Zweimal stieß der englische Frauenfußball im 20. Jahrhundert auf große Hindernisse

Diskriminierte Entwicklung im Mutterland

Kein Land war in höherem Maße für eine führende Rolle im Frauenfußball prädestiniert als England. Es kam anders.

Die beliebte Frage, wann und wo in der Geschichte nur eine Winzigkeit hätte anders sein müssen, damit sich alles in eine bessere Richtung entwickelt hätte, lässt sich selten überzeugend beantworten. In der Geschichte des englischen Frauenfußballs schon: 1921 nämlich. Und 1971.

Tatsächlich gibt es nicht wenige Sporthistoriker, die davon ausgehen, dass der Frauenfußball in England Ende der zehner Jahre des 20. Jahrhunderts und vor allem in den Jahren 1920 und 1921 populärer war als der der Männer. Ein Spiel wird besonders gerne als Beleg herangezogen: Am Boxing Day 1920 – am Zweiten Weihnachtsfeiertag wird in England traditionell gespielt – trafen im Liverpooler Goodison Park, wo sonst die Männer des Everton F.C. vor im Schnitt 38 000 Zuschauern spielten, die Dick, Kerr Ladies aus Preston auf die St. Helens Ladies, und in einem ausverkauften Stadion sahen 53 000 Zuschauer den 4:0-Sieg der Dick, Kerr Ladies. Rund 14 000 weitere Karten hätten verkauft werden können.

Was als Folk Football bekannt ist, brutale Spiele von Dorf gegen Dorf auf einem Anger, oft mit der Kirchentür oder einem Erker als Tor, wurde meist »mixed-gender« gespielt.

Der Andrang an den Kassenhäuschen des Goodison Park war kein Einzelfall. Der Frauenfußball hatte ab 1915 rapide an Popularität ge­wonnen, denn wegen des Ersten Weltkriegs hatte die mächtige Football Association (FA) die Männerligen ausgesetzt – dafür liefen Frauenteams auf. »Frauenmannschaften standen neben den Männerteams im Mittelpunkt der Berichterstattung, ohne dass dies als ungewöhnlich oder ­außergewöhnlich empfunden wurde«, fasst die Historikerin Eleanor ­Dickens zusammen.

In diesem Umfeld wurden 1917 die Dick, Kerr Ladies gegründet. Es waren Arbeiterinnen der Waffenfabrik Dick, Kerr & Co. in Preston, doch die hatte mit dem Management des Clubs nur ganz am Anfang zu tun. Bald waren die Dick, Kerr Ladies ein unabhängiger Verein. Das hatte zur Folge, dass sie sich als Teil der britischen Arbeiterbewegung verstanden und beispielsweise durch Benefizspiele auch Geld für streikende Bergarbeiter einspielten. Barbara Jacobs, die ein Buch über die Dick, Kerr Ladies verfasst hat, sagt, dass Frauenfußball »für diejenigen, die die Gewerkschaften als ihre Feinde betrachteten, zu einem politisch gefährlichen Sport geworden war«. Anders formuliert: Women’s football was working class sports, too.

Der Star der Dick, Kerr Ladies war Lily Parr, eine Arbeiterin der Waffenfabrik. Etwa 150 Frauenfußballclubs gab es damals im Vereinigten Königreich, einige davon waren professionell organisiert – auch das ein Zeichen des Aufschwungs des Sports. Parr, die mit ihrer Teamkollegin Alice Woods eine offen lesbische Beziehung pflegte, fiel durch Kettenrauchen und durch ihre Schusskraft auf. Einmal soll sie einem (männlichen) Keeper mittels Torschuss den Arm gebrochen haben.

