Die Wirtschaft fordert die Priorisierung der Industrie bei der Gasverteilung

Verteilungskampf von oben

Unternehmerverbände und Energieversorger fordern, Betriebe im Fall von Gasknappheit zuungunsten von Privathaushalten bei der Versorgung zu priorisieren. Das verstieße gegen die entsprechende EU-Verordnung.

Zehn Tage floss aufgrund von Wartungsarbeiten kein Gas durch die Pipeline Nord Stream 1 nach Deutschland. Bereits seit Mitte Juni hatte Gazprom die Liefermenge dann um mehr als die Hälfte reduziert, angeblich wegen ­einer in Kanada gewarteten, von Sanktionen betroffenen Gasturbine. Das treibt die Preise in die Höhe und erschwert es, vor dem kommenden Winter die Gasspeicher zu füllen. Für diese Woche hat Russland die Reduktion der Gaslieferungen über Nord Stream 1 von den bisherigen 40 Prozent Auslastung auf 20 Prozent angekündigt und begründet dies erneut mit einer Turbine, die repariert werden müsse. Auch über andere Pipelines, über Belarus, die Ukraine oder die Slowakei fließt weniger Gas in die EU. Engpässe in der kalten Jahreszeit werden so immer wahrscheinlicher. Bereits die kurze Unterbrechung der Gasversorgung lieferte ­einen Vorgeschmack auf die anstehenden Verteilungskämpfe um Energie und Wärme.

Der Notfallplan der Bundesregierung, der auf der sogenannten SoS-Verordnung der EU von 2017 basiert, legt fest, dass neben elementarer Infrastruktur, wie etwa Krankenhäusern, auch private Haushalte als »geschützte Kunden« gelten. Diesen darf deshalb erst dann das Gas abgestellt werden, wenn alle anderen Kunden bereits nicht mehr bedient werden. Zum Beispiel Industrieverbraucher. Politiker und Wirtschaftsvertreter stellen diese Priorisierung immer offener in Frage.

Jeder dritte Haushalt in Deutschland hat keine Rücklagen, um die Mehrausgaben des Lebensmittel­einkaufs oder der gestiegenen Energiepreise auszugleichen.

So fordert Christian Kullmann, der Präsident des Verbands der Chemischen Industrie (VCI), dass im Gegenteil zuerst Privathaushalte auf Gas verzichten sollen. Die Sicherung von Arbeitsplätzen und damit der Einkommen »steht für die Gesellschaft höher als die vollständige Sicherstellung der privaten Gasversorgung«, äußerte Kullmann vergangene Woche in der Süddeutschen Zeitung. Auch der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) verlangt, die Versorgung mit Erdgas neu zu priorisieren. »Für die harte neue Energie-Realität muss die Politik in Berlin und Brüssel eine neue Regelung schaffen«, so BDI-Präsident Siegfried Russwurm.

Stefan Wolf, der Vorsitzende des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall, plant bereits voraus. Sollten die anderen EU-Regierungen Skrupel haben, ihren Staatsbürgern die Heizung abzudrehen, müsse die Führungsmacht des Staatenverbunds eben kreativ mit EU-Recht umgehen: »Wir brauchen jetzt eine Güterabwägung und dürfen nicht sklavisch einem Gesetz folgen, das entstanden ist, als niemand daran dachte, Russland könnte uns einmal den Gashahn zudrehen«, so Wolf bereits Anfang April im Interview mit der Augsburger Allgemeinen.

Beim Modell »Frieren für die Wirtschaft« hat Wolf selbstverständlich nur das Allgemeinwohl und das Beste für die arbeitende Klasse im Sinn. »Niemandem wäre damit gedient, wenn die Menschen bei 24 Grad zu Hause in der Wohnung sitzen, aber die Unternehmen, in denen sie arbeiten, zusammenbrechen«, so Wolf. »Mir wäre es lieber, ich sitze ein paar Monate bei 18 Grad zu Hause und ziehe zwei Pullover an, behalte aber meinen Arbeitsplatz, weil die Industrie vorrangig mit Gas bedacht wird«, verkündet der Präsident von Gesamtmetall, der im selben Interview die Beschäftigten, die ihm so am Herzen liegen, zur Lohnzurückhaltung auffordert.

