Die globale Arbeitsökonomie und die WM in Katar

Auf Sand gebaut

In den Golfstaaten arbeiten Millionen von Wanderarbeiter:innen, allerdings nicht im Hauptgeschäft mit Öl oder Gas. Sie schuften für die sinnlosen Prestigebauten der futuristischen Wüstenstädte.

Die Liste der Skandale bei der Ausrichtung der Fifa-Fußballweltmeisterschaft der Männer im islamischen Wüstenstaat Katar ist lang: Das Emirat ist bekannt für diverse Menschenrechtsverletzungen, der Bericht »Freedom in the World 2021« der US-amerikanischen NGO Freedom House bewertet das Land mit nur 25 von 100 Punkten als »nicht frei«. Homosexualität steht ­unter Strafe, das auf der Sharia beruhende Gesetzbuch in Katar sieht dafür sieben Jahre Haft vor. Homosexuellen Muslimen droht sogar die Todesstrafe, auch wenn sie hierfür noch nie vollstreckt wurde. Gütigerweise hat ­Katar aber angekündigt, dass Regenbogenflaggen während der WM erlaubt sein werden.

Neben den Korruptionsvorwürfen, die sich um die Vergabe der WM an Katar ranken, ist auch die Situation der Wanderarbeiter:innen, die dort am Bau der Infrastruktur für die WM beteiligt sind, ein vieldiskutiertes Thema. Eine Dokumentation über die menschen­unwürdigen Arbeits- und Unterbringungsbedingungen folgt auf die nächste und alle halbe Jahre muss bilanziert werden, dass sich daran trotz anderslautender Versprechungen nichts gebessert hat. Die UN und verschiedene NGOs fordern völlig zu Recht, dass die sklavereiähnlichen Zustände abgeschafft werden müssen. Was allerdings häufig auf der Strecke bleibt, ist eine Analyse der Gründe für das Gastarbeitersystem, welches nicht nur in Katar besteht, sondern in allen Staaten des Gulf Cooperation Council (GCC), dem Bahrain, Kuwait, Oman, Katar, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate angehören.

1971 wurde das größte bekannte Gasfeld vor der Küste Katars entdeckt, den gängigen Schätzungen zufolge birgt es fast ebenso große Reserven wie alle ­anderen Gasfelder der Welt zusammen. Im selben Jahr wurde das Land un­abhängig von Großbritannien. Außer dem Gas brachten auch die Ölvorkommen immense Profite. Heute stammen 80 Prozent der staatlichen Einnahmen und 90 Prozent der Exporte Katars aus dem Geschäft mit Öl und Gas. Aus diesen speist sich also die Investitionskraft des Landes.

2018 kamen aus den Golfstaaten fast 80 Milliarden US-Dollar an Auslandsüberweisungen allein in die südostasiatischen Länder.

Katar rekrutierte in den achtziger Jahren und bis in die neunziger Jahre hinein vor allem arabische Arbei­te­r:innen aus den muslimischen »Brudervölkern« aufgrund der gemeinsamen Sprache und Religion. Später versuchte man jedoch, Arbeiter:innen ohne Bezug zur Golfregion anzuwerben, da sie ohne Sprachkenntnisse und als fremd Wahrgenommene leichter ausbeutbar sind.

Dabei wandte man sich Süd- und Südostasien zu, aufgrund der relativen Nähe, aber vor allem wegen der dort kennzeichnenden Kombination aus fehlender Industrie, Arbeitslosigkeit und Bevölkerungsdichte. Auch die Textilindustrie nutzt schon seit Jahrzehnten Länder wie Indonesien, Bangladesh, Indien und Vietnam als Reservoirs für billige Arbeitskräfte. Heutzutage sind in den GCC-Staaten durchschnittlich 70 Prozent der Arbeiter:innen Mi­gran­t:innen. In Katar sind nur ungefähr zehn Prozent der Bevölkerung einheimisch. Der Rest kommt überwiegend aus Indien, Bangladesh, Nepal, Ägypten, den Philippinen, Pakistan und Sri Lanka.

Die katarischen Bürger:innen arbeiten vor allem im Staatsdienst und der Verwaltung. Wie in anderen Golfstaaten auch regelt das Kafala-System die Aufenthalts- und Arbeitsbedingungen der Wanderarbeiter:innen. Meist ist es der Arbeitgeber, der als rechtlicher Bürge fungiert. Dadurch sind die Ar­bei­­ter:innen besonders abhängig und es besteht ein großes Machtgefälle zwischen ihnen und dem Arbeitgeber.

Nicht selten wird Migrant:innen bei der Einreise der Pass abgenommen und vom Arbeitgeber bis Vertragsende einbehalten. Die Organisation Vital Signs, die das Ausmaß und die Ursachen von Todesfällen unter migrantischen Arbeiter:innen in der Golfregion untersucht hat, schätzt in ihrer Studie, dass jedes Jahr an die 10 000 Menschen aus Süd- und Südostasien in den GCC-Staaten sterben. Beobachter wie Nicholas McGeehan oder die Organisation Amnesty International bezeichnen das Kafala-System als moderne Sklaverei. Auch wenn es in manchen GCC-Ländern formal abgeschafft wurde, hat sich in der Praxis meist wenig verändert.

