Die Debatten um kulturelle Sensibilität bei Disney

Mulan und Me too

Auch in der Filmbranche hinterlassen die Debatten über kulturelle Aneignung ihre Spuren. Am Filmstudio Disney lässt sich besonders gut beobachten, wie mehr Diversität und Sensibilität zwar aus Marketinggründen verwirklicht, aber aus Profitinteressen auch wieder fallengelassen werden kann.

Wie man es macht, macht man es falsch. Das dürften sich derzeit viele Entscheidungsträger beim US-ame­rikanischen Unterhaltungskonzern Disney denken. In kaum einer anderen Produktion zeigt sich dieses Dilemma besser als in der Realverfilmung des 1937 erschienenen Zeichentrickklassikers »Schneewittchen und die sieben Zwerge«, die für 2024 angekündigt ist. Die Regie führt Marc Webb (»The Amazing Spider-Man«), die israelische Schauspielerin Gal Gadot (»Wonder Woman«) mimt die böse Königin, Multitalent Greta Gerwig (»Little Women«, »Lady Bird«) schreibt zusammen mit Erin Cres­sida Wilson (»Secretary«) das Drehbuch und die Latino-Schauspielerin Rachel Zegler (»West Side Story«) spielt Schneewittchen. Ein ebenso prominente wie diverse Besetzung also, die eigentlich für keinerlei Unmut sorgen dürfte.

Der Grund der Empörung sind jedoch die Zwerge. Im Januar diesen Jahres hieß es, die Realverfilmung befördere Stereotype über kleinwüch­sige Menschen. Peter Dinklage, bekannt aus der HBO-Serie »Game of Thrones« und der wohl berühmteste kleinwüchsige Darsteller der USA, warf den Verantwortlichen bei Disney vor, »sie seien sehr stolz darauf, eine Latino-Schauspielerin als Schneewittchen zu besetzen«, aber sie erzählten immer noch »diese rückständige Geschichte über sieben Zwerge, die zusammen in einer Höhle leben«.

Disney bemüht sich schon seit einigen Jahren um Produktionen, die den gegenwärtigen Debatten über Rassismus, (Gender-)Identität und kulturelle Aneignung gerecht werden sollen.

Disney reagierte mit einer Stellungnahme, in der es hieß, man werde einen anderen Ansatz bei den ­Figuren verfolgen und habe sich mit Mitgliedern aus der Community der Kleinwüchsigen beraten. Der neue Plan: Die sieben Zwerge werden durch digitale »magische Kreaturen« ersetzt. Prompt folgte der neue Vorwurf, kleinwüchsige Menschen würden dadurch »unsichtbar« gemacht. Bei dem Versuch, niemanden zu beleidigen, scheint Disney es sich mit allen verscherzt zu haben.

Das Unternehmen bemüht sich schon seit einigen Jahren um Produktionen, die den gegenwärtigen Debatten über Rassismus, (Gender-)Identität und kulturelle Aneignung gerecht werden sollen. So spielt in der Neuverfilmung von »Arielle, die Meerjungfrau« (2023) die afroamerikanische Schauspielerin Halle Bailey die Hauptfigur, die in der Zeichentrickfassung noch weiße Haut und rote Haare hatte. Und seit 2020 versieht der hauseigene Streaming-Kanal Disney+ Filmklassiker wie »Peter Pan« (1953), »Dumbo« (1941) oder »Das Dschungelbuch« (1967) mit dem Warnhinweis, sie würden »negative Darstellungen und/oder Misshandlung von Menschen oder Kulturen« beinhalten.

Nun ist es selbstverständlich eine wichtige und zu begrüßende Entwicklung, dass die Filmbranche diverser wird und auch marginalisierte Perspektiven in den Produktionen großer Filmstudios Einzug halten. Dieser Akzent auf Repräsentation ist jedoch eher ökonomischen als gesellschaftspolitischen Gründen geschuldet. Disney hat es jahrzehntelang vermieden, auch nur den Hauch einer Kontroverse zu riskieren. Familienfreundliche Filme sollten möglichst viele Menschen erreichen und maximalen Profit erwirtschaften.

Vor dem Hintergrund der Diversifizierung des Publikums auf dem florierenden Streaming-Markt und der mitunter heftig geführten Debatten über Repräsentation ist es nur konsequent, dass Disney mit seinen Filmen den neuen Anforderungen einer diversen Gesellschaft genügen möchte, in der das Phantasma der weißen Mittelschichtfamilie nicht mehr das Maß aller Dinge ist. Dabei lässt sich der Konzern allerdings immer mehr in identitätspolitische Auseinandersetzungen hineinziehen, die auch die Neue Rechte auf den Plan rufen. Als im September der Trailer für »Arielle, die Meerjungfrau« veröffentlicht wurde, gab es auf Youtube aufgrund der Hautfarbe der Hauptfigur innerhalb weniger Tage Hunderte von hämischen bis rassistischen Kommentaren und mehr als 1,5 Millionen dislikes.

Den Eindruck, dass es sich bei Disneys Diversitätspolitik nur um effektives Zielgruppenmarketing (cultural marketing) handelt, erweckte zuletzt der Wirbel um ein neues Gesetz in Florida, das unter anderem den Unterricht über sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität bis zur dritten Klasse einschränkt und von Gegnern den Namen »Don’t Say Gay« bekam. Nachdem Disney es versäumt hatte, sich öffentlich gegen den Gesetzentwurf auszusprechen, und zudem bekannt geworden war, dass Politiker, die den Gesetzentwurf unterstützten, Spenden von Disney erhalten hatten, kam es zu lautstarken Protesten unter den Beschäftigten.