Solcher Frauenfußball erschien den Herren der FA als Gefahr. Er war aufgestiegen parallel zu einer erfolgreichen Kampagne für das Frauenwahlrecht – im Vereinigten Königreich durften ab 1918 Frauen, die älter als 30 Jahre alt waren, wählen, das all­gemeine Wahlrecht wurde erst 1928 erkämpft. Die Herren fürchteten die Frauenbewegung durchaus zu Recht, denn die Suffragetten, die auch militant agierten, erkoren oft auch Sportclubs zu Angriffszielen. 1913, am Abend vor dem FA-Cup-Finale, gab es einen gescheiterten Brandanschlag auf die Tribüne des Stadions von Crystal Palace. Gleichfalls 1913 brannte die Tribüne des Stadions Manor Ground im Londoner Stadtteil Plumstead nieder, wo Arsenal F.C. spielte. Anschläge auf die Stadien von Preston North End und der Blackburn Rovers gab es auch.

Erst die Anschläge, dann die sportlichen Erfolge, dann noch größerer Zuschauerzulauf – das ließ die FA zum Mittel des Verbots greifen. »Aufgrund von Beschwerden über den Frauenfußball sieht sich der Rat ­veranlasst, seine feste Überzeugung zum Ausdruck zu bringen, dass das Fußballspiel für Frauen völlig ungeeignet ist und nicht gefördert werden sollte«, hieß es 1921.

Wer denkt, mit dem Verbot sei eine kurze Phase von nicht einmal zehn Jahren zu Ende gegangen, in der Frauen in eine Männerdomäne einbrachen, irrt jedoch: Frauen spielten schon so lange Fußball wie die Männer. Was als Folk Football bekannt ist, brutale Spiele von Dorf gegen Dorf auf einem Anger, oft mit der Kirchentür oder einem Erker als Tor, wurde meist mixed-gender gespielt. Es gibt auch Berichte von reinen Frauenspielen, wenn etwa Verheiratete gegen Ledige antraten.

Erst als der moderne Fußball entstand, ausgehend von den Public Schools, wo sein Regelwerk der Disziplinierung der männlichen Bürger­jugend galt, dann in ersten Vereinen, die bürgerlich geprägt waren, änderte sich das. Dem 1857 gegründeten Sheffield F.C. etwa gehörten 29 Mitglieder an, elf von ihnen waren Fabrikanten. Diese soziale Zusammensetzung gilt auch für die 1863 gegründete FA.

Frauen blieb nicht viel übrig als Selbstorganisation. Den ersten Frauenclub initiierte 1881 Helen Graham Matthews in Schottland, das Team nannte sich Mrs Graham’s XI. Trotz Berichten über Widerstände und ­Tumulte fanden die Spiele statt. Ähnlich war es beim British Ladies Football Club (BLFC) 1895. Hinter ihm standen zwei Frauen und ein Mann: die Journalistin Nettie Honeyball – ein Pseudonym, ihr richtiger Name ist leider bis heute nicht bekannt –, Alfred Hewitt Smith als Manager und Lady Florence Dixie als Schirmherrin. 1895 trat der BLFC erstmals öffentlich an: Ein Team Nord schlug ein Team Süd vor 10 000 zahlenden Zuschauern 7:1. Honeyball berichtete, dass die Teams von Profikickern des Millwall F.C. trainiert wurden, zweimal pro Woche, oft bis in die Nacht. Dass die Frauen Geld nahmen, wurde ihnen vorgeworfen. Wenn schon Sport, dann solle er doch wenigstens damenhaft und am Amateurstatut orientiert erfolgen. Mit der Entscheidung, Eintrittsgeld zu nehmen, so ­argumentierten die Herrschaften, hätten sich die Spielerinnen in die Reihe bekämpfenswerter Feministinnen gestellt.

Nach dem Verbot von 1921 lösten sich zwar viele Clubs auf, aber nicht alle. Die Dick, Kerr Ladies tourten durch Kontinentaleuropa und Amerika. In den USA absolvierten sie neun Spiele: drei Siege, drei Unentschieden, die Niederlagen kassierten sie gegen Erstliga-Männerteams. 1926 benannten sich die Dick, Kerr Ladies in Preston Ladies um. Im ganzen Land wurde weiter informell gekickt.

