Auch in Russland sind die Preise für Nahrungsmittel stark angestiegen

Vertrauen auf russischen Weizen

Auch in russischen Supermärkten steigen die Preise. Die russische Regierung verlässt sich auf die heimische Landwirtschaft, doch hier wirken sich die Wirtschaftssanktionen gegen Russland aus.

Zuerst die gute Nachricht: Mehrere Wochen in Folge vermeldete die russische Statistikbehörde Rosstat einen Rückgang der Preise für eine Reihe von Grundnahrungsmitteln. Zucker verbilligte sich demnach Mitte Juni im Vergleich zur Vorwoche um zwei Prozent – die Teuerungsrate seit Jahresbeginn betrug jedoch 40 Prozent. Auch Eier, Buchweizen und Schweinefleisch werden zumindest der offiziellen Statistik zufolge wieder für weniger Geld verkauft, genauso wie etliche Gemüsesorten. Noch Mitte Mai betitelte die Tageszeitung Moskowskij Komsomolez einen Artikel über horrende Preissteigerungen mit den Worten »In Russland werden sogar Kohl und Zwiebeln unverschämt teuer«. Preiserhöhungen von 60 beziehungsweise 70 Prozent ließen starke Zweifel an der von offiziellen Stellen berechneten Teuerungsrate aufkommen, die zu dem Zeitpunkt bei knapp zwölf Prozent lag. Die von den westlichen Staaten verhängten Sank­tionen, die den Import zahlreicher Güter nach Russland erschweren oder ganz unmöglich machen, treiben die Preise auch im Supermarkt in die Höhe. Selbst bei heimisch produzierten Gütern können sich die Sanktionen auswirken, zum Beispiel bei der Verpackung oder der Umstellung logistischer ­Abläufe, hinzu kommt die gestiegene Nachfrage, wenn auf teurere impor­tiere Waren verzichtet wird. Die Auswertung der Verkaufszahlen von Lebensmitteln russischer Hersteller durch den Lieferservice Sbermarket zeigten, dass, während sich die Preise für die Waren seines Sortiments in den ersten fünf Monaten des laufenden Jahres verdoppelt haben, mehr als doppelt so häufig günstigere heimische Produkte gekauft wurden als im Vorjahr. Von der Kartoffel über Fleisch- und Milchprodukte bis hin zu Zitronen von der Schwarzmeerküste favorisiert die Kundschaft Waren aus Russland.

Der Einzelhandel schlägt wegen der hohen Inflationsrate Alarm und fordert eine Senkung der Mehrwertsteuer für Waren des alltäglichen Bedarfs und einen Aufschub von Steuerzahlungen. Außerdem vermeldeten Supermärkte in den vergangenen Monaten eine auffällige Zunahme von Ladendiebstählen, in erster Linie bei Backwaren, Wurst, Alkohol und Käse. Sie fordern, die Anmeldung von Schadensansprüchen zu erleichtern, um Verluste wie die durch Ladendiebstahl auf die Gewinnsteuer anzurechnen.

Ministerpräsident Michail Mischustin betonte im Frühjahr, dass die Regierung wegen der gegen Russland gerichteten Sanktionen darauf abzielen müsse, die Wirtschaft vom Ausland unabhängig zu machen und Arbeitsplätze zu schaffen. Das Land sei aufgerufen, diese »einzigartige« historische Chance zu ergreifen, um durch Importsubstitution gestärkt daraus hervorzugehen. Es ist fraglich, ob das in Industriesektoren möglich sein wird, die in internationale Lieferketten eingebunden sind. In Bezug auf die Landwirtschaft formulierte Mischustin jedoch ein Ziel, das ohnehin seit Jahren unter dem Stichwort der Ernährungssicherheit Bestandteil der offiziellen Nationalen Sicherheitsstrategie Russlands ist: Fast der gesamte Bedarf an Grundnahrungsmitteln soll demnach aus heimischer Produktion gedeckt werden können. Aus dem russischen Landwirtschaftsministerium heißt es, Russland sei in der Tat in der Lage, den Grundbedarf an Getreide, Fleisch, Fisch, Zucker und Speiseöl aus eigener Produktion zu decken.

