Im Süden und Osten der Ukraine hat eine neue russische Offensive begonnen

Heldenpathos und Plünderung

In der russischen Kriegsführung zeigen sich gesellschaftliche Phänomene des Landes unter Extrembedingungen. Die Militär­operationen ­konzentrieren sich nun auf den Osten und Süden der Ukraine.

Der Untergang des Raketenkreuzers »Moskwa« in der vergangenen Woche war beileibe nicht das erste Anzeichen für Misserfolge der russischen Streitkräfte bei ihrem Angriffskrieg in der Ukraine. Immerhin war die »Moskwa« das Flaggschiff der russischen Schwarzmeerflotte und besaß hohen Symbolwert. Die Tageszeitung New York Times hatte zudem berichtet, der gesunkene Kreuzer habe als wichtige Abschussrampe von Raketen auf die ukrainische Hafenstadt Odessa gedient. Unter welchen Umständen das Schiff sank, ist nicht eindeutig geklärt.

In der Nacht auf den 14. April soll die ukrainische Marine zwei Neptun-Marschflugkörper aus eigener Produktion auf die »Moskwa« abgefeuert ­haben. Die US-Regierung bestätigt diese Version, während das russische Verteidigungsministerium von einem Brand und einer anschließenden Explosion an Bord gelagerter Munition spricht. Ein Versuch, den Kreuzer bei stürmischer See in den Hafen zu schleppen, sei gescheitert.

Ebenfalls ungeklärt ist, ob, und wenn ja, wie viele Angehörige der Besatzung ums Leben gekommen sind. Die Armeeführung hält sich bedeckt. Auf einem in Sewastopol aufgenommenen offiziellen Video, das den von ukrainischen Medien bereits als verstorben gemeldeten Kommandeur des Raketenkreuzers mit der Mannschaft zeigt, ist deren Anzahl nicht zu erkennen. Mehr noch – zu Beginn ist der Ton abgeschaltet. Überdies lässt sich die Aufnahme nicht klar datieren. Nur einige russische Familienangehörige meldeten sich bislang zu Wort. So teilte der Vater eines der über 500 Besatzungsmitglieder auf seinem Account im sozialen Medium Vkontakte mit, sein Sohn sei als vermisst gemeldet.

Die Entschädigung für den Tod eines russischen Soldaten im Kampf bringt dessen nahen Familien­angehörigen weitaus mehr Geld ein als jede ihnen zugängliche Form der Lohnarbeit.

Russlands Streitkräfte bombardierten am Wochenende erneut mehrere Ziele in Kiew, darunter eine Produktionsstätte für Teile von Neptun-Raketen. Auch die im Westen gelegene Stadt Lwiw, wo sich viele ukrainische Geflüchtete aufhalten, stand unter Beschuss. Am Montag teilten die dortigen Behörden mit, mindestens sieben Menschen seien bei den Angriffen gestorben. Über die russische Gewaltexzesse im Kiewer Vorort Butscha dringen derweil immer weitere Details an die Öffentlichkeit.

Bürgermeister Anatolij Fedoruk schätzt nach bisherigen Erkenntnissen, dass etwa ein Fünftel aller zurückgebliebenen Bewohnerinnen und Bewohner ermordet worden seien. Überlebende Frauen berichteten von grausamen Vergewaltigungen.
Über Kleinanzeigen im Internet wird derweil ukrainisches Plünderungsgut in Russland verhökert. Selbst Telefonnummern aus dem Moskauer Umland finden sich unter den Kontaktangaben. In der russischen Kriegsführung zeigen sich in verdichteter Form eine Reihe von Phänomenen, die in der russischen Gesellschaft milieuübergreifend verbreitet sind. Während hochrangige Armeeangehörige aus dem Einsatz eigener privater Söldnertruppen Profit schlagen, die sich dem Armeekodex leicht entziehen können und sich kraft ihrer in anderen Konflikten erworbenen Erfahrung zur Ausführung besonderer Befehle eignen, bedienen sich die gewöhnlichen Truppen der Mittel, die ihnen zur Verfügung stehen, um sich zu bereichern.

In gewisser Weise ist der Krieg die Fortsetzung des Alltags unter Extrembedingungen. Der überwiegende Teil der einfachen Soldaten ist in entlegenen Regionen Russlands aufgewachsen, wo man vom Moskauer Glanz nur träumen kann; viele kommen beispielsweise aus Burjatien oder der Nordkaukasusrepublik Dagestan. Vor dem Hintergrund von Armut, Arbeits- und Per­spektivlosigkeit nimmt sich der Wehrdienst oder ein Vertrag als Zeitsoldat als akzeptable Aussicht auf finanzielle Absicherung aus. Die Entschädigung für den Tod eines Soldaten im Kampf bringt dessen nahen Familienangehörigen weitaus mehr Geld ein als jede ihnen zugängliche Form der Lohnarbeit.

