Die Zahl der antisemitischen ­Delikte steigt hierzulande seit 2015 Jahr für Jahr

Der Rahmen lenkt vom Gesamtbild ab

Ein neuer Bericht des Verfassungsschutzes zeigt einen Höchststand bei antisemitischen Delikten seit dem Beginn der Erfassung im Jahr 2001. Doch die Veröffentlichung erfasst das gesellschaftliche Problem Antisemitismus nur unzureichend.

Der Antisemitismus greift hierzulande immer weiter um sich, die Zahl der antisemitischen Straftaten steigt seit 2015 durchgehend an und war zuletzt auf dem höchsten Stand, seit ihre Erfassung im Jahr 2001 begonnen hatte. Im Jahr 2020 hat das Bundeskriminalamt (BKA) in seiner polizeilichen Statistik über politisch motivierte Kriminalität (PMK) insgesamt 2 351 solcher Delikte regis­triert, darunter 57 Gewalttaten. Diese Statistik könne »die Realität allerdings nur teilweise abbilden, da die Polizeibehörden nur das erfassen können, was polizeilich bekannt beziehungsweise zur Anzeige gebracht wird und einen Straftatbestand erfüllt«. So steht es in dem Bericht »Lagebild Antisemitismus 2020/21« des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV), der Mitte April veröffentlicht und von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) sowie dem Präsidenten des BfV, Thomas Haldenwang (CDU), vorgestellt wurde.

Dass es bei antisemitischen Straftaten ein Dunkelfeld gibt, dessen Größe wahrscheinlich ein Vielfaches der Zahlen der PMK-Statistik umfasst, hebt der Bericht ausdrücklich hervor. Nicht einmal ein Viertel der Delikte werde Erhebungen zufolge den Ordnungsbehörden oder anderen Stellen gemeldet, heißt es darin. Ebenfalls nicht berücksichtigt werde im »Lagebild« der Alltagsantisemitismus unterhalb der Strafbarkeitsschwelle, wie ihn zivilgesellschaftliche Initiativen und Nichtregierungsorganisationen erfassten und auswerteten, etwa die Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Rias), die über bundesweite Meldemöglichkeiten verfügen.

Der Verfassungsschutz ist auf die Beobachtung politischer Extreme beschränkt, antijüdische und ander­weitig antidemokratische Ten­den­zen in der sogenannten bürger­lichen Mitte hat er kaum im Blick.

Dass Organisationen wie Rias existieren und notwendig sind, hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass der Antisemitismus als gesellschaftliches Problem eben nicht erst dort beginnt, wo er sich in behördlich erfass- und zählbaren Straftaten manifestiert. Insoweit spiegelt der Bericht des BfV auch nur einen Teil der Wirklichkeit. Der Verfassungsschutz ist auf die Beobachtung politischer Extreme beschränkt, antijüdische und anderweitig antidemokratische Tendenzen in der sogenannten bürgerlichen Mitte hat er kaum im Blick. Im »Lagebild« werden zwar Wissenschaftlerinnen zitiert, die feststellen, dass Antisemitismus »keineswegs primär ein Randgruppenphänomen von Extremisten« und die Ursache für den Hass gegen Juden »in der Mehrheitsgesellschaft« zu suchen sei. Doch weiter vertieft wird diese Problematik nicht. BfV-Präsident Haldenwang sagte bei der Vorstellung des Berichts, es sei »erschreckend, dass antisemitische Narrative mitunter bis in die Mitte der deutschen Gesellschaft anschlussfähig sind«. Dass er das ausspricht, als ob es eine neue Erkenntnis wäre und nicht seit jeher ein wesentlicher Teil des Problems, macht deutlich, dass seine Behörde die Dimension und Wirkmächtigkeit des Hasses auf Juden nur begrenzt versteht.

Die Jüdische Studierendenunion Deutschland (JSUD) regte in einem auf Twitter veröffentlichten Kommentar an: »Für eine insgesamt differenziertere Erfassung des weltanschaulichen Hintergrunds antisemitischer Vorfälle würden wir allerdings die Kategorisierung des Bundesverbands der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus empfehlen.« Rias ordnet solche Übergriffe inhaltlich fünf Erscheinungsformen zu: »antisemitisches ­Othering«, »antijudaistischer Antisemitismus«, »moderner Antisemitismus«, »Post-Shoah-Antisemitismus« und »israelbezogener Antisemitismus«. Beim politischen Hintergrund unterscheidet die Organisation zwischen »rechtsex­trem/rechtspopulistisch«, »links/antiimperialistisch«, »christlicher Fundamentalismus«, »islamistisch«, »verschwörungsideologisches Milieu«, ­»antiisraelischer Aktivismus« und »politische Mitte«. Auch durch diese Katego­risierung sind die Rias-Berichte analytisch genauer und erfassen die Problematik des Antisemitismus besser, als das beim BfV der Fall ist.

