Nach der ersten Runde der französischen Präsidentschaftswahl fordert Marine Le Pen Emmanuel Macron heraus

Antifaschismus war gestern

In der Stichwahl zur französischen Präsidentschaft tritt Marine Le Pen gegen Amtsinhaber Emmanuel Macron an. Erstmals hat eine Kandidatin der extremen Rechten reelle Siegeschancen.

Mit Bettelbriefen müssen nun Anhänger gleich mehrerer französischer Parteien rechnen. Acht von zwölf Kandidatinnen und Kandidaten im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahl vom Sonntag werden nicht in den Genuss der Erstattung ihrer Wahlkampfkosten kommen, abgesehen von einer relativ geringen Pauschalzahlung. Für die Erstattung wäre es erforderlich gewesen, mindestens fünf Prozent der Stimmen zu erreichen. Kommt es für einige von ihnen wenig überraschend, dass sie diese Hürde nicht nehmen konnten, trifft es andere unerwartet.

Besonders hart erwischt hat es die konservative Bewerberin Valérie Pécresse. Sie konnte zwar in den letzten Wochen vor dem Wahltag nicht mehr mit einem Wahlsieg rechnen, obwohl sie nach ihrer Ernennung zur Kandi­datin der Partei Les Républicains (LR) im Dezember vorigen Jahres in ersten Umfragen kurzzeitig sogar als mögliche Gewinnerin im zweiten Wahlgang, der Stichwahl, gehandelt worden war. Doch ihre Chancen schrumpften: Bald bekundeten nur noch rund zehn Prozent die Absicht, sie zu wählen, und am Wahlabend entfielen genau 4,78 Prozent der abgegebenen Stimmen auf Pécresse. Am Montag wandte sie sich mit einem Appell an die konservative Wählerschaft. Mit zwölf Millionen Euro ist ihre Partei nun verschuldet, Pécresse persönlich mit fünf Millionen – Spenden sind da sehr willkommen.

Die finanzielle Notlage der Partei ist nur ein Ausdruck der Krise, in der die französischen Konservativen tiefer denn je stecken, unter Druck gesetzt vom Wirtschaftsliberalen Emmanuel Ma­cron und den beiden Rechtsextremen Marine Le Pen und Éric Zemmour. Dabei nutzte die Kandidatur Zemmours, der mit 7,07 Prozent ein aus Sicht seiner Anhänger recht enttäuschendes Ergebnis erzielte, letztlich vor allem Marine Le Pen, auch wenn es im vergangenen Herbst zunächst anders ausge­sehen hatte. Damals erschien es so, als finde ein Durchbruch des früheren Journalisten Zemmour statt, der die Vorsitzende des Rassemblement National (RN, früher Front National) politisch marginalisieren werde.

Von den Protestwählern, die für den Linkspopulisten Mélenchon gestimmt hatten, betrachten viele den Amtsinhaber Emmanuel Macron als größeres Übel als die Sozialdemagogin Marine Le Pen.


Zemmours strategische Stärke schien darin zu bestehen, dass er sowohl für Konservative als auch Rechtsextreme wählbar erschien. Anfänglich zog er auch eine Reihe ehemals führender Konservativer zu sich herüber wie den früheren stellvertretenden LR-Vorsitzenden Guillaume Peltier. Doch Zemmour hielt mit unverhohlen rechtsextremen Positionen so wenig hinter dem Berg, dass der Haupteffekt seiner Kandidatur darin bestand, Marine Le Pen immer moderater, immer menschlicher, ja beinahe unideologisch erscheinen zu ­lassen.

Ein Teil der etablierten Medien trug dazu bei. Nachdem Marine Le Pen vor gut zwei Jahren einmal geäußert hatte, falls sie sich eines Tages aus der aktiven Politik zurückzöge, würde sie gerne Katzenzüchterin, widmeten mehrere Organe der Regenbogenpresse ihr und ihren Katzen eigene Reportagen. In ihrer öffentlichen Darstellung widmete sich Le Pen mehr Tierschutzanliegen als dem Kernstück ihrer Programmatik, der priorité nationale: der systematischen Benachteiligung von Nichtstaatsangehörigen bei Arbeitsplätzen und Sozialleistungen.

Le Pen konnte sich mit 23,15 Prozent der abgegebenen Stimmen für die Stichwahl qualifizieren, wie bereits 2017 tritt sie gegen Emmanuel Macron an, der 27,84 Prozent der Stimmen erhielt. Die rechtsextreme Kandidatin hatte im Laufe des Wahlkampfs bemerkenswert flexibel gezeigt. So erklärte sie im Februar plötzlich, nunmehr auf die Forderung nach Verbot und Abschaffung der Doppelstaatsbürgerschaft zu verzichten – weil es bereits so viele Doppelstaatsangehörige gebe, aber auch, weil manche Herkunftsländer nicht zuließen, ihre Staatsbürgerschaft abzulegen, und dies deren Inhaber zu benachteiligen drohe.

