Im Film »France« kullern der Hauptfigur die Tränen nach Belieben

Die bitteren Tränen Frankreichs

Der neue Film von Bruno Dumont, ein Hybrid aus Mediensatire und Melodram, dreht sich um die Journalistin France, die eine zynische Fernsehshow moderiert und ihre Tränendrüse nicht unter Kontrolle hat.

Bruno Dumont war nie ein gefälliger Regisseur. Der Große Preis der Jury für »L’Humanité« (1999) vor über 20 Jahren in Cannes machte aus ihm zwar einen angesehenen Regisseur des Autorenkinos, jedoch war die as­­ke­tische Form des Films zugleich als »quälend«, »langatmig« und »de­primierend« verschrien. Und dann ist da noch dieses eine grauenvolle Bild zu Beginn, welches man nur schwer vergessen kann, wenn man den Film gesehen hat – die Aufnahme einer blutenden Vagina. Aggressiv exponiert, eine Zumutung, ohne Triggerwarnung brennt sie sich ins Gedächtnis ein.

Vom Einsatz derartig provokativer Schockbilder ist der Regisseur mittlerweile abgerückt und auch die Strenge lässt er immer weiter hinter sich. Stattdessen vertieft er seit einigen Jahren seine Vorliebe für das Groteske. Weiterhin beschäftigt ihn jedoch die Wirkung von Bildern: wie sie Gewalt ausloten und hervorbringen, wie sie sich zur Wirklichkeit verhalten und was sie evozieren und im Zuschauer hinterlassen. Auch in seinem neuen, bislang zugänglichsten Film »France« treiben ihn diese Fragen um.

Als die Suche nach einem Gegengift für ihre Tristesse ergebnislos bleibt, lernt France, ihre Tränen zu verwerten. Als sie auf einem Schlauchboot umgeben von flüchtenden Menschen anfängt zu weinen, verwendet sie das Material für ihre Sendung.

Im Zentrum des Films steht France de Meurs (Léa Seydoux), eine landesweit gefeierte Journalistin, die in ihrer Fernsehsendung »France de Meurs – Ein Blick auf die Welt« zum politischen Streit lädt. Hier werden Debatten wie die über die französische Austeritätspolitik aufgeregt wiedergekäut, eine echte Diskussion unterschiedlicher Positionen wird nicht gesucht. Angereichert werden ihre Shows mit sentimentalen Reportagen aus möglichst brisanten Orten. Immer wieder kontrastiert der Film die dramatisierten Shows mit ausgelassenem Aftershow-Gequatsche und schildert im Modus subtiler Überzeichnung, wie France Fiktionen aus den Bildern generiert, die sie in den Krisengebieten aufnimmt.

France versteht ihren Beruf, sie weiß, worauf es ankommt. Die Konsequenzen sind nachrangig und die Explosionen in den Kriegsgebieten dienen bloß als Kulisse. Was zählt, sind die Explosionen in den Twitter-Timelines nach Frances Auftritten. Gemeinsam mit ihrer unbekümmert zynischen Produzentin Lou (Blanche Gardin) hat sie sich auf ihrem Kanal, der nach Pathos und Spektakel dürstet, wunderbar eingerichtet.

Schon bald aber bekommt diese glatte Oberfläche Risse und die Brüchigkeit der Kultfigur France de Meurs zeigt sich. Auf den überfüllten Straßen von Paris kollidiert ihr Auto mit einem Jugendlichen, der als Fahrradkurier seine Familie versorgt. Während des obligatorischen Krankenhausbesuchs legt sich plötzlich ein feuchter Schleier über ihre Augen. Im Auto kullert dann die erste Träne über ihre Wange, und fortan wird France von einer enigmatischen Traurigkeit begleitet.

Die Kamera scheint von ihrem Weinen wie magnetisch angezogen zu sein. Immer wenn sich auch nur der kleinste salzige Tropfen sammelt, wird die Kamera reflexartig auf ihr Gesicht gerichtet. Mit den elegischen Close-ups ruft der Film Assoziationen zu Carl Theodor Dreyers weinender Jeanne d’Arc aus dem Film von 1928 auf und lädt France damit ikonographisch auf.

Im Drehbuch waren die Tränen zunächst nicht vorgesehen, doch als Dumont merkte, wie leicht es Seydoux fällt, auf Anhieb loszuheulen, beutete er ihre Fähigkeit schamlos aus. So wurde das Weinen zum Angelpunkt des Films. Was genau die ­Tränendrüsen antreibt, bleibt diffus. France versucht, ihre Schuldgefühle mit Charity-Gesten zu kompensieren, doch das Sekret sickert weiter aus ­ihren Augen.

