In Tunesien drohen neue Desaster

Präsident vs. Justiz

In Tunesien hat Präsident Kaïs Saïed zu einer »Säuberung« der Justiz angesetzt, ein Richterstreik ist die Antwort.
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Ein offener Machtkampf zwischen der tunesischen Justiz und dem autoritären Präsidenten Kaïs Saïed ist entbrannt. Seit Montag streiken tunesische Richter, um gegen Saïeds »dauernde Einmischung in die Justiz« zu protestieren, der Streik soll bis Ende der Woche andauern. Im Gegenzug ordnete der Präsident an, die Gehälter der Richter für die Tage, an denen sie nicht arbeiten, nicht auszuzahlen.

Mitte voriger Woche hatte der Präsident per Dekret 57 Richter und Staatsanwälte entlassen, unter anderem wegen der »Verheimlichung von Terrorangelegenheiten«, »Korruption« und »Geheimabsprachen« mit politischen Parteien. In einer Kabinettssitzung hatte er einen »historischen Schritt« und die »Säuberung« der Justiz angekündigt. Dem Dekret zufolge haben die Entlassenen kein Rechtsmittel gegen die Entscheidung. Saïed hat somit nicht nur gegen die verfassungsmäßig fixierte Gewaltenteilung verstoßen, sondern auch die Unschuldsvermutung außer Kraft gesetzt.

Die tunesische Justiz ist keineswegs über alle Zweifel erhaben. Saïeds »Säuberung« erfolgt zur gleichen Zeit, da die äußerst politisierten Prozesse wegen der islamistischen Morde an zwei linken Abgeordneten, Chokri Belaïd und Mohammed Brahmi, im Jahr 2013 stattfinden – eine lang aufgeschobene veritable Staatsaffäre, in der das Anwaltskollektiv der Angehörigen der Ermordeten die Beteiligung einer »geheimen Organisation« der islamistischen Partei al-Nahda an den Morden ausgemacht haben will. Saïed, ein geschworener Feind der Islamisten, äußerte seine Ungeduld im Hinblick auf die »Verzögerung« und »vorsätzliche Vertagungen« von Richtern und Staatsanwälten in einigen Fällen. Ende Mai wurde der Prozess wegen des Mordes an Brahmi auf den 4. Oktober vertagt.

Doch das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Saïed mit seiner »Säuberung« sich die Justiz komplett unterwerfen und politische Rechnungen mit Richtern begleichen will, die ihn wegen seines offenkundigen Autoritarismus kritisieren. Eine unverheiratete Richterin wurde nach Medienberichten gar unter dem Vorwand »Sex vor der Ehe« beziehungsweise »Ehebruch« (zina ist das in Tunesien gebräuchliche Wort für beides) entlassen. Nach ihren Angaben hatte die Polizei sie dazu veranlasst, einen sogenannten Jungfräulichkeitstest an sich vornehmen zu lassen. Wie in der guten alten Zeit unter dem 2011 gestürzten autoritären Präsidenten Zine al-Abidine Ben Ali und in der Folge unter den von den Islamisten dominierten Regierungen bis 2014 dient der Verstoß gegen die »guten Sitten« als Anklagepunkt.

Eine Institution allerdings bleibt von Saïeds Säuberungswut bezeichnenderweise verschont: das Innenministerium, seit Ben Alis polizeistaatlichen Anwandlungen die black box der tunesischen Staatsgewalt und beliebtes Ziel für revolutionäre Proteste. Die Absperrungen vor dem Sitz des Innenministeriums im Zentrum von Tunis haben mittlerweile zwei Straßenspuren und den Mittelstreifen für die Fußgänger der Avenue Bourguiba okkupiert und sind mit hübschen Schildern verziert, die »Fotografieren verboten« signalisieren. Gepanzerte Fahrzeuge an allen Ecken und Enden der Avenue komplettieren das Bild.