Berühmt ist ein Foto, das zeigt, wie Cissie Charlton mit ihren Söhnen Bobby und Jackie Fußball spielt. Bis heute hält sich das – von den Brüdern bestrittene – Gerücht, es sei Cissie gewesen, die ihnen das Fußballspielen beigebracht habe, mit dem sie im Trikot der »Three Lions« 1966 die Weltmeisterschaft der Männer gewannen. Cissie stammte aus ­einer traditionsreichen Fußballfamilie – ihr Vater Tanner Milburn war ein berühmter Torwart, ihre vier Brüder wurden alle Profis –, während ihr Mann, der Vater von Bobby und Jackie, mit Fußball nichts am Hut hatte.

Zu den Erfolgen des englischen Frauenfußballs gehörte auch die Europameisterschaft 1957. Die wurde im Westberliner Poststadion ausgetragen und war von keinem Verband anerkannt. Im Finale siegten die 1949 gegründeten Manchester Corinthians über eine deutsche Auswahl 4:0.

Offensiv in Frage gestellt wurde das FA-Verbot ab 1967/68. Die damals 19jährige Patricia Gregory hatte an eine Lokalzeitung geschrieben, wie ungerecht das Verbot sei. Nachdem sie in einer Fußballzeitung eine Anzeige geschaltet hatte, boten ihr ­etliche Vereine an, bei ihnen zu spielen. Gregory gründete den Verein White Ribbon. Zusammen mit dem Funktionär Arthur Hobbs baute sie ein Netz an regionalen Ligen auf, 1969 gründeten die beiden die Women’s Football Association (WFA). Auch international bewegte sich etwas: 1969 wurde die Confederation of Independent European Female Football gegründet.

Neben Gregory, Hobbs und ihrer WFA gab es noch andere, unabhängige Bestrebungen, den Frauenfußball wiederzubeleben. Das Ehepaar Harry und June Batt gründete in Luton ein Team namens Chiltern Valley Ladies. Vorbild war Italien, wo es bereits mehrere Frauenteams gab und wo 1970 an allen Verbänden vorbei eine unabhängige Frauenfußball-WM stattgefunden hatte. Die Chiltern Valley Ladies stellten das Gros einer englischen Auswahl, die 1971 zur damals noch inoffiziellen zweiten Frauenfußball-WM nach Mexiko reiste. Dort kamen über 100 000 Fans in die Stadien – ein beinah vergessenes Kapitel des Frauenfußballs.

Die WFA lehnte jedoch eine Teilnahme englischer Kickerinnen an diesen inoffiziellen Weltmeisterschaften ab. Daher nannten die Batts ihr Team The British Independents und wurden prompt von der WFA gesperrt. Eine der Spielerinnen war die damals erst 13jährige Leah Caleb. Sie glaubt bis heute, dass die Ablehnung des unabhängigen Nationalteams durch die WFA vieles zerstört hat. »Der Frauenfußball hatte die Möglichkeit, sich ab 1971 explosionsartig zu entwickeln.«

Immerhin hob die FA 1971 das Verbot von Frauenfußball auf. Zu dem Zeitpunkt gab es bereits 44 Vereine in England, der Verband konnte also nicht anders. 1972 fand das erste offiziell lizenzierte Länderspiel statt: England gewann gegen Schottland 3:2. WFA und FA arbeiteten zusammen, 1993 löste sich die WFA auf und die FA übernahm die Organisation des Frauenfußballs.

Bei der Fußball-EM 2022, die derzeit in England stattfindet, ist das von der FA aufgestellte Team, das den Spitznamen Three Lionesses trägt, der Favorit. Mittlerweile haben die großen Premier-League-Clubs alle ­finanziell gut ausgestattete Frauenteams. Nach 1921 und 1971 gibt es also wieder die Möglichkeit durchzustarten. Alle 50 Jahre hat der englische Frauenfußball einen Freischuss.