Uta von Arnim dokumentiert, wie die Nazis Juden in Riga für Impfforschung missbrauchten

Bildnis eines Arztes

Vom Internisten mit eigener Praxis in bester Stadtlage in Riga zum Funktionär der Impfforschung im Dienst der NS-Rassenhygiene: Uta von Arnim zeichnet in ihrem Buch »Das Institut in Riga« die Karriere des einflussreichen deutschbaltischen Arztes Herbert Bernsdorff nach, der nach dem Krieg als Nazigegner durchging.

Herbert Bernsdorff ist Leiter der Abteilung »Gesundheit und Volkspflege« der deutschen Verwaltung in Riga, als sich in den Wintermonaten 1941 in den Flüchtlingslagern im ­besetzten Polen das Fleckfieber auszubreiten beginnt. Gefürchtet ist die Infektion, weil die Seuche Soldaten und Arbeitskräfte in großer Zahl ­dahinrafft und somit im Krieg über Sieg und Niederlage entscheiden kann. Bernsdorff erkennt die Relevanz, die die Seuchenbekämpfung im sogenannten Ostland für das nationalsozialistische Hygienesystem hat, und zieht die ebenso prestigeträchtige wie rassenideologisch aufgeladene Aufgabe an sich.

Im Seruminstitut Kleistenhof und ab 1943 im Institut für medizinische Zoologie Riga-Kleistenhof betreibt der deutschbaltische Arzt auf dem idyllisch gelegenen Gutshof seiner Ehefrau eine Forschungseinrichtung, die an der Entwicklung und Herstellung von Fleckfieberimpfstoff arbeitet und perfide Versuche an jüdischen Häftlingen aus dem Rigaer Ghetto durchführt. Dazu werden den Männern sogenannte Läusekäfige auf die Arme geschnallt, durch deren Gazeboden die Tiere hindurchstechen. Auf diese Weise sollen die vom Labor gezüchteten Läuse genährt und infektiöses Blut gewonnen werden.

Das durch die Bisse von Läusen übertragene tödliche Fleckfieber breitet sich typischerweise aus, wenn Menschen sich nicht waschen und ihre Kleidung wechseln können. Schon im Ersten Weltkrieg tritt die Krankheit unter Soldaten auf, und die Fleckfieberforschung setzt ein. Im Zweiten Weltkrieg werden die »Entlausung« und »Entwesung« sowie die Serumentwicklung von ­deutschen Wissenschaftlern forciert, und erst durch sie nimmt die Fleckfieberforschung und -bekämpfung ihren rassenhygienischen, antisemitischen und letztlich eliminatorischen Charakter an. Der »Jude als Weltparasit« wurde ein zentrales Motiv der antisemitischen Propaganda.

Im Zweiten Weltkrieg werden die »Ent­lau­sung« und »Entwesung« sowie die Serum­ent­wicklung von deutschen Wissen­schaftlern forciert, und erst durch sie nimmt die Fleck­fieberforschung und -bekämpfung ihren rassen­hygie­ni­schen, anti­semitischen und letztlich elimina­to­ri­schen Charakter an.

Nach mehrjährigen Recherchen in Archiven und der eigenen Familienchronik hat die Berliner Ärztin und Journalistin Uta von Arnim das lesenswerte Buch »Das Institut in Riga. Die Geschichte eines NS-Arztes und seiner ›Forschung‹« geschrieben. Dar­in untersucht sie die Rolle Bernsdorffs in dem sowohl von Konkurrenz und Wettbewerb als auch von Männerbündigkeit geprägten Apparat der NS-Fleckfieberforschung. Von Arnim ist Bernsdorffs Enkelin. Der Großvater starb, als sie vier ­Jahre alt war. Jahrzehnte später bekam das Andenken an den Groß­vater, der als Allgemeinmediziner in der Nähe von Osnabrück praktiziert hatte, Risse und die Ärztin begann nachzuforschen. Von Arnim konzentriert sich im Buch auf die Karriere Bernsdorffs im »Machtzentrum des Reichskommissariats Ostland«. Sie beschreibt mit großer dokumentarischer Klarheit, wie die Forschungseinrichtung unter seiner Leitung zu einer bedeutenden Institution der Fleckfieberforschung wurde. Aus dem zusammengetragenen Material entsteht das Bild eines unheimlichen Arztes, der in der Bürokratie der ­Rassen- und Erbhygiene zielstrebig seinen Dienst tut.

Subjektiv und empathisch berichtet sie über die geglückte Flucht der als »Läusefütterer« eingesetzten jüdischen Häftlinge aus dem Institut. Eingestreute Kindheitserinnerungen an den Großvater lassen deutlich werden, dass keine Historikerin über den NS-Arzt schreibt, sondern die Enkeltochter, die damit sowohl der überlieferten Familienerzählung widerspricht als auch der von der westdeutschen Nachkriegsbürokratie beglaubigten Darstellung Bernsdorffs, wonach er als Nazigegner und Judenschützer zu gelten habe.