Trotz dieser Verhältnisse machen sich Millionen von Menschen auf den Weg, um in den Golfstaaten zu arbeiten. Die Situation in ihren Herkunftsländern ist meist hoffnungslos, und auch wenn der Lohn am Golf für westliche Verhältnisse sehr niedrig ist, können die Arbeiter:innen einen Teil zurücklegen, um ihren Familien Geld zu überweisen. Diese Auslandsüberweisungen haben inzwischen gewaltige Ausmaße angenommen: Im Jahr 2013 stammte aus den GCC-Staaten fast ein Viertel der Auslandsüberweisungen weltweit – rund 90 Milliarden US-Dollar. 2018 kamen aus den GCC-Staaten bereits fast 80 Milliarden US-Dollar der Auslandsüberweisungen allein in die südostasiatischen Länder. Das entspricht ungefähr 60 Prozent aller Auslandsüberweisungen in diese Region insgesamt.
Die Internationale Organisation für Arbeit (ILO) rechnet in einem Bericht von 2020 vor, dass im Jahr 2019 287 Milliarden US-Dollar an Auslandsüber­weisungen von Migrant:innen in 17 asiatische Länder flossen. Diese Überweisungen machen einen nicht zu unterschätzenden Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP) der betreffenden Länder aus. Am höchsten ist dieser Anteil in Nepal, das circa 30 Prozent seines BIP aus diese Überweisungen schöpft. In anderen Ländern wie Pakistan, den Philippinen oder Sri Lanka schwankt ihr Anteil am BIP zwischen acht und zehn Prozent. In Vietnam, Kambodscha, ­Myanmar, Bangladesh und Afghanistan machen die Überweisungen etwa 4,5 bis 6,5 Prozent des BIP aus.

Aufgrund dieser ökonomischen Abhängigkeit haben die Ursprungsländer der Migrant:innen nur begrenzte Möglichkeiten, ihre Staatsangehörigen mit diplomatischen Mitteln zu unterstützen, um Arbeitsbedingungen zu verbessern oder die Löhne zu erhöhen. Eher fördert man die Arbeitsmigration noch, da sie Geld ins Land bringt und die ­Arbeitslosigkeit senkt.

Häufig wird, wie in der Sonderausgabe des Fußballmagazins 11 Freunde zur WM in Katar aus dem Mai 2021, davon ausgegangen, dass jedes Land, welches eine Industrialisierung durchläuft, zwangsläufig irgendwann bei einem demokra­tischen Rechtsstaat nach dem Vorbild der westlichen Industriestaaten der sech­ziger Jahre enden werde, inklusive garantierten Arbeitsrechten für alle. In Katar sei dies aufgrund des ­rasanten Aufstiegs zur reichen Nation nicht passiert. Dabei bilden Länder wie Russland, China, Iran oder die Türkei anschauliche Beispiele, die diese entwicklungstheoretische These widerlegen. Unter anderem die Fifa argumentiert mit der positiven Auswirkung der WM auf die Menschenrechtslage in Katar. Allerdings ist es fraglich, ob derzeit in Bezug auf Arbeits- und Menschenrechte tatsächlich ein relevanter Wandel in Katar stattfindet; überdies können für die Zeit der WM zur Imageaufbesserung verfügte Maßnahmen danach wieder zurückgenommen werden.

Davon auszugehen, dass »der Westen« durch die internationale Kooperation im Rahmen einer globalen Sportveranstaltung einen positiven Einfluss auf eine vermeintlich zurückgeblie­bene Nation ausüben werde, ist absurd angesichts der Tatsache, dass viele westliche Unternehmen an Bauprojekten in Katar beteiligt sind. Ein Beispiel: In Doha, der Hauptstadt Katars, wurde für die WM eine U-Bahn gebaut. Maßgeblich beteiligt waren die Deutsche Bahn, Hochtief und die Tunnelbohrmaschinenfirma Herrenknecht aus dem beschaulichen Schwanau-Allmannsweier in Baden-Württemberg. All diese ­Firmen profitierten von den Arbeitsbedingungen, unter denen die Wan­der­arbeiter:innen in Katar ausgebeutet werden. Einen zivi­lisatorischen Vorsprung kann man also höchstens sehr bedingt geltend machen.

Auch postkoloniale Erklärungsan­sätze stoßen hier an ihre Grenzen: Hier beuten People of Color andere People of Color aus. Die globale Ökonomie ist viel zu komplex, als dass man sie auf aus der Kolonialzeit stammende Konflikte herunterbrechen könnte. Die GCC-Staaten können als Öl- und Gasrentiers immense Gewinne erzielen, auch weil die Förderung kaum menschliche Arbeitskraft beansprucht. So hatte der staatliche Ölkonzern Qatar Energy im Jahr 2019 gerade mal 8 500 Mitarbeiter, die im Jahr 2020 für einen Umsatz von circa 30 Milliarden US-Dollar sorgten. Arbeitsplätze für die Migrant:innen gibt es also größtenteils in anderen Branchen.

Die Planstädte, die mitten in die Wüste gebaut werden, stehen symbolisch für die Sinnlosigkeit des Kapita­lismus. Sie verschlingen Unmengen an Beton und anderen Ressourcen und dienen nur dem Prestige der Monarchie. Hier wird nicht gebaut, um grundlegende Bedürfnisse von Menschen zu erfüllen, sondern um den Narzissmus ­einer stinkreichen Elite zu stillen. Doch selbst wenn es diese Bauwut in den Golfstaaten nicht gäbe, wäre das Pro­blem der Arbeitslosigkeit in Asien und Afrika eher noch drängender. Der Kritik an der WM in Katar fehlt eine globale Perspektive, die aufzeigen kann, dass es hier nicht um einen Wertekonflikt geht, in dem »das Gute« irgendwann siegen wird. Katar ist keine Anomalie in einer sonst heilen Welt, die dortigen Zustände sind Teil einer weltweiten Krise der Arbeit, die von den Golfstaaten ausgenutzt wird.