In den USA könnte das Abtreibungsrecht eingeschränkt werden

Die Pille gegen Fundamentalisten

In den USA ist die Abtreibungsdebatte neu entbrannt. Befürchtet wird, dass das Grundsatzurteil des Obersten Gerichtshofs im Fall »Roe v. Wade« gekippt werden könnte.

Der öffentliche Aufschrei war enorm. Am 2. Mai veröffentlichte das US-Magazin Politico den Entwurf des Richters Samuel Alito für eine Urteilsbegründung des Obersten Gerichtshofs, dem zufolge die Grundsatzentscheidung aufzuheben sei, die der Oberste Gerichtshof 1973 im Fall »Roe v. Wade« zum US-Abtreibungsrecht getroffen hatte. Einen Tag später bestätigte das Gericht die Authentizität des Entwurfs. In mehreren Städten der USA demonstrierten Menschen gegen befürchtete Einschränkungen des Rechts auf Abtreibung. »Wie können sie es wagen, einer Frau zu sagen, was sie mit ihrem Körper tun kann und was nicht?«, empörte sich auch Vizepräsidentin Kamala Harris über den veröffentlichen Entwurf der Urteilsbegründung der Richter.

Im Zentrum der Abtreibungsdebatte steht ein angebliches moralisches Dilemma: Die Grundsatzentscheidung des Obersten Gerichtshofs im Fall »Roe v. Wade« garantiert seit 49 Jahren jeder schwangeren US-Bürgerin das Recht, über einen Abbruch zu entscheiden. Doch das, so sehen es Abtreibungsgegnerinnen und -gegner, stehe im Widerspruch zum Recht des »ungeborenen Kindes« auf Leben. Ab wann also sollte ein Schwangerschaftsabbruch verboten werden, wenn überhaupt? Und wem obliegt diese Entscheidung?

Mittels der Pille Mifepriston kann bereits seit Jahren jede US-Bürgerin bis zur zehnten Schwangerschafts­woche ohne einen chirurgischen Eingriff abtreiben.

Die Debatte in der US-Öffentlichkeit neigt zu Konfrontation und scharfen Tönen – obwohl es anscheinend eine klare Mehrheit zumindest für ein bedingtes Recht auf Abtreibung gibt. So ergab jüngst eine Umfrage des renommierten Meinungsforschungsinstituts Gallup in den USA, dass 48 Prozent aller Befragten das Recht auf Abtreibung »unter gewissen Umständen« befürworten, 32 Prozent sind für ein uneingeschränktes Recht auf Abtreibung und nur 19 Prozent sind der Meinung, ein Schwangerschaftsabbruch sollte unter allen Umständen illegal sein. Zum ­sogenannten Pro-Choice-Lager zählen demnach 80 Prozent der Bevölkerung, auch wenn natürlich die Definition der »gewissen Umstände« ein Streitpunkt bleibt.

Einer Umfrage von CNN von Anfang Mai zufolge sind 66 Prozent aller Befragten der Meinung, dass »Roe v. Wade« nicht vollständig aufgehoben werden sollte; 59 Prozent würden ein landesweites Gesetz unterstützen, das das Recht auf Abtreibung garantiert. Das Urteil im Fall »Roe v. Wade« war am 22. Januar 1973 verkündet worden, nachdem die anonyme Klägerin, bezeichnet als »Jane Roe«, gerichtlich gegen den Bezirksstaatsanwalt Henry Wade in Dallas im US-Bundesstaat Texas vorgegangen war, um ihr Recht auf eine Abtreibung einzufordern.

Damals befand eine Mehrheit von sieben der neun Richter des Obersten Gerichtshofs, darunter fünf Konserva­tive, im Sinne der Klägerin, dass eine Schwangere die Schwangerschaft grundsätzlich abbrechen darf. Dieses Recht gelte aber nicht absolut: Als zeit­liche Frist legten sie den Beginn des dritten Trimesters mit der 28. Schwangerschaftswoche fest, da danach das Interesse am Schutz des ungeborenen Lebens überwiege. Später orientierte man sich an dem Zeitpunkt, ab dem ein Fötus als außerhalb des Uterus lebensfähig galt, ungefähr ab der 24. Woche.

