In der türkischen Stadt Mardin findet die fünfte Kunstbiennale statt

Labyrinth der Lügen

Kunst im Krisengebiet: Die fünfte Kunstbiennale in der im Südosten der Türkei gelegenen Stadt Mardin protestiert gegen die Tabuisierung des Genozids an den Armeniern und mischt sich in die Konflikte der Gegenwart ein.

Die Kunstbiennale in der südostanatolischen Stadt Mardin ist eine subtil politisch angelegte Ausstellung in ­einem Land, das kritische Positionen immer wieder zu kriminalisieren versucht. Aber es gibt sie, mutige Künstlerinnen und Künstler, die sich nicht einschüchtern lassen. Der auf der Biennale vertretene holländische Künstler Jonas Staal etwa beschäftigt sich mit der Beziehung zwischen Kunst, Demokratie und Propaganda. Seine Arbeiten wie »Die Kunst, Lügen zu verkaufen« wirken hier, wenige Kilometer von Syrien und dem Irak entfernt, wie ein Kommentar zu den jüngsten Vorgängen in einer Region, in der die türkische Armee gerade ihre sogenannte »Verteidigungsoperation« im Nordirak unternimmt.

In Mardin selbst wurde erst vor zwei Wochen eine Gruppe türkischer Parlamentsabgeordneter daran gehindert, öffentlich gegen den Bau einer Luxussiedlung auf einem Grundstück in der Nähe der Stadt zu protestieren. Dort liegt ein Massengrab. Es birgt die Gebeine ermordeter Armenier, aber auch ermordete kurdische Zivilisten und PKK-Militante wurden hier verscharrt. Der armenisch-türkische Abgeordnete Garo Paylan betonte schon mehrfach, dass die Tabuisierung des Genozids an den Armeniern die Lösung aller weiteren Minderheitenkonflikte blockiert.

Geht man aufmerksam durch die Ausstellung in Mardin, sieht man politisch ambitionierte Kunst lokaler und internationaler Künstler vor einer Kulisse, die die verschiedenen Phasen politischer Um­wäl­zungen und Verbrechen spiegelt.

Eine wichtige künstlerische Posi­tion dieser fünften Biennale von Mardin formuliert die kurdische Künst­lerin Fatoş İrwen. Die lange dunkle Mähne reicht ihr bis zur Hüfte. Sie zeigt ihre Installation: ein Netz, das sich bis zur Decke spannt; Kugeln liegen auf dem Boden. Tritt man näher heran, erkennt man, dass das Gewebe und die Objekte aus menschlichem Haar gefertigt wurden. Haare in allen Farben und Nuancen – brünett, rot, blond, schwarz. İrwen erzählt die Geschichte dazu. »Die Haare stammen von Frauen, die mit mir in den Jahren zwischen 2016 und 2020 im Hochsicherheitstrakt von Diyarbakır saßen. Als ich entlassen wurde, rasierten die Gefangenen sich ihre Haare ab und schenkten sie mir. Ich sollte diesen Teil von ihnen in die Freiheit mit­nehmen und symbolisch für sie sprechen lassen.«

Die Kunststudentin Elif Gündoğdu, die beim Aufbau der Netzinstallation geholfen hat, hört die Geschichte der Kurdin zum ersten Mal. İrwen ist im historischen Stadtteil Sûr in Diyar­ba­kır geboren und aufgewachsen. Nach ihrem Abschluss in Bildender Kunst unterrichtete sie etwa zehn Jahre lang an weiterführenden Schulen in Batman, Diyarbakır und dann in ­Istanbul. Die Künstlerin beschäftigt sich mit Themen wie Gerechtigkeit, Machtverhältnisse, Glaubenssysteme und Geschlechterpolitik. 2013 unterstützte sie Aktivisten, die gegen die bereits 23 Jahren andauernde Isola­tionshaft des PKK-Führers Abdullah Öcalan mit einem Hungerstreik protestierten. 2016 wurde sie am Rande von Protesten gegen den Terror verhaftet, mit dem die Zivilgesellschaft in Diyarbakır überzogen wurde.

Zwei Welten prallen aufeinander. Gündoğdu trägt Kopftuch und stammt aus einem konservativen Milieu. Immer wieder betont die junge Frau, wie friedlich und harmonisch das politische Leben in der Stadt sei, in der heutzutage viele Anhänger der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP) leben. Geschickt lenkt İrwen das Gespräch auf die gemeinsame Ebene weiblicher Solidarität. »Es geht mir darum, eine universelle Stellungnahme der Frauen abzugeben«, betont sie.

Sie ist mittlerweile eine international bekannte Künstlerin. Nach ihrer Haftentlassung zeigte sie im vergangenen Herbst in einer großen retro­spektiven Ausstellung in Istanbul ihre Werke. Mutige Videoperformance-Arbeiten über die Wunden, die Verletzungen des weiblichen Körpers in der Psyche hinterlassen; labyrinthhafte Haarinstallationen; Zeichnungen, die sich mit dem Leid und seinen Auswirkungen befassen.

