Grönlands geopolitische Bedeutung wächst

Aufrüstung in der Arktis

Geopolitische Rivalitäten und der Klimawandel führen dazu, dass Grönland, die größte Insel der Welt, international immer bedeutender wird.

Es ist die geostrategische Lage Grönlands weit im Norden, in der Arktis, die im Kalten Krieg wichtig war; diese Lage gewinnt seit einiger Zeit wieder an Bedeutung. Flächenmäßig ist Grönland halb so groß wie die EU; aus dieser ist die Insel 1985 nach einem Referendum ausgetreten. Es leben nur rund 56 000 Menschen hier, nahe der Ostküste ­Kanadas im Nordatlantik und im Arktischen Ozean. Bis auf die Küstenstreifen ist die Insel mit einem durchschnittlich drei Kilometer dicken Eispanzer bedeckt.

Grönland hatte 1979 einen halbautonomen Status von der ehemaligen Kolonialmacht Dänemark erlangt, der 2009 erweitert wurde auf Autonomie über alle Bereiche außer ­Sicherheits-, Außen- und Geldpolitik; diese werden weiterhin vom Königreich bestimmt. Alle grönländischen Parteien streben die vollständige Unabhängigkeit der Insel an, sie unterscheiden sich aber darin, auf welchem Weg und in welcher Geschwindigkeit sie diese erreichen wollen. Als Teil von Dänemark gehört Grönland bereits seit 1949 der Nato an.

Russlands Arktisstrategie beinhaltet neben der Erschließung der arktischen Ressourcen bis 2035 den Bau von mindestens 40 arktis­tauglichen Schiffen.

Grönland liegt am nordwestlichen Ende der sogenannten GIUK-Lücke. GIUK steht für Grönland, Island und das Vereinigte Königreich; als GIUK-­Lücke bezeichnet man in der militärischen Sprache eine gedachte etwa 1 700 Kilometer lange Linie zwischen diesen drei Ländern, die einen Engpass zwischen Atlantik, dem Europäischen Nordmeer und der Grönlandsee bildet. Im Kalten Krieg galt dieser Bereich als strategisches Schlüsselgebiet, das die sowjetischen Streitkräfte durchstoßen müssten, um den offenen Atlantik zu erreichen. Daher installierten die USA ein umfangreiches Abhör- und Überwachungssystem, mit Unterwassersensoren und Stützpunkten entlang der GIUK-Lücke, die nach dem Zerfall der UdSSR abgeschaltet wurden. Viele Relikte des Kalten Kriegs, wie alte Bunker und Satellitenstützpunkte, werden in jüngster Zeit auch in Grönland wieder in Betrieb genommen.

Auf der im Nordpolarmeer liegenden und zur russischen Oblast Archangelsk gehörenden Inselgruppe Franz-Josef-Land sind seit dem Jahr 2015 Abwehrraketen stationiert. Von russischer Seite wird seit Jahren viel Aufwand betrieben, um neue militärische Strukturen aufzubauen. Russlands Arktisstrategie beinhaltet neben der Erschließung der arktischen Ressourcen bis 2035 den Bau von mindestens 40 arktistauglichen Schiffen. Russland ist in fünf militärische Verwaltungseinheiten unterteilt, der fünfte dieser Militärbezirke wurde erst 2019 im Nordwesten unter dem Namen Vereinigte Strategische Kommandos (VSK) Nord eingerichtet, inklusive Atom-U-Booten mit Heimathafen Murmansk. Der Beginn der Arbeit eines separaten strategischen Kommandos wurde bereits 2014 vom russischen Präsidenten Wladimir Putin angekündigt. Es beruht auf der Nordflotte, dem 1933 aufgestellten und jenseits des Polarkreises stationierten Teil der sowjetischen Marine, beziehungsweise dessen russischem Nachfolgeverband.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hatte als eine Antwort auf diese Entwicklung in einer Pressekonferenz Ende März die Bedeutung der Nato als arktisches Bündnis hervorgehoben. Die Arktis sei von strategischer Bedeutung für die Sicherheit des gesamten euroatlantischen Raums. Ende August sagte Stoltenberg der Welt am Sonntag, die Nato wolle künftig angesichts möglicher neuer Bedrohungen durch Russland stärker in der Arktis aktiv werden. »Wir sehen eine deutliche Verstärkung der militärischen Präsenz Russlands in der Arktis«, sagte er. Russland sei »dabei, Stützpunkte aus Sowjetzeiten wieder zu öffnen und neue hochmoderne Waffen wie Hyperschallraketen dort zu stationieren und auszuprobieren«. Auch China interessiere sich immer stärker für die Arktis.

Die USA haben im Jahr 2020 in der grönländischen Hauptstadt Nuuk nach fast 70jähriger Pause wieder eine diplomatische Vertretung eröffnet. Ein Jahr zuvor wollte der ehemalige US-Präsident Donald Trump die Insel kaufen. Grönland sei nicht zu verkaufen, aber offen für Handel und Zusammenarbeit, lautete die Antwort des damaligen grönländischen Ministerpräsidenten Kim Kielsen. Die USA gaben schließlich 12 Millionen Dollar, die in wirtschaftlich nützliche Projekte fließen sollen, wie die grönländische Regierung erklärte, in die Rohstoffbranche, Tourismus und Bildung; die Gelder verringern die bisher bestehende Abhängigkeit des Landes von dänischen Subventionen. Im August hatte das Außenministerium angekündigt, die USA wollen den Posten des Koordinators für die Arktis, den sie bereits seit vielen Jahren unterhalten, zu dem eines Botschafters aufwerten, um sich effektiver mit Fragen der nationalen Sicherheit und der Entwicklung in der Region zu befassen.