Außerdem soll Russland aber am Export von Nahrungsmitteln verdienen. Bereits im ersten Pandemiejahr 2020 übertraf der Wert der ausgeführten ­Lebensmittel den der importierten, im Folgejahr wuchs der Export um weitere 23 Prozent auf 37,7 Milliarden US-Dollar. Bei einer Kabinettssitzung am Donnerstag vergangener Woche gab Landwirtschaftsminister Dmitrij Patruschew bekannt, dass 2022 mit einem leichten Anstieg der Gesamtproduktion um knapp ein Prozent im Vergleich zu 2020 zu rechnen sei, was einen Investitionsschub begünstige.

Es scheint, Russlands Führung könne sich in Ernährungsfragen entspannt zurücklehnen, während insbesondere auf dem afrikanischen Kontinent eine Hungerkrise prognostiziert wird. Margarita Simonjan, die Chefredakteurin des staatlichen russischen Propagandasenders RT, griff das Thema Nahrungsmittelversorgung in der ihr eigenen Art auf. Als sie die Plenarsitzung des internationalen Wirtschaftsforums in Sankt Petersburg moderierte, an dem der russische und der kasachische Präsident teilnahmen, sagte sie, ihr sei in Moskau bereits mehrmals ein zynischer Ausspruch untergekommen: »Die ganze Hoffnung liegt auf dem Hunger.« Gemeint sei, erklärte sie, dass der Westen erst durch die Hungersnot in armen Ländern zur Besinnung kommen, die Sanktionen aufheben und freundschaftliche Beziehungen zu Russland wiederaufnehmen werde, weil es dazu keine Alternative gebe. Die russischen Nahrungsmittelexporte sind jedoch nicht direkt von westlichen Sanktionen betroffen.

In mindestens einem Punkt wirken Mischustins Worte wie Schönrederei: Was auf den Feldern wächst und gedeiht, muss zuvor gesät werden. Und da steht es um die Autarkie der russischen Wirtschaft denkbar schlecht, denn das Saatgut stammt größtenteils aus dem Ausland. Nach Angaben der Forschungsabteilung der Moskauer Universität Higher School of Economics liegt der Anteil von importiertem Saatgut für Sonnenblumen bei 73 Prozent, bei Zuckerrüben sogar bei 98 Prozent.

Das läuft der russischen Doktrin für Ernährungssicherheit klar zuwider. Bei anderen Grundnahrungsmitteln wie Kartoffeln sieht es nicht besser aus, nur beim Weizenanbau deckt der Anteil heimischer Aussaaten fast den kompletten Bedarf. Der Wiederaufbau der nach dem Zerfall der Sowjetunion vernachlässigten Saatgutentwicklung wird selbst unter Höchstanstrengungen viele Jahre in Anspruch nehmen, ganz zu schweigen von ebenfalls nicht unbeträchtlichen Defiziten bei der Agrartechnik, die als veraltet gilt. Der Import von Agrarmaschinen wird durch die westlichen Sanktionen für gewisse Hightech-Komponenten eingeschränkt, einige internationale Unternehmen haben sich vorerst vom Markt zurückgezogen.

Wie sich das auswirken kann, zeigt das Beispiel der Ekosem-Agrar AG, ­eines der größten Rohmilchproduzenten Russlands. Ihr gehören dem Wirtschaftsmagazin Capital zufolge knapp 600 000 Hektar Agrarflächen und 180 000 Rinder. Das von dem gebürtigen Deutschen Stefan Dürr geleitete Unternehmen teilte mit, finanzielle Probleme zu haben, weil die Kosten für importiertes Saatgut, Dünger und Ersatzteile für Landmaschinen, die in Euro und US-Dollar bezahlt werden müssten, stark gestiegen seien. »Das enorme Wachstum des vergangenen Jahrzehnts im Agrarsektor wird nur sehr schwer fortzusetzen sein«, zitiert Capital Oane Visser, Professor für ­Agrarstudien am Institute of Social Studies in Den Haag.

Der im Ausland lebende russische Wirtschaftswissenschaftler Wladislaw Inosemzew äußerte kürzlich in einem Videointerview, er halte die weltweite Nahrungskrise für überwindbar, doch gelte es zunächst, die hohen Preise für Energieträger zu reduzieren. Er sprach sich für ein vollständiges Exportverbot nach Russland aus, das an die Stelle der Importverbote aus Russland treten solle. Hoffnungen, mit wirtschaftlichen Maßnahmen eine schnellere Beendigung des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine herbeizuführen, teilt er nicht. Russland verfüge über zu große Eigenressourcen, die bei der derzeitigen Intensität militärischer Aktivitäten noch gut zwei Jahre ausreichen würden.