Die ukrainische Regierung kann ­verschiedene Kriegsziele verfolgen

Strategischer Misserfolg

Die US-Regierung signalisiert die Bereitschaft, Gegen­offensiven der Ukraine zu unterstützen, auch wenn Russland auf Basis seiner bisherigen Eroberungen ein Ende der Kampfhandlungen anbieten sollte.
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Der Staatsbesuch ist, wie zahlreiche internationale Videokonferenzen während der vergangenen zwei Jahre belegten, eigentlich längst überflüssig geworden, was Verhandlungen oder den Austausch von Informationen betrifft. Doch die persönliche Zusammenkunft soll auch immer Botschaften vermitteln, die vornehmlich in der Bildinszenierung deutlich werden.

Außenminister Antony Blinken und Verteidigungsminister Lloyd Austin waren die ersten US-Regierungsmitglieder, die seit dem Beginn des Krieges die Ukraine besuchten. Auf ein Schaulaufen in Kiew verzichtete man bei dem Treffen am Sonntag, vielmehr posierten die beiden den ukrainische Präsidenten Wolodymyr Selenskyj umrahmend vor den Fahnen beider Länder hinter einem Konferenztisch stehend. Dass die beiden US-Politiker Selenskyj um einen (Austin) beziehungsweise einen halben Kopf (Blinken) überragen, konnte kein PR-Berater so planen, aber es passt: Die beiden Großen schützen den tapferen Kleinen, der ohne Hilfe nicht gegen den bully aus der Nachbarschaft bestehen kann. Die vom Arbeitsgespräch mit Mitarbeitern beider Seiten am Konferenztisch veröffentlichten Fotos signalisierten: We’re talking business.

Adressat dieser Botschaft dürfte nicht zuletzt die russische Regierung gewesen sein. In den kommenden zwei Wochen wird sich zeigen, ob der russische Präsident Wladimir Putin vor dem 9. Mai, dem Tag der Feier des Sieges im Zweiten Weltkrieg, eine Vereinbarung anstrebt, die die Kampfhandlungen vorläufig beendet. Darauf deuten Äußerungen von hohen Politikern wie Außenminister Sergej Lawrow hin, in denen die »Befreiung« des Donbass als wichtigstes Ziel der »Spezialoperation« bezeichnet wird. Sollte es zu einer solchen Initiative kommen, stünde die ukrainische Regierung vor einer schwierigen Entscheidung.

Die Ukraine könnte im Rahmen eines Waffenstillstandsabkommens die bisherigen russischen Eroberungen de facto akzeptieren. Dies würde Russland die Möglichkeit geben, seine Position in den besetzten Gebieten militärisch und politisch – etwa durch manipulierte Referenden wie 2014 auf der Krim und in den »Volksrepubliken« des Donbass – zu festigen.

Angesichts der militärischen Erfolge der Ukraine erscheint nicht einmal mehr die Wiederherstellung der territorialen Integrität des Landes, also die Rückeroberung des Donbass und der Krim, als völlig realitätsfern. Auf die nur an wenigen Stellen mit dem Festland verbundene Halbinsel vorzurücken, wäre allerdings wesentlich schwieriger als vorgeschobene russische Stellungen in der Ost- und Südukraine anzugreifen. Aussagen des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Kontext der Verhandlungsversuche mit Russland deuten darauf hin, dass seine Regierung eine andere Option anstrebt: die Rückkehr zum Status quo von 2014.

Die Ukraine würde dann die Annexion der Krim nicht anerkennen, aber hinnehmen, ebenso die Besetzung der »Volksrepubliken«, die Russland kurz vor dem Beginn der Invasion als unabhängige Staaten anerkannt hat. Auch wenn es den ukrainischen Streitkräften gelingen sollte, die russischen Invasoren weit genug zurückzudrängen, ist es unwahrscheinlich, dass Putin dies in einem formalen Abkommen anerkennen würde, das er innenpolitisch nicht als Sieg verkaufen könnte.

Sollte es ein russisches Waffenstillstandsangebot geben auf Basis des jetzigen Frontverlaufs, müsste die ukrainische Regierung es also zurückweisen, wenn sie nicht erneut Territorien verlieren will. Dass jede Vereinbarung mit Putin dem Land nur eine Pause bis zum nächsten Angriff verschaffen würde, wird nur noch von jenen bezweifelt oder ignoriert, die mit Russland im Geschäft bleiben wollen. Die aber finden sich nicht nur in Deutschland. Auch im Fall Frankreichs ist nicht klar, was die von Präsident Emmanuel Macron immer wieder bekundete Bereitschaft zum Gespräch mit Putin zu bedeuten hat; die meisten in Russland tätigen französischen Firmen wollen das Geschäft nicht aufgeben.

Die ukrainische Regierung ist abhängig von ständigem militärischem Nachschub und daher erpressbar. Klare Ziele haben die westlichen Staaten in ihrer Russland-Politik bislang nicht formuliert, auch die US-Regierung war in dieser Hinsicht zurückhaltend. Im Rahmen des Ukraine-Besuchs von Blinken und Austin wurde etwas mehr Klarheit geschaffen. Man wolle »Russland bis zu einem Grad geschwächt sehen, dass es zu Dingen wie der Invasion der Ukraine nicht mehr in der Lage ist«, sagte Austin; ein Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats ergänzte, der Angriff müsse für Russland zum »strategischen Misserfolg« werden. Das deutet darauf hin, dass die USA eine Entscheidung der Ukraine unterstützen würden, mit Gegenoffensiven die russische Armee zurückzudrängen, auch wenn ­Putin ein Ende der Kampfhandlungen anbietet.