Die Politikwissenschaftlerin Maria Ackrén leitet das Zentrum für Außen- und Sicherheitspolitik der Universität Nuuk, das sich zur Aufgabe gemacht hat, »die Welt um sich herum genau im Auge zu behalten, die die Aufmerksamkeit zunehmend auf Grönland und die Arktis richtet, Wissen über grönländische Außenpolitik zu sammeln sowie Diplomatie und niedrige Spannungen in der Arktis zu analysieren«. Nicht nur Sicherheit und Militär spielen Ackrén zufolge eine Rolle, sondern auch Transport und Handel, die in Zukunft den arktischen Raum interessanter machen werden als bisher. Dabei gewinnt die Nordostpassage an Bedeutung, eine Seeroute im Nordpolarmeer, die Nord­europa und Ostasien entlang der eurasischen Nordküste verbindet, bislang aber kaum befahrbar war. Mit Blick auf den Klimawandel – die Region rund um die nördliche Polkappe hat sich dem Arctic Monitoring and Assessment Programme nach seit 1971 dreimal schneller als der Rest der Welt erwärmt – und das Schmelzen des arktischen Eises könnte in Zukunft ein Großteil des maritimen Handels von Asien nach Europa hier verlaufen. Dieser Seeweg wäre nur ein Drittel so lang wie die Route durch den Suez-Kanal – fast die ganze Strecke verläuft allerdings entlang russischen Territoriums.

Auch von chinesischer Seite häufen sich die Besuche in Grönland. Ein in Island residierender Botschafter kam für Gespräche vorbei, der chinesische Energieminister war schon dreimal vor Ort und ein chinesisches Konsortium hat bereits angeboten, im südgrönländischen Narsaq einen Überseehafen zu bauen. Als Chinas Regierung vor zehn Jahren die Flughäfen auf Grönland ausbauen wollte, hatten die USA bei Dänemark interveniert. Die chinesische Regierung postuliert bereits seit Jahren, China sei ein »near-arctic state«, nennt eine eisfreie Nordostpassage »polare Seidenstraße« und verfolgt vehement ihre eigene Arktisstrategie.

Ackrén weist aber darauf hin, dass der arktische Raum eine »Zone der niedrigen Spannungen« sei. So hatte es der 1996 gegründete Arktische Rat, dem die Anrainerstaaten USA, Kanada, Island, Schweden, Norwegen, Finnland, Dänemark und Russland angehören, bei seiner Gründung beschlossen. Seit vergangenem Jahr hat Russland turnusmäßig den Vorsitz des Rats, seit März ist die Arbeit allerdings zum Stillstand gekommen. Es werde mühsam, die gemeinsame Arbeit fortzusetzen, denn faktisch werde wieder überwiegend auf bilateraler Ebene gearbeitet, sagt Ackrén. Auf Dauer sollte es keine Isolation Russlands geben, führt sie weiter aus, denn zu Russland gehöre die Hälfte der Bevölkerung und des Territoriums der Arktis.

Juno Berthelsen war der persönliche Sekretär des Außenministers, leitet im Ministerium für auswärtige Angelegenheiten, Wirtschaft und Handel der grönländischen Regierung seit April eine Abteilung. Er stammt aus Nuuk, bezeichnet sich selbst als indigen und argumentiert mit postkolonialen Theorien für die vollständige Unabhängigkeit Grönlands und die Loslösung von Dänemark. Berthelsen ist überzeugt, dass die Aktivitäten der USA sich in den nächsten zehn Jahren in Grönland und im gesamten arktischen Raum stark erhöhen werden. Der Ende des Zweiten Weltkriegs gebaute US-Militärflugplatz Thule Air Base im nördlichen Avanersuaq zur Überwachung von Raketen- und Weltraumaktivitäten wurde 2020 aufgerüstet und an ein neues Satelliten- und größeres Überwachungssystem angeschlossen – ein technisches Update und »Cyber-Booster«, wie es Berthelsen zufolge im lokalen Jargon heiße. Allerdings wurde die Regierung Grönlands weder involviert noch informiert. Berthelsen sagt, dass die Basis Teil sensibler Infrastruktur sei und die Gefahr bestehe, dass Grönland dadurch Ziel eines Angriffs werden könnte, ohne selbst etwas entschieden zu haben. Schließlich kam es im Oktober 2020 zu einem trilateralen Abkommen zwischen den USA, Dänemark und Grönland, dem zufolge die Sicherheit und der Wohlstand der drei Beteiligten auch in Zukunft von einer starken transatlantischen Kooperation abhänge. Dafür habe die Basis in Thule zentrale Bedeutung.

Für Grönland ist das Abkommen in doppelter Hinsicht ein Erfolg. Zum einen bringt es wirtschaftliche Vorteile – die Basis soll ab 2024 von einheimischen grönländischen Firmen unterhalten werden. Außerdem wurde das Abkommen direkt zwischen den USA und Grönland verhandelt und signiert, Dänemark war nur beteiligt. Damit tritt Grönland erstmals selbst eigenständig in der Außenpolitik in Erscheinung. Grönland soll künftig auch im Arktischen Rat eine größere Rolle spielen und Abkommen unterschreiben. Bei einem Treffen des Rats in Reykjavík 2021 vereinbarte die dänische Rigsfællesskab (Reichsgemeinschaft) der drei zum Königreich gehörenden Länder, dass Grönland im Rat das erste Rederecht hat, danach die Färöer und dann erst Dänemark. Dänemarks Ministerpräsidentin Mette Frederiksen begründete das damit, dass »die Welt sich ändere, und die Rigsfællesskab ebenso«.