Ein weiterer berechtigter Kritikpunkt der JSUD besteht darin, dass im Bericht des Verfassungsschutzes zur Begriffsbestimmung des Antisemitismus neben der weithin anerkannten Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) auch die von vielen Antisemitismusforscherinnen kritisierte »Jerusalemer ­Erklärung zum Antisemitismus« vom März 2021 herangezogen wird. Diese gibt sich als wissenschaftliches Dokument, ist tatsächlich aber eine politisch motivierte Deklaration. Ihren Urheberinnen und Unterzeichnern geht es vor allem darum, den Antizionismus kleinzureden und ihn vom Stigma des Anti­semitismus zu befreien. Dabei exkulpieren sie auch die Anti-Israel-Kampagne BDS, die, so heißt es in der »Erklärung«, »nicht per se antisemitisch« sei. BDS-Aktivisten und -Unterstützer zögen die »Jerusalemer Erklärung« immer wieder heran, »um den ­eigenen Hass gegen den jüdischen Staat Israel zu legitimieren«, so die JSUD. »Vor diesem Hintergrund ist die Gleichstellung dieser mit der IHRA-Definition höchst problematisch.«

Dessen ungeachtet enthält das »Lagebild Antisemitismus« auch aufschlussreiche Informationen. Die größte antisemitische Gefahr gehe hierzulande weiterhin vom »Rechtsextremismus« aus, auf den 2 224 der insgesamt 2 351 Straftaten und 50 der 57 Gewaltdelikte im Jahr 2020 entfielen. Antisemitismus sei »im deutschen Rechtsextremismus ein szeneübergreifend verbindender Faktor«, der vom Ressentiment bis hin zu Mord reiche, heißt es im Bericht. Vor allem Neonazis bezögen sich »auf antisemitische Verschwörungs­erzählungen, die hinter globalen Eliten Jüdinnen und Juden als verbrecherische ›Drahtzieher‹ mit Weltherrschaftsanspruch vermuten«. Solche antisemitischen Obsessionen könnten ein Anschlags- und Mordmotiv darstellen, wie der rechtsterroristische Anschlag in Halle am 9. Oktober 2019 gezeigt habe. Der Täter habe in seinem »Manifest« ein »von antisemitischen Auffassungen durchzogenes verschwörungstheoretisches Weltbild« offenbart.

Rechtsextreme hätten zudem in der Covid-19-Pandemie die Anschlussfähigkeit antisemitischer Annahmen für ihre Zwecke genutzt und versucht, die »Proteste des sehr heterogenen Spek­trums von coronaleugnenden, staatliche Maßnahmen kritisierenden und Impfungen ablehnenden Personenkreisen für sich zu instrumentalisieren, um so Reichweite und Akzeptanz der eigenen Argumente zu vergrößern«. Innerhalb der Protestszene lasse sich ein zum Teil codierter Antisemitismus in Form von Verschwörungsmythen feststellen. »Teils jahrhundertealte antisemitische Phantasmen, wie beispielsweise das Konstrukt einer geheimen, die Welt kontrollierenden (jüdischen) Elite, die die Weltbevölkerung versklaven wolle, erfuhren durch die Pandemie einen Verbreitungsschub«, heißt es im Bericht. Darüber hinaus sei »ein sekundärer Antisemitismus sichtbar« geworden, der die Verfolgung der Juden im nationalsozialistischen Deutschland und die Shoah »durch eine Gleichsetzung mit den staatlichen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung« verharmlost habe.

Zum islamistischen Antisemitismus hält der Bericht des BfV fest, dass es im Mai 2021 – während des jüngsten Kriegs der Terrororganisation Hamas gegen Israel – zu einem »sprunghaften Anstieg« von antisemitischen Übergriffen aus diesem Milieu gekommen sei. Auch eine »erhöhte Gewaltbereitschaft gegenüber Personen und Sachen« sei festgestellt worden. Bei der überwiegenden Zahl der antiisraelischen Demons­trationen habe es antisemitische Äußerungen und Handlungen gegeben. »Hierbei gehörte ein Großteil der wegen mutmaßlicher Straftaten festgestellten Personen muslimischen Bevölkerungsgruppen ohne Organisationsbezug an«, heißt es in dem Bericht. Das lege nahe, »dass auch unabhängig von einer dezidiert extremistischen Einstellung antisemitisches Gedankengut in muslimisch geprägten Bevölkerungsgruppen verbreitet ist und dort als ­gesellschaftlich vertretbar akzeptiert wird«. Eine Feststellung, die viele ­Jüdinnen und Juden aus eigener Erfahrung bestätigen können, wie Erhebungen immer wieder zeigen.

»Die Antisemitismus-Warnlampe leuchtet dunkelrot«, schlussfolgerte der Präsident des Zentralrats der Juden, ­Josef Schuster, aus dem BfV-Bericht. Damit hat er recht – zumal das »Lagebild« aufgrund seiner starken Fixierung auf politische Extreme und auf die Strafbarkeit antisemitischer Äußerungen und Handlungen nur die sprichwörtliche Spitze des Eisbergs zeigt.