Schon der Ort, an dem ihre Installation steht, reflektiert eine Geschichte von Verbrechen und Vertuschungen, die die Biennale zwar nicht explizit formuliert, aber durch die Auswahl der Ausstellungsorte als Kontext präsent hält. Das historische Gebäude, in dem İrwen ihre Arbeit zeigt, gehört heute der Stiftung für Design; die Biennale verrät auf ihrer Website, dass es sich um das frühere Warenlager der armenischen Händlerfamilie Şalleme handelt.

Der oppositionelle türkische Forscher Sait Çetinoğlu veröffentlichte 2016 einen Text über die Beschlagnahmungen von armenischen Besitztümern im Zuge des Völkermords von 1915. Vor allem die Armenier wurden im Ersten Weltkrieg der Kolla­boration mit dem russischen Kriegsgegner beschuldigt. Reiche Städte wie Diyarbakır und Mardin mit einem hohen christlichen Bevölkerungs­anteil lagen aber weit von der Kriegsfront entfernt. Kurdische Stammesführer kollaborierten oft aus reiner Habgier mit den türkischen Staatsorganen; die Männer christlicher Familien wurden auf Todesmärsche in die syrische Wüste geschickt, Frauen und Kinder getötet oder zwangsverheiratet und assimiliert. Ihre Besitztümer fielen an lokale Notabeln und türkische Offiziere. So erging es auch der Familie Şalleme, von der niemand überlebte.

Geht man aufmerksam durch die Ausstellung in Mardin, sieht man politisch ambitionierte Kunst lokaler und internationaler Künstler vor ­einer Kulisse, die die verschiedenen Phasen politischer Umwälzungen und Verbrechen spiegelt. »Das Versprechen des Grases« nennt der indische Kurator Adwait Singh aus Neu-Delhi das Konzept seiner Biennale. Gras gibt es in Mardin kaum noch, nur in der Ebene zur syrischen Grenze erstrecken sich Grünflächen. Der Mangel ist das, was erfinderisch machen könnte, hofft Singh. In seinem kuratorischen Text heißt es: »Diese Ausstellung ist skeptisch gegenüber der Idee, dass globale Enteignung absolut ausweglos ist, im Gegenteil, es besteht die Möglichkeit einer solidarischen Neuordnung.« Es geht um Ressourcenverknappung, Umweltzerstörung, den weltweit unmenschlichen Umgang mit Flüchtlingen.

In einem Gebäude direkt neben einem Laden mit Produkten aus öko­logischem Anbau zeigen Fotos, Zeichnungen, Texte und Videos soziale Protestbewegungen in Indien, die sich auf die Lehren des Mystikers und ­Sozialreformers Ravidas (circa 1450–1520) berufen und gegen das Kastenwesen, soziale Hierarchien und Ressourcenausbeutung eintreten. Auch bei Künstlern und Intellektuellen gelten Verzicht, Mäßigung und Entsagung neuerdings wieder als erstrebenswert. Burak Özdemir kommt nachdenklich und begeistert aus dem Raum. Der international gefeierte Fagottist, Komponist und Orchestergründer stammt aus Istanbul, hat in New York City studiert und lebt heute in Berlin. Die spirituelle Thematik korrespondiert mit seiner neuen Klangkomposition »Interminata« (Die Unendliche). Sie wurde in Berlin mit Musikinstrumenten aus dem 17. Jahrhundert aufgenommen. Barockelemente verschmelzen mit ­einem Libretto aus Texten des persischen Dichters Rumi (1207–1273).

Der Besucher kann in einem Gewölbe des ehemaligen Wohnhauses der Familie Kavas auf Yogamatten Platz nehmen, eine Video-Sound-In­stallation vermischt Musikstile, Raum und Zeit öffnen sich. Es ist das Zusammenspiel von Schönheit und Suche nach Utopie, die diese Biennale tatsächlich zu etwas Besonderem macht, auch wenn die meisten Besucher und Besucherinnen am Ende des Tages froh sein dürften, nicht auf Matten, sondern in bequemen Betten einzuschlafen.

Auch dieses Haus wurde von einem armenischen Architekten gebaut. Mimarbaşı Lole Serkiz Gizo hat viele der beeindruckendsten Gebäude in Mardin entworfen. Aus den Hinterlassenschaften der Geschichte entsteht gerade etwas Neues. Auf dem Weg zum »Deutschen Hauptquartier« kommt es darauf an, wen man nach dem Weg fragt. Die von der AKP-geführten Stadtverwaltung eingesetzten Hilfsordnungshüter schrecken auf. »Was für ein Hauptquartier der Deutschen? Sagen Sie das nicht so laut.« Doch die Einheimischen von Mardin und viele Besucher kennen den Weg zum ehemaligen Stadtpalast von İskender Ata­myan, einem wohlhabenden und einflussreichen Armenier aus Mardin, der 1915 getötet wurde. 1917 richteten Soldaten und Offiziere des Deutschen Reichs als Verbündete der Osmanen dort ihr Hauptquartier ein, deswegen hat es diesen Namen.

Fatoş İrwen geht durch die Ausstellung und lächelt vielsagend: »Es gibt noch viel zu entdecken.« Dazu hat das Publikum noch bis Ende Juni Zeit.