Das ambivalente Verhältnis von Linken zu konformistischer Rebellion und Individualismus

Nonkonformismus statt Rebellengehabe

Heutige Linke wissen mit Nonkonformismus nichts mehr anzufangen, der damit einhergehende Individualismus gilt sogar als Schimpfwort. Dabei ist der Nonkonformismus eng mit dem Begriff von Kritik verbunden – und das beste Mittel gegen autoritäre Tendenzen.

Nonkonformismus und Rebellentum stehen heute nicht hoch im Kurs bei Linken. Das hat durchaus seine Gründe: Die Figur des Rebellen ist eng mit einer Vorstellung von männlicher Selbstbehauptung verknüpft, gegen die größte Skepsis angezeigt ist. Nonkonformismus und Individualismus wiederum dienen in neoliberalen Zeiten vor allem als Sujet für Werbetexte (»Sei anders! Kauf dieses Produkt!«) sowie dazu, rücksichtsloses, ausbeuterisches und diskriminierendes Verhalten zu legitimieren. Robert von Cube hat an dieser Stelle darauf hin­gewiesen, dass sich eine Art gesellschaftlicher Rollentausch vollzogen hat: Das aufmüpfige, zur Provokation neigende Rebellentum, welches einst mit linker Gegenkultur assoziiert wurde, beanspruchen heute Rechte für sich, während Linke immer häufiger wie spießige Tugendwächter erscheinen.

Cube ist dafür zu danken, das Thema aufgebracht zu haben, denn es wird von Linken längst nicht ausreichend reflektiert. Dabei ist der Fall des Influencers Flynn Kliemann, an dem Cube seine Beobachtung entwickelt, nur ein neues Beispiel für ein älteres Phänomen. Mit einem gegen den vermeintlich linken Zeitgeist gekehrten Rebellengestus gehen reaktionäre Heißluftballons meist männlichen Geschlechts schon seit Jahrzehnten hausieren. Die Masche ist jedoch zweifellos populärer geworden, was auch widerspiegelt, dass in jüngerer Vergangenheit gewisse feministische und postkoloniale Positionen in der öffentlichen Debatte an Bedeutung gewonnen haben; in sich progressiv wähnenden Kreisen gehören sie inzwischen zum guten Ton, was das feministische beziehungsweise postkoloniale Ticket auch attraktiver für jene gemacht hat, die dazu neigen, andere zu schurigeln und sich öffentlich oder halböffentlich ausgiebig zu empören. Letzteres hat freilich auch mit einer durch die sozialen Medien katalysierten Verrohung der öffentlichen Debatte zu tun.

Regeln zu brechen, ist kein Selbstzweck. Im alternativen Milieu sollte der Regelbruch der Emanzipation und dem Fortschritt dienen.

Ob es nun an neuen Kommunika­tionsformen liegt, an einer Popularisierung progressiver Positionen oder an anderen Ursachen: Theorie scheint im linken oder progressiven Milieu eine immer kleinere Rolle zu spielen. Moralische Affekte treten an die Stelle politischen Denkens; Affekte, die anstelle einer Debatte, in der auch Selbstreflexion möglich wäre, Gruppenkohäsion und Kulturkampfmentalität begünstigen und die auch immer offener als Waffe eingesetzt werden, um sich in der sozialen – oder sozialmedialen – Hackordnung zu behaupten. So aber spielen Linke eben das Spiel mit, das sie zu skandalisieren beanspruchen, nämlich den gesellschaftlichen Konkurrenzkampf um Machtpositionen.

Dieser Aspekt – der instrumentelle Charakter der Selbstinszenierung – bleibt in Cubes Erörterung der Causa Kliemann unterbelichtet. Um zu rekapitulieren: Der Influencer schrieb auf Instagram, er wolle sich von der »linken woken Szene« nichts vorschreiben lassen und werde weiterhin »die Regeln brechen«. Cube sieht ­darin einen Ausdruck von »nonkonformistischem Trotz«, Kliemann spreche »Werten das Wort, die vor kurzem noch ins progressive, alter­native Milieu gehört hätten«.