Eine Mehrheit am Obersten Gerichtshof traute Schwangeren damals offensichtlich zu, die für sie und ihre Familie richtige Entscheidung zu treffen. Doch christlichen Fundamentalisten wie der 2007 verstorbene Jerry Falwell machten das Thema bald zu einer der Herzensangelegenheiten der evangelikalen Kirchen. Während die US-Linke das Thema ad acta gelegt hatte, wurde für die überwiegend rechte »Pro-Life-Bewegung« der Widerstand gegen »Roe v. Wade« zu einer identifikationsstiftenden Aufgabe.

Vielen US-Amerikanerinnen gilt das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch hingegen als essentiell für ihre rechtliche Gleichstellung im Allgemeinen. »Roe v. Wade« zu kippen, hätte nicht nur symbolisch eine nicht zu unterschätzende Bedeutung: Bislang haben 13 republikanisch regierte US-Bundesstaaten sogenannte »trigger laws«, also Gesetze, die mit dem Widerruf von »Roe v. Wade« automatisch in Kraft träten. Insgesamt könnten 26 Bundesstaaten die Rechte von Frauen erheblich einschränken. Faktisch haben viele dieser Bundesstaaten das Recht auf Schwangerschaftsabbruch schon seit Jahren stark eingeschränkt, zum Beispiel gibt es in Missouri nur eine einzi­ge Klinik, die Abtreibungen anbietet.

Für Frauen in demokratisch regierten Bundesstaaten würde sich vorerst nichts ändern; Schwangere in anderen Staaten müssten für einen Abbruch in solche mit liberalerer Gesetzgebung reisen. Im Mai wurde in Kalifornien der Gesetzesentwurf SB-1245 vorgelegt, der »Patientinnen Zugriff auf Abtreibungen unabhängig von ihrem Wohnsitz« gewährleisten und dafür 20 Milli­onen US-Dollar an staatlichen Subventionen bereitstellen soll.

Die Entscheidung für eine Abtreibung hat oft in erster Linie wirtschaftliche Gründe. Nach Angaben der NGO United Health Foundation leben beispielsweise in Mississippi 28,1 Prozent aller Kinder in Armut, doch die dortige Legislative sperrt sich bislang gegen eine Ausweitung staatlicher Leistungen für Familien. Afroamerikanerinnen sind von der Entscheidung zu »Roe v. Wade« besonders betroffen. Ein Bericht des Guttmacher Institute, eines der führenden Forschungsinstitute zum Thema Reproduktionsmedizin, kam zu dem Ergebnis, dass im Jahr 2019 Afroamerikanerinnen 28 Prozent aller Abtreibungen in den USA vornehmen ließen, obwohl der afroamerikanische Bevölkerungsanteil nur bei rund zwölf Prozent liegt.

Wer Abtreibungen verhindern will, täte also gut daran, Familien zu unterstützen und Familienplanung zu fördern. Doch solche Forderungen erhebt die »Pro-Life-Bewegung« traditionell nicht, Strafen scheinen ihr als das einzig probate Mittel zu gelten. In Louisiana hat ein Parlamentsausschuss soeben einen Gesetzesentwurf verabschiedet, der Abtreibung mit Mord gleichsetzt – sollte das Parlament das Gesetz beschließen, könnte Frauen, die sich dort für einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden, also zumindest theoretisch die Todesstrafe drohen. Zudem setzen sich manche Republikanerinnen und Republikaner, darunter Senator James Lankford aus Oklahoma und Senatorin Joni Ernst aus Iowa, für ein landesweites Verbot von Abtreibungen bereits nach der sechsten Schwangerschaftswoche ein, wie die Washington Post berichtete.

Doch es ist denkbar, dass der medizinische Fortschritt die Abtreibungsgegner entwaffnet. Mittels der Pille Mifepriston kann bereits seit Jahren jede US-Bürgerin bis zur zehnten Schwangerschaftswoche ohne einen chirurgischen Eingriff abtreiben. Laut einem Bericht der Kaiser Family Foundation entscheiden sich schon jetzt 54 Prozent aller ungewollt Schwangeren für diesen Weg – und es dürften noch mehr werden. Die Pillen kann man anonym im Internet bestellen, und es ist kaum vorstellbar, dass die Gesetzgeber in den republikanisch regierten Bundesstaaten das effektiv unterbinden können.