Nur wenige Tage später wendeten sich Angestellte des Animationsstudios Pixar, das seit 2006 zu Disney gehört, in einer Erklärung an die Öffentlichkeit, in der sie den Verantwortlichen bei Disney vorwarfen, bei so gut wie jeder Szene, in der »offenkundig homosexuelle Zuneigung« zu sehen sei, Schnittänderungen zu fordern, »auch dann, wenn sowohl die Kreativ-Teams als auch die Führungskräfte von Pixar dagegen protestierten«. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass der kürzlich zurückgetretene Geschäftsführer Bob Chapek zur selben Zeit in einem Memo verlautbarte, dass »der größte Einfluss«, den das Unternehmen »bei der Schaffung einer inklusiveren Welt haben« könne, »die inspirierenden ­Inhalte« seien, die sie produzieren.

Disneys Haltung gegenüber Themen mit Bezug zu Homosexualität könnte auch damit zusammenhängen, dass man es sich mit China, einem der wichtigsten Kinomärkte der Welt, nicht verscherzen möchte. Ohne die über 82 000 Kinoleinwände in dem Land könnte der Konzern mit seinen sündhaft teuren Blockbuster-Produktionen, die oft mehrere Hundert Millionen US-Dollar verschlingen, nicht die notwendigen Profitmargen erzielen. Da ist es nur folgerichtig, dass man sich den kulturpolitischen Vorgaben der chinesischen Regierung fügt – nicht nur bei Disney.

Jüngstes Beispiel dafür ist der im Harry-Potter-Universum spielende Film »Phantastische Tierwesen: Dumbledores Geheimnisse«. Um in China einen Kinostart zu bekommen, musste das Filmstudio Warner Bros. sechs Sekunden herausschneiden, in denen auf die Homosexualität des Zauberers Dumbledore an­gespielt wird.
In Disneys Realverfilmung »Mulan« (2020) wollte man eine Zensur­aufforderung wohl gänzlich vermeiden. So wurde die Figur Li Shang, der Hauptmann des Regiments, dem sich die als Mann verkleidete Hauptfigur Mulan anschließt, komplett aus der Realverfilmung gestrichen. Dass sich zwischen Shang und Mulans männlichem Alter Ego romantische Gefühle entwickeln, ließ ihn unter queeren Fans zu einer bisexuellen Ikone werden. Eine offizielle Erklärung begründete die Entscheidung, ihn herauszustreichen, mit dem Verweis auf »Me too«. Da der Zeichentrickfilm von 1998 wegen seiner zu westlichen Darstellung der Hauptfigur in China gefloppt war, wollte man dieses Mal vermutlich auf Nummer sicher gehen und in vor­auseilendem Gehorsam jegliche Hürden für eine Verwertung auf dem chinesischen Markt aus dem Weg räumen. Man könnte auch von einer kulturellen Aneignung unter neuem Vorzeichen sprechen.

Verantwortlich für die grundlegende Neuausrichtung Disneys hin zu mehr Diversität im Casting und Storytelling ist der ehemalige und seit November wieder amtierende Geschäftsführer Robert A. Iger, der in ­einer Gesellschafterversammlung 2017 großspurig verkündete: »Wir können diese Werte, die wir als gesellschaftlich wichtig erachten, nutzen, um das Verhalten der Menschen zu ändern – die Menschen dazu zu bringen, die vielen Unterschiede, Kulturen und races und alle anderen Facetten unseres Lebens und der Menschen mehr zu akzeptieren.«

Vor allem die Filme aus dem Marvel-Universum bescheren ihm zumindest in ökonomischer Hinsicht Erfolg. Der Superheldenfilm »Black Panther« (2018) mit seinem fast komplett schwarzen Cast und seinem afrofuturistischen Setting spielte weltweit über eine Milliarde US-Dollar ein. Es stellt sich jedoch die Frage, was Iger mit »Akzeptanz« und den »Unterschieden der Kulturen« meint, wenn man sich den Gesellschaftsentwurf ansieht, den die »Black Panther«-Reihe rund um das fiktive afrikanische Land Wakanda propagiert.

Der zweite Teil »Black Panther: Wakanda Forever«, der Anfang November in die Kinos kam, zeigt eine hierarchische und abgeschottete Gesellschaft, die in ihrem Beharren auf Identität und dem Bewahren der eigenen Kultur unweigerlich an das erinnert, was die Ideologie des Ethnopluralismus propagiert. Ob Disney auch in diesem Fall vor China einknickt, bleibt abzuwarten; »Black Panther: Wakanda Forever« hat es noch nicht durch die chinesische Zensurbehörde geschafft. Das Branchenblatt The Hollywood Reporter vermutet, es liege wie im Fall Dumble­dore an den wenigen Sekunden im Film, in denen die Homosexualität zweier Figuren gezeigt wird.

Die offenere Haltung gegenüber LGBTIQ-Themen dürfte damit zusammenhängen, dass bereits mehrere Marvel-Filme an der Zensurbehörde scheiterten und Disney in ihrem Fall nicht zwingend auf den chinesischen Kinomarkt angewiesen ist. Denn das Franchise ist mit einem Gesamteinspielergebnis von über 25 Milliarden US-Dollar die erfolgreichste Filmreihe der Kinogeschichte. Und in diese reiht sich auch »Black Panther: Wakanda Forever« ein: Bereits nach zehn Tagen hatte der Film mehr als das Doppelte seiner immensen ­Produktionskosten von 250 Millionen US-Dollar eingespielt.