Doch welche Werte sollen das sein? Regeln zu brechen, ist kein Selbstzweck. Im alternativen Milieu sollte der Regelbruch der Emanzipation und eben dem Fortschritt dienen: Man wollte nicht einfach weiterhin tun, was man immer getan hat, weil man es immer so getan hat, sondern überkommene Verbote und Normen daraufhin prüfen, ob sie noch einen Zweck erfüllen, den man sich zu eigen machen will.

Kliemann hingegen reagierte mit seiner, nun ja, Rebellion gegen die »woke« Tugenddiktatur auf Enthüllungen über seine Geschäftspraktiken: Ihm wird vorgeworfen, über die Produktionsbedingungen von Atemschutzmasken gelogen und mangelhafte Masken an Geflüchtete gespendet zu haben. Man könnte wohl sagen, er sei ein business punk, aber das hat mit Punk nicht viel mehr zu tun als die Fernsehsendung »Big Brother« mit dem totalitären Staat aus Orwells »1984«. Die Ansicht, Regeln gälten nicht für jene, deren Handeln der Erfolg heiligt, war schon immer verbreitet bei denen, die damit durchkommen konnten. Das nonkonformistisch zu nennen, wäre irreführend – es ist schlicht das Recht des Stärkeren.

So manche Linke, die mit dem »woken Milieu« fremdeln, neigen dazu, die Vergangenheit nostalgisch zu verklären, sei es die Zeit der Achtundsechziger- oder die der Arbeiterbewegung, sei es die Zeit, als Punk noch Punk oder Rock ’n’ Roll noch Rock ’n’ Roll war. Aber mit dem romantisierten Bild der guten Rebellion gegen das böse System war es noch nie weit her. Rebellentum hat immer auch ein mindestens latent konformistisches Element. Bekanntlich spielt der Typus des konformis­tischen Rebellen eine wichtige Rolle in der Sozialpsychologie des historischen Faschismus. In der deutschen Geschichte gewinnt dieser Typus spätestens in der Burschenschaftsbewegung des frühen 19. Jahrhunderts an Bedeutung – wenn man nicht gleich Früh- oder Vorformen bis zur Reformation zurückverfolgen will.

Auch über eine »zunehmende Rigidität im vermeintlich progressiven Milieu« (Cube) wurde schon in den Siebzigern geklagt, als Teile der Linken sich dem militanten Kampf im Untergrund zuwandten – oder in Paris 1793. Man kann verschiedene historische Episoden nicht in eins setzen, jede bedarf ihrer eigenen Betrachtung; doch zeigt sich, dass es mit Rebellion und Rigidität, Hedonismus und Lockerheit, Nonkonformismus und Provokation schon immer kompliziert war. Ein erster nötiger Schritt ist es, klar zwischen Rebellentum und Nonkonformismus zu unterscheiden. Charakteristisch für Letzteren ist weniger Provokation – zu der der ­Rebell neigt – als vielmehr die Verweigerung. Es geht darum, nicht ­mitzumachen.

Die Zuschreibungen und Normen, die gesellschaftliche Rollenbilder ausmachen und an Gruppenzugehörigkeiten geknüpft werden – und zwar an privilegierte ebenso wie unterprivilegierte –, weist der Nonkonformismus zurück. Sozialer Status gilt ihm wenig, weil er nicht nur die spezifische Gesellschaft, die ihn verleiht, nicht anerkennt, sondern es ihm von vornherein als verächtlich erscheint, sich danach zu richten, »was die Leute denken«. Daraus ergibt sich eine enge Verbindung zwischen Nonkonformismus und Kritik: Wer Ausschluss und Missachtung fürchtet, kann die Gesellschaft oder das ei­gene Umfeld, und vor allem auch sich selbst, nicht radikal kritisieren.

