In Ungarn protestieren Selbständige gegen eine Steuerreform der Regierung Orbán

Rider gegen Orbán

In Ungarn protestieren Selbständige gegen eine Steuerreform der ­nationalkonservativen Regierung. Die geplante Steuererhöhung trifft ungefähr jeden zehnten Haushalt.

Seit Beginn der Covid-19-Pandemie machen Streiks von Fahrerinnen und Fahrern von Lieferdiensten wie Gorillas und anderen Unternehmen immer wieder Furore, insbesondere in Berlin. Die Streikenden fordern dabei meist bessere Arbeitsbedingungen, eine höhere Bezahlung und besseren Arbeitsschutz – ein klassischer Arbeitskampf zwischen Kapital und Arbeit. Nun protestieren solche sogenannten Rider auch in Budapest. Seit dem 12. Juli blockieren sie immer wieder Brücken und Straßen in der ungarischen Hauptstadt. Die Konfliktursachen sind allerdings andere. Die ungarischen Rider, die meist für große Lieferdienste wie Wolt und Foodpanda arbeiten, aber als Selbständige gelten, gehen gegen eine Steuerreform der nationalkonservativen Regierung unter Ministerpräsident Viktor Orbán (Fidesz) auf die Straße. Auch Selbständige anderer Branchen haben sich den Protesten angeschlossen.

Am 12. Juli brachte die Fidesz-Regierung die Reform zur Abstimmung ein und nutzte ihre Zweidrittelmehrheit im Parlament, um sie im Eilverfahren einen Tag später zu verabschieden. Es geht um die weitgehende Einschränkung eine Sondersteuerregelung für kleine Selbständige, die Pauschalsteuer für geringfügig zu besteuernde Unternehmer (Kata), die einst von einer ­Fidesz-Regierung 2013 eingeführt wurde. Die Regelung sorgte bisher dafür, dass Einkünfte aus selbständiger Arbeit von umgerechnet bis zu 29 400 Euro im Jahr nur mit sehr geringen gestaffelten Pauschalsätzen von umgerechnet 60 bis 120 Euro im Monat besteuert wurden. Das galt, solange man keine Angestellten beschäftigte.

Die Gesetzesänderung sieht nun vor, dass man Kata nur noch nutzen kann, wenn man ausschließlich für Privatpersonen Rechnungen ausstellt, Taxifahrer werden hingegen grundsätzlich nach der Kata-Regelung veranlagt. Neben ihnen können wohl nur noch Friseure und einige andere Berufszweige die günstige Steuerregelung in Anspruch nehmen, für die meisten Selbständigen dürfte dies kaum mehr möglich sein. Auch Anbieter eher intellektueller Dienstleistungen wie Übersetzen und Texten oder Sprachlehrkräfte können nicht auf Geschäftskunden verzichten und müssen entweder ihre Arbeit aufgeben oder sich höher besteuern lassen. Gelten soll die Reform ab 1. September, die zulässige Obergrenze der Jahreseinnahmen wird auf 18 Millionen Forint (umgerechnet rund 45 000 Euro) angehoben. Klassische abhängig Beschäftigte zahlen eine sogenannte flat tax von 15 Prozent des Bruttoeinkommens.

Man könnte daher meinen, dass es hier um die Sonderinteressen eines Kleinbürgertums geht, wenn auch eines nicht gerade gut betuchten. Doch so einfach ist es nicht. Viele Ungarinnen und Ungarn sind sowohl Arbeitnehmer als auch Selbständige. Denn nach ihrem Achtstundentag oder am Wochenende bessern sie ihr Einkommen als kleine Dienstleister auf. Andere arbeiten in der Rente weiter oder um sich ihr Studium zu finanzieren. So haben bisher circa 460 000 Ungarinnen und Ungarn über die Kata-Regelung abgerechnet, was ungefähr jeden zehnten ungarischen Haushalt betrifft.

Die offizielle Begründung der Regierung, dass Firmen die Regel ausnutzen würden, um Steuern zu sparen, ist sicher nicht falsch, wie man ausgerechnet an den Fahrradkurieren sieht, die die Proteste tragen und ihre Scheinselbständigkeit verteidigen. Die Begründung der Regierung scheint dennoch vorgeschoben. Zum einen hat die regierungsnahe Zeitung Magyar Nemzet vorgerechnet, dass dem Staatshaushalt keine Millionen oder Milliarden, sondern umgerechnet nur etwa 500 000 Euro Steuereinnahmen durch die missbräuchliche Inanspruchnahme der Kata-Steuer verloren gehen. Zum anderen ist es offensichtlich, dass der ungarische Staatshaushalt in der Krise steckt, für die jetzt die kleinen Selbständigen zahlen sollen. Diese Krise hat mehrere Ursachen: Zu den steigenden Rohstoffpreisen und der hohen Inflation kommen hausgemachte Probleme. Schon seit 2013 subventioniert Fidesz den Energieverbrauch von Privathaushalten in Ungarn und sorgt für Preise unter dem Marktniveau. Das ist zwar Fidesz’ soziales Aushängeschild und kommt armen wie reichen Haushalten zugute. Doch die steigenden Preise für Erdöl und Gas reißen somit ein immer größeres Loch in den Staatshaushalt, weswegen die Regierung auch hier Sparmaßnahmen verkündet hat und die Energiepreise nur noch minimal subventionieren will.

Zu guter Letzt schwelt der Streit mit der EU. Die EU-Kommission hat den ­sogenannten Rechtsstaatsmechanismus gegen Ungarn ausgelöst, durch den die Kürzung von EU-Mitteln droht. Ein von EU-Parlamentariern in Auftrag ­gegebenes Rechtsgutachten, das Anfang Juli veröffentlicht wurde, zieht das ­Fazit, Korruption und Missbrauch von EU-Geldern in Ungarn rechtfertigten das Einfrieren aller EU-Fördermittel an Ungarn. Solange der Streit mit der EU nicht beigelegt ist, meiden ausländische Anleger Ungarn und der Kurs des Forint sinkt weiterhin, wodurch die Preise in Ungarn weiter steigen. Ungarische Medien berichten, dass beispielsweise die Preise für Lebensmittel seit Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine im EU-Vergleich nur in Litauen so stark gestiegen seien wie in Ungarn.

Ob sich den derzeitigen Demonstra­tionen mit einigen Tausend Menschen noch mehr Teilnehmer anschließen oder ob Orbán möglicherweise bei den Kommunal- und Europawahlen 2024 die Rechnung präsentiert bekommt, ist noch ungewiss. Schließlich geht sein Regime zum ersten Mal in zwölf Jahren Einsparungen an und das, obwohl Orbán dies vor der Wahl im Frühjahr auf häufige Nachfragen hin immer wieder ausgeschlossen hatte. Unter der Regierung seines bis heute bei vielen Ungarinnen und Ungarn unbeliebten sozialistischen Vorgängers Ferenc ­Gyurcsány hatte unter anderem die Sparpolitik 2006 zu Massenprotesten geführt.