Die Autorin hat sich die Feierlichkeiten zum Tag des Sieges in Moskau angesehen

Unsterblich nationalistisch

Die Feierlichkeiten zum »Tag des Sieges« in Russland wirkten dieses Jahr angesichts des Kriegs gegen die Ukraine zynisch. Begleitet waren sie von Festnahmen von Kriegsgegnerinnen und -gegnern.
Reportage Von

»Die Militärparade wird wahrscheinlich von Hubschraubern bewacht.« Die Kassiererin im Moskauer Supermarkt brummelt den Satz unvermittelt vor sich hin, ohne dass irgendjemand darauf reagiert. Am Vortag des 9. Mai, des Tages des Sieges, liegt die Aufmerksamkeit der Kundschaft sichtlich auf dem Erwerb alkoholischer Getränke in ausreichender Menge. Ohnehin würde keinem der Anwesenden die Ehre zuteil werden, der Parade auf dem Roten Platz persönlich beizuwohnen. Für das gemeine Volk ist nur eine Beteiligung an der Nachmittagsveranstaltung vorgesehen – dem »Unsterblichen Regiment«. Dabei tragen Menschen bei einem Gedenkmarsch Porträts ihrer Familienangehörigen, die im Großen Vaterländischen Krieg gekämpft haben.

Unter dem Motto »Unsterbliches Regiment« gingen am wichtigsten russischen Feiertag erstmals 2012 im si­birischen Tomsk Menschen auf die Straße. Aber die Idee war zu gut, um sie einer Basisinitiative zu überlassen, anstatt sie in den Dienst von Belangen nationaler Tragweite zu stellen. Mittlerweile organisiert die historisch-patriotische öffentliche Bewegung »Unsterbliches Regiment« die Märsche. Die Zelebrierung schicksalsträchtiger Ereignisse ist keine Privatangelegenheit.

Eine Gruppe usbekischer Arbeits­migranten freut sich, an diesem besonderen Tag dazugehören zu dürfen. »Schließlich haben auch Usbeken gekämpft«, begründet einer von ihnen ihre Haltung.

Stunden nachdem Russlands Präsident Wladimir Putin und sein Gefolge ihren feierlichen Verpflichtungen vom Vormittag nachgekommen sind, beginnt am anderen Ende der Moskauer Hauptstraße, die zum Kreml führt, der alljährliche Volksaufmarsch. Uniform tragen hier nur einzelne Enthu­siasten. Vor der Militärparade gab es Debatten darüber, ob es überhaupt angebracht sei, diese abzuhalten, da doch die russische Armee gerade im Einsatz ist. Womöglich verbreiteten sich deshalb unter den Organisatoren Zweifel, ob sich in diesem besonderen Jahr ­genug Freiwillige für ein anständiges »Unsterbliches Regiment« finden lassen. Im Internet fanden sich Angebote für eine bezahlte Teilnahme, staatliche Arbeitgeber sollen ihre Beschäftigte angehalten haben, der Parade beizuwohnen.

Sie haben die Uniform noch einmal herausgekramt

Sie haben die Uniform noch einmal herausgekramt

Bild:
Katja Woronina

Feiern und Festnahmen
Gekommen sind viele, sogar sehr viele. Trotz der aufziehenden Regenwolken. Es ist ein Festtag und alle zeigen sich von ihrer besten Seite, sogar die Polizei. Bei den Absperrgittern am Eingang zum abgeriegelten Areal vor dem Be­lorussischen Bahnhof herrscht eine lockere Atmosphäre ohne intensive Kontrollen – bei Protestkundgebungen wäre das in Moskau undenkbar. Aber staats- und regierungskritische Demonstrationen und Kundgebungen werden ohnehin seit Jahren nicht mehr genehmigt. Wer sich mit eigenen Positionen an die Öffentlichkeit wagt, riskiert, festgenommen zu werden.

Allein am 9. Mai landeten in russischen Städten Dutzende Menschen in Polizeigewahrsam, weil sie Kriegsgegnerschaft geäußert oder auch nur eine Aktion fotografiert hatten, die auf den Krieg in der Ukraine hinwies. In der Stadt Ufa nahm die Polizei eine Frau mit einem Plakat fest, auf dem stand: »Mein Großvater hat gegen den Faschismus gekämpft«. Unweit vom Veranstaltungsort des Moskauer »Unsterblichen Regiments« wurden zur selben Zeit mehrere junge Männer der Gruppierung Wesna dem Haftrichter vor­geführt, weil sie in den vergangenen Wochen zahlreiche Antikriegsaktionen veranstaltet hatten. Gegen Aktivistinnen des Netzwerks »Feministischer Widerstand gegen den Krieg« gehen die Strafermittler ebenfalls mit wachsender Härte vor. Sie hatten den 9. Mai zum »Tag des Unheils« erklärt und selbst zu Aktionen aufgerufen.

Feiernde Menschen in Zentralasien

Oft in Russland diskriminiert, heute aber willkommen. Feiernde aus Zentralasien

Bild: Flickr/Sofia Kalinina

All diese Ereignisse wirken auf der Twerskajastraße im Herzen der russischen Hauptstadt wie Botschaften aus einer fremden Welt. Hier wird auf beschränktem Raum eine­demonstrativ friedliche russische Weltordnung ­präsentiert. Wer anderen ein Lächeln schenkt, erhält zur Belohnung eine strahlende Geste. Das Wort »Entschuldigung« wird fast schon inflationär gebraucht, trotz der Menge an Menschen herrscht kein Gedränge. Vor den zahlreichen von freiwilligen Helferinnen und Helfern im olivgrünen Kriegsoutfit betriebenen Feldküchen bilden sich wohlgeordnete Schlangen. Es gibt den russischen Klassiker Buchweizengrütze – das passende Gericht für jeden Anlass. »Spasibo, dewotschki, ­otschen wkusno!« (Danke, Mädels, das hat richtig gut geschmeckt!), sagt eine herausgeputzte Frau Anfang 60 überschwänglich.

