Konflikte gibt es viele persönliche Kontakte. Seit Jahrzehnten werden russische Touristen willkommen geheißen, viele Einheimische sprechen Russisch. Derzeit dient Georgien neben Ukrainern und Belarussen vor allem vielen Russen als Zufluchtsort. Über 30 000 überquerten die Grenze nach Georgien, seit die Invasion der Ukraine begann. Viele zogen von dort weiter, etwa nach Armenien oder in die Türkei, aber mindestens 12 000 blieben, vor allem in Tiflis. Die meisten von ihnen kann man wohl als Regimegegner ansehen, die vor der Diktatur und politischer Repression flohen und nun versuchen, ihre politische oder journalistische Arbeit jenseits der Grenze fortzuführen und zum Beispiel humanitäre Hilfe für die Ukraine zu organisieren. Es gibt jedoch Vermutungen, dass einige Russen auch vor den Auswirkungen der westlichen Sanktionen nach Georgien fliehen.

Seit Kriegsbeginn hat sich die Haltung gewandelt, Russen und Russinnen werden mancherorts argwöhnisch beäugt, sie werden dazu aufgefordert, sich zum Krieg zu positionieren und Russland klar als Aggressor zu benennen – zum Beispiel wenn sie ein Bankkonto ­eröffnen wollen. Manche Vermieter weigern sich, Wohnungen an Menschen mit russischem Pass zu vermieten. Wer eine Wohnung mieten will, muss nun fast das Doppelte zahlen wie vor Kriegsbeginn, was jedoch vor allem Georgier trifft.

Hin und wieder wird Russen und Russinnen in Tiflis der Zutritt zu hippen Bars und Clubs verwehrt. Auch sind antirussische Graffiti oder Sticker im Straßenbild zu sehen: »Fuck Russia«, »Russian occupier pigs«, »Russians go home, you’re not welcome here« oder »You’ve all run away — who’s going to save your country?« Meist ist die Haltung jedoch differenzierter: Unterstützer Putins seien nicht willkommen, für alle seine Gegner stünden die Türen offen. Deshalb tragen viele Russinnen und Russen sichtbar die ukrainische Flagge als Anstecker.