Die Energieversorger würden den Wünschen der Industrie liebend gerne nachkommen. So wirbt auch der Eon-Aufsichtsratsvorsitzende Karl-Ludwig Kley dafür, die Priorisierung umzukehren und Industriebetriebe zuerst zu versorgen. »Wobei natürlich lebensnotwendige Infrastruktur wie Krankenhäuser weiterhin davon auszunehmen sind«, fügt Kley in einem Anflug von Humanität hinzu.

Das sind klare Arbeitsanweisungen der Kapitalvertreter an Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne). Die europäische Notfallverordnung müsse überdacht werden. Entworfen worden sei sie ihrerzeit für kurzfristige und regionale Probleme, zum Beispiel wenn ein Kraftwerk ausfällt. »Das ist aber nicht das Szenario, das wir jetzt im Moment haben«, so Habeck bei einem Besuch in Wien. »Wir reden hier möglicherweise von einer monatelangen Unterbrechung von Gasströmen.« Daher müsse die Priorisierung von Privathaushalten überdacht werden. Nicht zuletzt die Eilfertigkeit, mit der Habeck sich der Wünsche des Kapitals annimmt, dürfte verantwortlich sein für das überschwängliche Lob, das dessen Funktionäre dem Wirtschaftsminister angedeihen lassen. »Der Realismus von Herrn Habeck ist wohltuend, auch weil er den Abschied von manchen, auch grünen Illusionen bedeutet«, schwärmt etwa Wolf schon vor Habecks Reise nach Wien.

Auch Rainer Dulger, der Präsident des Bundesverbands Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA), weiß zu schätzen, dass der Wirtschaftsminister tut, was man ihm sagt: »Habeck macht es genau richtig: Er redet nicht nur klug daher oder erklärt uns die Welt, sondern er hört zu. Und er stimmt sich unablässig ab, in Runden mit Energieerzeugern, großen Verbrauchern und anderen relevanten Akteuren – und macht dann das, was notwendig ist, Schritt für Schritt.« Selbst die Chemiebranche – einst von den Grünen erbittert angefeindet– ist voll des Lobes. Christian Kullmann, seines Zeichens Präsident des Verbandes der Chemischen In­dustrie, ist von Habecks zupackender Art »beeindruckt«. Dieser sei »kein Schwadroneur und Ankündigungsweltmeister«.

Mit der zu erwartenden Besserstellung der Industriebetriebe bei der Gasversorgung würde die Ampelkoalition ihrem bisherigen Kurs treu bleiben, die Krisenfolgen auf die Lohnabhängigen abzuwälzen. Dabei sind Menschen mit geringerem Einkommen bereits von der Inflation besonders stark betroffen. Die Preissteigerung belastet arme Haushalte seht viel stärker als solche mit höherem Einkommen. Aus einer Studie des Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung geht hervor, dass die 20 Prozent der Menschen mit den geringsten Einkommen fast 70 Prozent für Dinge der Grundversorgung wie Lebensmittel, Energie und Mobi­lität ausgeben müssen, also Bereiche, in denen die Preise in den vergangenen Monaten überproportional anstiegen. Jeder dritte Haushalt in Deutschland hat zudem keine Rücklagen, um die Mehrausgaben beispielsweise des Lebensmitteleinkaufs oder der gestiegenen Energiepreise auszugleichen; für sie kann die Situation schnell existenzbedrohend werden.

Trotzdem wird der Verteilungskonflikt derzeit vor allem »von oben« geführt, wie die Diskussion über den Zugang zu den knapper werdenden Gasressourcen zeigt. Doch es geht auch anders. So kam es in Spanien bereits im Frühjahr zu heftigen Protesten gegen die anhaltenden Preissteigerungen. Die Regierung bemühte sich daraufhin die Krisenkosten sozial zu begrenzen. Ebenso wie Portugal verhängte die spanische Regierung eine Preisobergrenze für Gas. Zudem wurde eine Übergewinnsteuer verabschiedet. Durch die Sonderbesteuerung der »Krisengewinne« von Banken und Energiekonzernen will die spanische Regierung in den kommenden zwei Jahren sieben Milliarden Euro zusätzlich einnehmen, die ausschließlich für Sozialausgaben verwenden werden sollen.