Ein ganz in Schwarz gekleidetes Teenager-Pärchen löffelt das dampfende Essen mit Vorsicht. »Wir sind hier, um die Menschen zu unterstützen«, sagt der schlaksige junge Mann. Das klingt nach Wohltätigkeitsveranstaltung. Erst auf Nachfragen lässt er sich entlocken, dass er das Andenken an seine Vorfahren wachhalten will. Seine Freundin hüllt sich vorsichtshalber in Schweigen. Viel sagen will auch ein Vertreter des Palästinenserblocks nicht; nur so viel, dass er jede Möglichkeit nutze, um am 9. Mai dabei zu sein.

Eine Gruppe usbekischer Arbeits­migranten freut sich, an diesem besonderen Tag dazugehören zu dürfen. »Schließlich haben auch Usbeken gekämpft«, begründet einer von ihnen ihre Haltung. Offener Rassismus, wie er zum russischen Alltag gehört, ist heute Tabu. Aus unersichtlichem Grund beginnt die Menge plötzlich, unisono laut zu schreien: »Hurra!« Minuten später kreist ein Polizeihubschrauber über den Köpfen und das Geschrei wiederholt sich: »Hurra! Rossija!«

Ein Mann ist in eine Stalinfahne gehüllt

Auch Stalin hat hier Platz. Ein unbelehrbarer Fan

Bild:
Katja Woronina

Stalin mischt mit
Ein Mittvierziger mit einer Pilotka, der Mütze der Roten Armee, trägt neben dem Porträt seines Großvaters eine Fahne mit Stalins Konterfei. Auf die Frage, wieso er Stalin mitgebracht habe, da die Aktion doch kämpfenden Familienangehörigen gewidmet sei, reagiert er nicht überrascht. »Meiner Meinung nach wurde Stalin zu Unrecht vergessen, er war schließlich Oberkommandeur der Streitkräfte«, meint er. Über seine These lässt sich streiten, lieber aber erzählt der Fahnenträger von seinem Großvater, der den ganzen Krieg über gekämpft habe, sogar in Stalingrad und Berlin. »Über den Krieg hat er kaum gesprochen, aber aus seinen Tagebüchern geht hervor, dass er Stalin gegenüber eher positiv eingestellt war«, so der Stalin-Fan weiter. Auf den Stalin’schen Terror angesprochen antwortet er, dass ein Verwandter tatsächlich Opfer politischer Repression geworden sei, aber schon in den zwanziger Jahren. »Wissen Sie, alle haben ihre positiven und ihre negativen Seiten, ob Stalin oder Putin«, ist er überzeugt. Fabriken und damit Arbeit für alle seien doch etwas Gutes, aber ­Repression selbstverständlich nicht.

»Wissen Sie, alle haben ihre positiven und ihre negativen Seiten, ob Stalin oder Putin«, sagt ein Parade­teilnehmer von Mitte 40.

Auf die Frage, ob es nicht ein seltsames Gefühl sei, den Sieg am 9. Mai wie immer zu begehen, während die russische Armee kämpfe, stimmt er zu und räumt dann ein: »Aber hier will doch niemand Krieg.« Dieser sei ein Ergebnis gegenseitiger Hetze und es sei eine Tragödie, dass Russen gegen Russen kämpfen, denn das seien sie im Kern ja schließlich alle. Putin verhalte sich im Normalfall vorsichtig und reagiere zurückhaltend. »Genau deshalb muss die Situation schon sehr ernst sein, wenn er sich dazu entschlossen hat, mit chirurgischer Präzision aktiv vorzu­gehen«, sagt er.

Je mehr sich der schier endlose Demonstrationszug dem Kreml nähert, desto dichter rücken alle zusammen. Die Zeit zieht sich quälend in die Länge, während sich die Menge nur noch im Schneckentempo voranbewegt. Dafür reißt der Himmel auf und die ­Sonne taucht die Szenerie in grelles Licht. Zeit für einen neuen Sprechchor: »Keine Chance dem Faschismus!« Auf dem Manege-Platz sorgt die Nationalgarde dafür, dass niemand eigene Wege geht. Es gibt kein Entkommen, alle Fluchtwege sind mit Metallgittern versperrt.

Auf dem Roten Platz probt eine Gruppe Studierender aus Vietnam ein ums andere Mal im Chor ein lautstarkes »Rossija«, um vor der Kamera eines Kommilitonen zu überzeugen. Sie seien große Fans von Russland, sagt eine von ihnen stellvertretend für alle. Mit russischen Fähnchen und schwarz-gelben Georgsbändchen ausstaffierte Nachkommen der Kriegsgeneration nehmen derweil eine Siegespose ein. Auf T-Shirts und Mützen einiger von ­ihnen prangen unübersehbar die Symbole der laufenden russischen »Sonderoperation« in der Ukraine – Z und V. Vielleicht ist ein Funken Wahres an der Behauptung, hier wolle niemand Krieg, aber einen militärischen Sieg erwarten die Versammelten allemal. Niederlagen generieren Gedenktage, keine Festtage wie den 9. Mai.

Der armenische Block

Ein Tag zum Musizieren. Der armenische Block

Bild:
Katja Woronina