Bernsdorffs Weltanschauung entstand in der christlich geprägten Baltischen Brüderschaft, die aus der »Organisation X« hervorgegangen war. Der Geheimbund gründete sich als Organisation des Widerstands ­gegen den Friedensschluss der baltischen Länder mit der Sowjetunion 1920 und hatte sich dem Kampf ­gegen einen drohenden Weltkommunismus und für die Rückgabe der enteigneten deutschen Rittergüter verschrieben. Für drei Monate im Sommer 1923 hatte Bernsdorff die Leitung der völkisch ausgerichteten Brüderschaft inne, bevor sein Freund, der »Führer«-Porträtist und antisemitische Karikaturist Otto von Kursell, das Amt übernahm. Auch der aus Reval (Tallinn) stammende Al­fred Rosenberg, der später als Hitlers Chefideologe galt, verkehrte im Kreis der baltischen Brüder. Auf die damals geknüpften Kontakte konnte Bernsdorff bei seinen späteren Tätigkeiten zählen.

Bernsdorff, 1892 im zum russischen Kaiserreich gehörenden Riga geboren, zählte zur deutschbaltischen Minderheit. Stationen seiner Vita: Studium der Medizin an der Universität in Dorpat nahe Riga, Teilnahme am Ersten Weltkrieg, verschiedene Tätigkeiten in medizinischen Einrichtungen in Lettland, ein dreijähriger Aufenthalt im Deutschen Reich, 1924 Rückkehr nach Riga und Eröffnung der Praxis für Innere Medizin in bester Stadtlage. Weiterhin engagierte Bernsdorff sich in der Brüderschaft für die Stärkung des Deutschtums. Der lettische Geheimdienst erkannte darin Pläne für einen Staatsstreich und verurteilte den Arzt 1935 zu einer fünfmo­natigen Gefängnisstrafe. Auf Schulungen in Dresden und der Führerschule der Deutschen Ärzteschaft in Alt Rehse erhielt der Mediziner ­seinen letzten ideologischen Schliff.

In der im Zusatzprotokoll des Deutsch-Sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrags (»Hitler-Stalin-Pakt«) vereinbarten Umsiedlung der als »rassisch wertvoll« geltenden Deutschbalten in das nun neue Reichsgebiet im besetzten Polen fand Bernsdorff 1939 eine neue Aufgabe. Von Swinemünde aus wachte er als Beauftragter des Reichsärzteführers für die Alten, Kranken und Siechen über deren Transport und Unterbringung. »Heute habe ich wieder elf Geisteskranke nach Obrawalde bei Meseritz abgeschoben«, vermerkte er; Obrawalde war ein Lager zur planmäßigen Tötung von Kranken. »Außerdem lege ich keinen Wert auf die Behandlung kranker Menschen.«

Als sich die völkischen Träume der Brüderschaft mit der deutschen Besetzung Lettlands im Juli 1941 zu erfüllen scheinen, kehrte Bernsdorff abermals nach Riga zurück. Mit dem Ausbruch des Fleckfiebers in den Umsiedlerlagern begann ein neuer Abschnitt seiner Karriere. Bernsdorff wachte über »Entlausunganlagen«, »Entseuchungszüge« und die »ordnungsgemäße Durchführung der Durchgasung«. Er befehligt den Transport von Menschenmassen, Chemikalien und Gerätschaften und zog in großem Stil die Fleckfieberimpfforschung auf. Im Schriftverkehr des Arztes versteckt sich im verquasten Behördendeutsch das Grauenhafte seiner Tätigkeiten. Dabei stellt sich auch konkret die ­Frage nach den Übergängen von der »Entlausung« der Menschen, ihrer Kleidung und Gepäckstücke und ihrer Vernichtung in den »Entlausungsanstalten«. Die Recherche kommt hier an eine Grenze; Zeugenaussagen und Aktenvermerke lassen aber den Schluss zu, dass – wie es die Forschung zum NS für andere Fällen dokumentiert – die Seuchenbekämpfung auch als Vorwand für Mord diente. Das genaue Ausmaß lässt sich aber nicht beziffern.

Nichts ist über Impftests an Menschen auf dem Gelände des Kleistenhofs bekannt; was möglicherweise auch daran liegt, dass der langjährige lettische Leiter des Instituts solche Tests sabotierte. Die Menschenversuche mit den »Riga 1« und »Riga 2« genannten Impfstoffen an sogenannten »Passagepersonen« aber fanden statt, in den Konzentrationslagern Buchenwald und Kai­serwald.

Eine beklemmende Facette erhält die Geschichte des Arztes zusätzlich durch die literarische Zeugenschaft eines jüdischen Häftlings. Ausgerechnet der ehemalige »Läusefütterer« Percy Gurwitz beschreibt Bernsdorff in seinem Roman »Zähl nicht nur, was bitter war. Eine bal­tische Chronik von Juden und Deutschen« (1991) als guten Deutschen und Judenretter. Von Arnim schildert die unfassbare Biographie des Überlebenden, deckt Widersprüche, Lücken, Ausschmückungen und Dementis seiner teilweise unter sowjetischer Folter erzwungenen Aussagen auf. Mit der beeindruckenden Recherche zeigt die Berliner Ärztin einmal mehr, dass die Geschichte der NS-Vernichtungspolitik keineswegs aus­recherchiert ist.

 

Uta von Arnim: Das Institut in Riga. Die Geschichte eines NS-Arztes und seiner »Forschung«. Nagel und Kimche, Göttingen 2021, 240 Seiten, 22 Euro