Nicht vergessen werden dürfen auch das eklatante Ausmaß an Gewalt gegen Frauen in Russland und die generell von Gewalterfahrung geprägte Realität vieler Menschen, die allgegenwärtige Korruption, das falsches Heldenpathos und ein Verständnis von Patriotismus, das dem Individuum kaum Freiräume lässt. Der Staat fordert von seinen Bürgerinnen und Bürgern weitaus mehr, als diese im Gegenzug erhalten. Butscha, ein von relativem Wohlstand zeugender Ort mit einer gut entwickelten Infrastruktur, steht in scharfem Kontrast zu den deprimierenden Lebenserfahrungen der russischen Besatzer. Es wäre auch für die zukünftige innere Entwicklung der russischen Gesellschaft eine absolute Notwendigkeit, die in Butscha verübten Verbrechen aufzuarbeiten. Unter der Führung von Präsident Wladimir Putin ist das keinesfalls zu erwarten. Die Regierung setzt schon aus Prinzip andere Prioritäten.

Schon bald, am 9. Mai, stehen in Russland die alljährlichen Feierlichkeiten zur Erinnerung an den Sieg über Nazideutschland an. Bis dahin sollen die russischen Streitkräfte Erfolge liefern oder zumindest Meldungen, die sich als solche interpretieren lassen. Da Putin den Angriff auf die Ukraine permanent als eine Spezialoperation zur Verteidigung ausgibt, reduziert er im Augenblick den Druck und die Notwendigkeit, die vielen Misserfolge erklären zu müssen. Die Armee konzentriert sich nun vorrangig auf die Ausweitung der Territorien der sogenannten Volksrepubliken im Donbass. Beobachter erwarten für die kommenden Wochen eine erneute Eskalation der Kämpfe, vom Süden her sind russische Truppen bereits zu neuen Angriffen übergegangen. Nach ukrainischen Angaben begann am Montag eine Groß­offensive im Osten, indirekt bestätigte der russische Außenminister Sergej Lawrow dies mit der Aussage, es habe eine »neue Phase« der Militäroperation begonnen.

Ob die Armeeführung Konsequenzen aus den bisherigen Fehlern ge­zogen und für eine bessere Logistik gesorgt hat, wird sich zeigen. Da sich jedoch systemimmanente Defizite im hierarchiefixierten Apparat wohl in so kurzer Zeit kaum beheben lassen, dürfte sich Russland einzig aufgrund der zahlenmäßigen Überlegenheit Chancen auf Teilerfolge ausrechnen können.
Der russische Oligarch Roman Abramowitsch, der als Mittelsmann die Gespräche über einen Waffenstillstand begleitet, wurde derweil erneut in Kiew gesichtet; man vermutet, dass er dort sondiert, wie die ins Stocken geratenen Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine wieder in Gang gebracht werden können. Sowohl der Aggressor als auch die Angegriffenen wollen ihre jeweilige Verhandlungsposition durch militärische Erfolge verbessern.

Zwar hält sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj mit seiner Kritik an mangelnder Hilfsbereitschaft der westlichen Staaten nicht zurück, andererseits erhält die Ukraine von dort umfangreiche Waffenlieferungen. Aufgrund der Art, wie Russland den Kampf um die zerbombte Hafenstadt Mariupol führt, schwindet die Kompromissbereitschaft der ukrainischen Regierung. Selenskyj erklärte in aller Deutlichkeit, dass die Tötung der in dem riesigen Asow-Stahlwerk in der Stadt ohne Nahrungsvorräte und Wasser eingeschlossenen ukrainischen Soldaten durch die russische Armee jeglicher Gesprächsbereitschaft der Ukraine ein Ende setzen werde.

Parallel zum militärischen Vorgehen arbeitet Russland daran, der Ukraine als souveränem Staat maximalen Schaden zuzufügen. Die Regionen um Saporischschja und Cherson sollen nach dem Vorbild der Volksrepubliken in Donezk und Luhansk der Ukraine entrissen und zu Vasallenrepubliken um­gebildet werden. Auch dürfte die russische Regierung über andere Formen der Einflussnahme nachdenken, selbst wenn irgendwann eine Einigung über die Beendigung offener Kampfhandlungen erzielt wird. Durch Provokation und Drohung könnte Russland längerfristig das Risiko für Investitionen in den Wiederaufbau der ukrainischen Infrastruktur derart in die Höhe treiben, dass selbst bei Bereitstellung entsprechender Finanzmittel über viele Jahre nicht an eine Normalisierung des Lebens zu denken sein könnte.