An diesem Punkt zog der ansonsten eher starre Zemmour allerdings nach, bediente sich aber einer anderen Begründung. Er erklärte, falls eine Doppelstaatsangehörigkeit bestehe, könne er Straftätern und integrationsunwilligen Muslimen künftig leichter den französischen Ausweis entziehen – was rechtlich unzulässig ist, falls eine solche Entscheidung die betreffende Person staatenlos werden lässt – und sie ausweisen.

Marine Le Pens Partei wiederum schaffte es, seit September 2021 die »Kaufkraft« als ihr wichtigstes Thema erscheinen zu lassen, was für die extreme Rechte ein Novum darstellt. Denn bislang dominierten die Themen »Immigration« und »Sicherheit« die Selbstdarstellung der Partei, dies entsprach den in Umfragen erklärten Interessen ihrer Wählerschaft. Erstmals rangierte auch bei dieser das Thema Kaufkraft nun an erster Stelle. Zemmours Misserfolg ist wohl auch darauf zurückzuführen, dass er darauf nicht adäquat reagierte.

Auch dem grünen Kandidaten Yannick Jadot, der 4,63 Prozent er Stimmen erhielt, entgeht die Erstattung seiner Wahlkampfkosten. Das kam unerwartet, doch fiel seine Wahlkampagne wohl allzu farblos aus, zudem konnte er das eigene Milieu nicht für sich gewinnen. Selbst prominente feminis­tische grüne Politikerinnen wie Sandrine Rousseau und Alice Coffin warben nicht für ihn, sondern für den Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon.

Jean-Luc Mélenchon war mit 21,95 Prozent der Stimmen – weit mehr als bei seinen vorherigen Kandidaturen – der mit Abstand erfolgreichste Kandidat der Linken. Sein Stimmergebnis drückte die Grünen, aber auch die Sozialdemokratie – ihre Bewerberin Anne Hidalgo fuhr mit 1,74 Prozent ein negatives Rekordergebnis ein –, die französische KP und die beiden trotzkistischen Kandidaturen erheblich nach unten, ja an den Rand. Mélenchon kam in zahlreichen Großstädten wie Rouen, Amiens, Nantes, Toulouse und Montpellier sowie bei den Jungwählerinnen und -wählern der Altersgruppe bis 24 Jahre auf den ersten Platz. Bislang war eher Macron bei der jungen Wählerschaft populär, aus Altersgründen und weil Studierende oft noch nicht sehr stark mit sozialen Fragen konfrontiert sind. Dieses Mal jedoch war die Gruppe, in der Macron am besten abschnitt, die der wohlhabenden Rentner.

Ein Großteil der Stimmen für Mélenchon wurde wohl aus taktischen Gründen abgegeben. Der Gewerkschafter Jean-Jacques fasst sein Kalkül gegenüber der Jungle World zusammen: »Das war auf keinen Fall ein Blankoscheck für ihn. Mir ging es darum, dass Mélenchon als bestplatzierter Linker statt Le Pen in die Stichwahl gegen Macron einzieht. Auch falls er verliert, würde es doch das gesellschaftliche Klima verändern: Dann würde über ­soziale Bedürfnisse statt über Sparpolitik bei Macron und über nationale Identität bei Le Pen diskutiert.«

Dazu kam es nicht. Anderthalb Prozentpunkte fehlten dem Linksnationalisten Mélenchon, um in die Stichwahl einzuziehen. Es gibt keine klare Tendenz, wie sich seine Wähler im zweiten Wahlgang entscheiden werden. Einer ersten Befragung durch das Meinungsforschungsinstitut Elabe zufolge wollten zu Wochenanfang 35 Prozent derjenigen, die in der ersten Runde für ihn stimmten, im zweiten Durchgang für Macron votieren, 34 Prozent für Le Pen und 31 Prozent ungültig oder gar nicht.
Dabei dürfte es sich um sehr unterschiedliche Wählergruppen handeln – ein antifaschistischer Konsens, Rechtsextreme auch durch die Wahl eines wirtschaftsliberalen, aber demokratischen Kandidaten von der Macht fernzuhalten, besteht nicht mehr. Von den Protestwählern, die für den Linkspopulisten Mélenchon gestimmt hatten, betrachten viele den Amtsinhaber Emmanuel Macron als größeres Übel als die Sozialdemagogin Marine Le Pen.

Erstmals hat eine Kandidatin mit einem Profil wie Marine Le Pen reele Siegeschancen. Valérie Pécresse gab keine Stimmempfehlung für die Stichwahl ab – die Konservative verlautbarte nur, selbst für Macron zu stimmen. Bei LR-Wählern tendieren 44 Prozent zu Macron und 40 Prozent zu Le Pen. Mélenchon gab den Slogan »Keine Stimme für Le Pen« aus, lässt jedoch bislang ­offen, wie er zu den Optionen Enthaltung und Abgabe einer ungültigen Stimme steht. Erste Umfragen sehen Le Pen in der Stichwahl bei 48 Prozent der gültigen Stimmen – ein sehr knapper Vorsprung für Macron.