Die routinierte Moderatorin weiß um die Ambivalenz medial ausgestellten Weinens. Einerseits wird den Tränen misstraut, da sie das Publikum affektiv absorbieren. Andererseits werden sie auch als Zeichen echter Gefühle ausgelegt. Zudem gehören »Träneninterviews«, die die Schaulust des Publikums ansprechen, dieser Tage zum festen Bildinventar des Boulevards.

Als die Suche nach einem Gegengift für ihre Tristesse ergebnislos bleibt, lernt auch France, ihre Tränen zu verwerten. Als sie auf einem Schlauchboot, umgeben von flüchtenden Menschen, erneut anfängt zu weinen, verwendet sie das Material für ihre Sendung. Ihre vordergründige white guilt überschattet das Leid der Betroffenen zwar eher, als ihm Raum zu geben, aber France weiß, wie gern sich ihr Publikum in Mitleid suhlt. Im Film dienen die Tränen von France dazu, die Widersprüche der Hauptfigur offenzulegen. Häufig blickt sie beim Weinen direkt in die Kamera und adressiert damit das ­Kinopublikum direkt.

Der Film führt die großen Gefühle ad absurdum, auf die das Melodram ansonsten zuläuft. Zwar begleitet man den Leidensweg von France, ihre Schicksalsschläge und Liebesdramen, doch die Redundanz ihrer Tränen und die suggestiven Synthieklänge im Soundtrack von Christophe überspannen jede Ergriffenheit. Komik und Tragik greifen bei Dumont wunderbar knirschend ineinander, beispielsweise wenn ein weiterer schwerwiegender Autounfall in völlig absurde Crash-Szenen ausartet.

Glücklicherweise verharrt der Film nicht in gefälliger Kulturkritik, stattdessen torpediert sich die Satire selbst. Anstatt das Publikum in moralischer Überlegenheit zu wiegen, sucht der Film nach Reibungspunkten, beispielsweise wenn France die Kommunikation mit Menschen misslingt, deren Lebensumstände völlig anders als die ihren sind.

Gegen Ende verlagert sich die Handlung in den französischen Norden, den Dumont schon häufig zum Schauplatz seiner Filme machte. Ähnlich wie in »L’Humanité« ist ein junges Mädchen ermordet und vergewaltigt worden. In einem Exklusiv­interview auf einem abgelegenen Bauernhof spricht France mit der Ehefrau des Mörders, der vor 20 Jahren schon einmal ähnlich vorgegangen war. Ihre Fragen sind diesmal von ehrlicher Neugier geprägt.

Danach besucht sie einen Erinnerungsort, an dem Teddybären, Grabkerzen und ein Foto des Kindes hängen. Der kalte Wind lässt den Bilderrahmen gegen das Gitter schlagen. Die Felder sind matschig, die Luft ist feucht. Auf dem Land scheint die Zeit stehengeblieben zu sein, während sie in der Hauptstadt ungerichtet voranschreitet und immer mehr aus den Fugen gerät. Für einen Moment blickt man in die Gesichter des Teams, der Männer, die France mit Kamera und Tonangel begleiten. Was denken und fühlen sie? Wie kann in einem Zustand grassierender Entfremdung und Gewalt ein empfindsames Bewusstsein wachsen?

Dumont wühlt mal wieder existentielle Fragen auf, ohne die verschiedenen Spuren am Ende zusammenzuführen. Das mag inkohärent, oberflächlich oder zerfasert wirken, rührt jedoch aus der tiefen Überzeugung, dass das Sortieren und Weiterdenken letztlich in der Hand der Zuschauerinnen und Zuschauer liegen sollte. Natürlich verleitet auch der programmatisch klingende Titel »France« dazu, die Hilflosigkeit der Protagonistin auf die gegenwärtige Verfasstheit des Landes zu übertragen, in dem sich das Bürgertum in der Scheinheiligkeit verschanzt, während die Gräben größer werden, doch auch hier lässt sich der Film nicht festlegen, sondern legt nur eine Fährte.

Zurück in ihrer artifiziell entrückten Wohnung in Paris erledigt France übrigens trotz allem ihre Arbeit, presst das Gespräch mit der Frau in ein holzschnittartiges True-Crime-Narrativ und zieht sich damit in Pragmatismus zurück. Doch die Tränen fließen weiter.

France (FR/IT/DE/BE 2021). Buch und R­egie: Bruno Dumont. Darsteller: Léa ­Seydoux, Blanche Gardin, Benjamin ­Biolay. Filmstart: 9. Juni