Im Dauerwahlmodus
Die Zeichen stehen nicht auf Veränderung in Bulgarien. Bei der Wahl zur Narodno Sabranie (Nationalversammlung), dem Einkammerparlament des Landes, am 2. Oktober hat die konservativ-bürgerliche Oppositionspartei »Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens« (GERB) mit knapp 25 Prozent die meisten Stimmen erhalten. Um regieren zu können, muss GERB unbedingt Koalitionspartner finden – womit die Partei des wegen Korruptionsvorwürfen umstrittenen langjährigen Ministerpräsidenten Bojko Borissow allerdings Probleme hat. Im EU-Parlament gehört die GERB zur Europäischen Volkspartei (EVP), in Bulgarien ist sie aber seit der Wahl im April 2021 und dem Rücktritt Borissows politisch isoliert.
Sieben Parteien erhielten bei den Wahlen vier Prozent oder mehr der abgegebenen Stimmen und ziehen somit in das neue Parlament mit seinen 240 Sitzen ein. Die zuletzt regierende liberale Partei des ehemaligen Ministerpräsidenten Kiril Petkow »Wir setzen den Wandel fort« (PP) hat an Stimmen verloren und wurde mit knapp 20 Prozent zweitstärkste Kraft. Auf Platz drei wurde mit 13 Prozent die »Bewegung für Rechte und Freiheiten« (DPS) gewählt, eine Partei, die den Ruf hat, zwar die türkische Minderheit zu repräsentieren, aber auch mit Oligarchen gemeinsame Sache zu machen.
Der Bulgarischen Sozialistischen Partei (BSP), ein ehemaliger Koalitionspartner der PP, droht der Abstieg zur Kleinstpartei. Zu den Verlierern der Wahl gehört auch die populistische »Es gibt ein solches Volk« (ITN), die sich aufgrund von Meinungsverschiedenheiten aus der letzten Koalition zurückgezogen, was den Sturz der Regierung Petkow einleitete. Die vom Musiker Stanislaw Todorow »Slawi« Trifonow geführte ITN hatte die Parlamentswahlen im Juli 2021 noch gewonnen, dieses Mal konnte sie die Vierprozenthürde nicht überwinden und steht kurz davor, in der politischen Versenkung zu verschwinden.
Die vom früheren Interimspräsidenten Stefan Janew gegründete rechtspopulistische Partei »Bulgarischer Aufstieg« (BW) schaffte es mit etwa 4,5 Prozent ins Parlament. Janew war als Verteidigungsminister aus der Regierung Petkow entlassen worden, weil er den russischen Überfall auf die Ukraine nicht als Krieg bezeichnen wollte. Auch die ultrarechte und prorussische Partei »Wiedergeburt« schaffte es mit knapp zehn Prozent wieder ins Parlament und konnte sogar einen leichten Stimmenzuwachs verzeichnen. Ihr Vorsitzender Kostadin Kostadinow hetzt regelmäßig gegen Minderheiten und die Presse.
Die politische Krise scheint nach der vierten Wahl in eineinhalb Jahren und einer Wahlbeteiligung von nur 39,4 Prozent nicht vorbei zu sein. In den vergangenen zwei Jahren hat keine Regierung länger als ein paar Monate durchgehalten. Das Parteiensystem in dem 6,5 Millionen Einwohner zählenden Land ist zersplittert, zwischen den Parteien herrscht Misstrauen. Borissow war bereits dreimal Ministerpräsident, nach der Wahl im April 2021 gelang es ihm jedoch nicht, eine Regierung zu bilden. Auch diesmal dürfte ihr das nach Auffassung von Beobachtern schwerfallen.
Offen ist, ob Borissow mit »Wiedergeburt« koalieren würde (was allerdings nicht für eine Regierungsmehrheit genügt), die sich unter anderem für die Souveränität Bulgariens mit eigenständiger Währung, einem Austritt aus EU und der Nato einsetzt. GERB ist nicht für eine ungebrochen proeuropäische Politik bekannt, auch wenn sie sich oft so verkauft. So hatte sich die Partei für ein Misstrauensvotum und damit die Absetzung der vorherigen proeuropäischen Regierung unter Petkow eingesetzt. Das Misstrauensvotum war im vergangenen Juni mit den Stimmen von »Wiedergeburt« und DPS erfolgreich. In Borissows Regierungszeit legte das Land ein Veto gegen die Aufnahme Nordmazedoniens in die EU ein, die PP wiederum forderte dessen Aufhebung.
Der GERB-Vorsitzende Borissow ließ verlauten, dass er zu Kompromissen bereit sei. Bisher gaben sich die Pro-EU-Kräfte PP und Demokratisches Bulgarien aber nicht gesprächsbereit. Bis eine neue Regierung gebildet wird, führt der russlandfreundliche Präsident Rumen Radew eine Interimsregierung. Auch nochmalige Neuwahlen sind nicht unrealistisch.
Die politische Schwäche Bulgariens, in dem ein nicht unbeträchtlicher Bevölkerungsanteil prorussisch eingestellt ist, sieht Russlands Führung gerne. Zudem gibt es nach der Explosion am 8. Oktober auf der strategisch wichtigen Brücke über die Straße von Kertsch, die die Krim mit dem russischen Festland verbindet, Anschuldigungen aus Russland. Der Geheimdienst FSB behauptet, dass der mutmaßlich an der Explosion beteiligte LKW aus Bulgarien gekommen sei. Auch wenn diese Behauptung fragwürdig ist, kann Russland damit versuchen, Druck auf das Nato-Land auszuüben.
Bulgarien nimmt ukrainische Geflüchtete auf und leistet humanitäre Hilfe. Präsident Radew hatte sich aber gegen die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine ausgesprochen. Ihm zufolge droht die Gefahr, dass Bulgarien in einen Krieg hineingezogen wird. Die Beziehungen zwischen dem ehemaligen Satellitenstaat der UdSSR und Russland waren im vergangenen halben Jahr von Spannungen geprägt. Die Einladung der russischen Botschafterin Eleonora Mitrofanowa zur geplanten Eröffnungssitzung der bulgarischen Nationalversammlung am 19. Oktober hat bei vielen neugewählten Abgeordneten für Aufruhr gesorgt. Berichten zufolge haben russische Hacker kürzlich in eine größer angelegte Attacke die Websites der Regierung, des Präsidenten, wichtiger Ministerien sowie des Verfassungsgerichts verübt.
Im Gespräch mit der Jungle World hebt Ruslan Trad vom Digital Forensic Research Lab (DFR Lab) des Atlantic Council, Verfasser zahlreicher Artikel zur russischen Außenpolitik, hervor, dass in Bulgarien Nato-Truppen stationiert sind und der Fokus Russlands auch auf dem Schwarzen Meer liegt, an das Bulgarien angrenzt. Bulgarien treffe politische Entscheidungen oder vertrete Positionen, die laut russischen Kanälen gegen Russland gerichtet sind. »Der Angriff der Hackergruppe erfolgte vor dem Hintergrund von Anschuldigungen gegen Bulgarien, dessen Regierung sei an der Explosion der Kertsch-Brücke beteiligt gewesen und habe neue Waffen an die Ukraine geliefert.«