Wie Cube Kliemann zu viel der Ehre erweist, wenn er ihm einen Appell an nonkonformistische Werte zuschreibt, so wird er auch den »Woken« nicht ganz gerecht, wenn er feststellt, dass sie »mit ihren guten Absichten (…) nicht vor Selbstverliebtheit, Intoleranz und Gruppendynamik gefeit« seien. Intoleranz und Gruppendynamik gehören nämlich gar nicht zu den Dingen, von denen die »Woken« sich betont distanzieren. Was Toleranz angeht, hat sich herumgesprochen, dass diese kein absoluter Wert ist, schon allein weil sie es erfordert, intolerantes Verhalten nicht zu tolerieren.

Die »Woken«, soweit man überhaupt verallgemeinernd von einer solchen Gruppe sprechen kann, sehen ihren Stolz nicht in besonders ausgeprägter Toleranz, sondern in besonderer Sensibilität für die Grenzen, die der Toleranz zu setzen sind, damit benachteiligte Gruppen nicht unter die Räder kommen. Dafür sind sie auch gar nicht zu kritisieren, sondern eher für eine fragwürdige Vorstellung von gesellschaftlichen Machtstrukturen und für die dogmatische Neigung, auf Grundlage von Szenekonsens zu entscheiden, wo die allgemeinverbindlichen Grenzen der Toleranz zu verlaufen hätten.

Was zur Gruppendynamik führt, gegen die die »Woken« nie gefeit zu sein glaubten, weil ihnen der nonkonformistische Impuls, Gruppendynamik als problematisch zu erachten, mindestens fremd, wenn nicht zutiefst verdächtig ist als individualistisch und somit als Ausdruck einer Subjektform, die sie für eine spezifisch männliche, weiße und westliche halten. Im Gegensatz dazu verleihen Konzepte wie das des Safe Space, der für die von Privilegien Ausgeschlos­senen zu generieren sei, der Gruppendynamik eine zentrale Bedeutung. Konformitätsdruck wird ausgiebig, und nicht einmal nur unbewusst, eingesetzt, um als diskriminierend bewertetes Verhalten zu unterbinden; und der Shitstorm, der für die »Woken« gewissermaßen das ist, was der Streik für die Arbeiterbewegung war, nämlich das primäre Kampfmittel – der Shitstorm ist nichts anderes als entfesselte Gruppendynamik im digitalen Zeitalter.

Auch das ist gar nicht in Bausch und Bogen zu verwerfen, denn Gruppendynamik ist nicht an sich gut oder schlecht, sondern gehört zum menschlichen Zusammenleben; die Frage kann nur lauten, wie man mit ihr umgeht. Ein unkritisches Verhältnis zur Gruppendynamik kann man immerhin ehrlicher finden als den Pseudoindividualismus vieler früherer Jugendbewegungen, der am Ende auch immer darauf hinauslief, dass alle die gleichen szenetypischen Frisuren und Klamotten trugen.

Kritik an einem unterkomplexen, einseitig individualistischen Verständnis von Freiheit und Toleranz ist zweifellos wichtig; nur sollte sie nicht dazu herhalten, ein ebenso unterkomplexes, einseitig auf Gruppenzugehörigkeiten fokussiertes Verständnis von Machtstrukturen zu verteidigen, in dem Subjekte tendenziell auf ihre sogenannten Identitäten oder Intersektionen reduziert werden. Eine Ideologie, in der Ausschluss und Diskriminierung nicht mehr als individuelle Erfahrungen vorkommen, sondern immer an den Status als Mitglied dieser oder jener Gruppe geknüpft sind, muss Gewalt und Machtstrukturen verkennen und verewigen, unter denen in letzter Instanz eben nicht Kollektive leiden, sondern einzelne Menschen. Deshalb – und nicht etwa um das Marketinginstrument des Rebellentums nicht den Rechten zu überlassen – sollte eine Linke, die nicht ins Autoritäre kippen will, sich auf nonkonformistische Werte besinnen.