In der Türkei wächst nach dem Erdbeben die Unzufriedenheit mit der Regierung

Auf wackligem Fundament

Nach den Rettungsarbeiten kommt die Aufarbeitung. Miserables Hilfsmanagement und jahrelanger Pfusch im Bauwesen haben das Erdbeben in der Türkei erst zur Katastrophe gemacht.

Über zwei Wochen liegt das Erdbeben der Stärke 7,7 im Südosten der Türkei und Norden Syriens bereits zurück. Jeden Tag steigen die Opferzahlen, immer mehr Bilder der unfassbaren Zerstörung kursieren. Mehr als 41 000 Tote allein in der Türkei vermeldete die Katastrophenschutzbehörde Afad am 20. Februar. Der Gouverneur der Provinz Şırnak, Osman Bilgin, Koordinator der Bergungsarbeiten, sagte am Sonntag in Gaziantep, die Zahl der Opfer läge gar um ein Vielfaches höher. Die Sucharbeiten der Afad in neun der elf betroffenen türkischen Provinzen wurden am Sonntag beendet, nur in Kahramanmaraş und Hatay werde weiter nach Verschütteten gesucht, hieß es. Am Abend desselben Tags kam es zu einem Nachbeben der Stärke 6,4 mit weiteren Toten und Verletzten. Tausende liegen noch unter Trümmern. Helfer und Berichterstatter sprechen von einem »Inferno« und beklagen sich über die miserable Koordination der Hilfen, in den ersten Tagen nach dem Beben glänzte die Afad vielerorts durch Abwesenheit.

Melis Acar* ist Künstlerin und lebt in Istanbul. Wie viele andere meldete sie sich in den ersten Tagen des Bebens als freiwillige Helferin und fuhr mit einem Team eines kanadischen Radiosenders direkt nach Kahramanmaraş, um dort zu übersetzen. »Natürlich ist Chaos bei einer Naturkatastrophe eines solchen Ausmaßes normal«, resümiert sie, zurück in Istanbul. Eine Woche lang hat sie für die Journalisten gedolmetscht. »Wir haben fast durchgängig die Erfahrung gemacht, dass staatliche Hilfe sich unkoordiniert und bürokratisch gestaltete und Selbsthilfe in einem Ausmaß nötig war, das den Menschen neben all dem Leid übermenschliche Kräfte abverlangte.«

»Erdbeben ist nicht Schicksal« lautet einer der Hashtags, unter denen sich der Zorn auf die türkische Baupolitik der vergangenen Jahre in den sozialen Medien entlädt.

Die Journalisten, die sie begleitete, haben Bilder und Tonaufnahmen von Erdbebenopfern, die anfangs mit ­bloßen Händen versuchten, die Betonmassen eingestürzter Häuser zu bewegen. »Ein Bagger kam, wurde abgestellt und bis zum nächsten Tag stehengelassen mit den Worten, dass erst der Chef kommen muss.« Für Acar war die eigene Hilflosigkeit eine fürchterliche Erfahrung. »Wir hörten Überlebende unter den Trümmern. Es war aber niemand da, um ihnen professionell zu helfen.« Das Personal von Afad habe dem Team gegenüber zugegeben, auf solche Einsätze nicht vorbereitet zu sein, sagt sie.

In Gaziantep habe ein staatliches Team Brote einfach in die Menge geworfen. Es kam zu Tumulten. Jeder Zweite in der Stadt ist syrischer Flüchtling. »Die Leute schrien durcheinander, eine alte Frau saß am Rand und schluchzte: ›Die Araber nehmen uns ­alles weg.‹« Acar war mit den kanadischen Journalisten an die Grenze zu Nordsyrien geeilt, doch sie entschlossen sich, nicht hinüberzufahren. »Die Sicherheitslage ist dort unüberschaubar, weil syrische Jihadisten das Sagen haben«, sagt Acar. Nicht einmal Hilfskonvois der UN konnten zunächst das dortige Erdbebengebiet erreichen, sie kamen auch nicht in eigentlich von der Türkei kontrollierte Regionen. Die po­litischen Spannungen erschweren die Situation.

Wegen der Lebensmittelknappheit kommt es immer wieder zu Plünderungen, die die Ordnungskräfte auch zu Übergriffen nutzen. Die Brüder Ahmet und Sabri Güreşçi wurden am 11. Februar aus ihrem Zeltlager im Dorf Büyükburç in der Provinz Hatay von der Jandarma festgenommen, einer Einheit der Armee, die vor allem in ländlichen Regionen Polizeiaufgaben übernimmt. Es gab Aussagen, sie hätten sich an Diebstählen beteiligt. Ahmet wurde in der Nacht in ein staatliches Krankenhaus in Hatay eingeliefert und starb an den Folgen einer Gehirnblutung. Seine Nase war gebrochen, er hatte Prügelspuren und eine Kopfverletzung. Im Protokoll der Jandarma heißt es, er habe sich den Sicherheitskräften widersetzt und seinen Kopf selbst gegen die Wand geschlagen. Der Vater sagte aus, sein Sohn Sabri habe in Hatay Grundnahrungsmittel aus einem Supermarkt mitgenommen, weil es keine Lebensmittel gab. Ahmet sei gar nicht dabei gewesen, aber bereitwillig mitgegangen, als die Jandarma ihn dazu aufforderte. Die Anwälte sprechen von Lynchjustiz und exzessiver Gewaltanwendung durch die Sicherheitskräfte.

»Erdbeben ist nicht Schicksal« lautet einer der Hashtags, unter denen sich der Zorn auf die türkische Baupolitik der vergangenen Jahre in den sozialen Medien entlädt. Präsident Recep Tayyip Erdoğan hatte bei seiner Reise durch das Katastrophengebiet immer wieder den Ton verfehlt. Er sprach von Schicksal und schnellen Wiederaufbauprojekten zu einem Zeitpunkt, zu dem die überlebenden Erdbebenopfer noch der Bergung ihrer verschütteten Verwandten harrten. Bauwut und politischer Autokratismus gingen in der ­Regierungszeit seiner islamisch-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP) Hand in Hand. Tatsächlich hatten die von der AKP regierten Kommunen in den neunziger Jahren und zu Beginn der nuller Jahre für den Ausbau von Infrastruktur gesorgt. Nach dem schweren Erdbeben in Gölcük von 1999 wurden strengere Bauvorschriften und eine Erdbebensteuer eingeführt, die genutzt werden sollte, um Bauten sicherer zu machen.

In den Folgejahren jedoch siegte Profitgier über Verantwortung: Der Bau­sektor wuchs rasant, Baugenehmigungen wurden auch für ungeeignete ­Flächen erteilt, Kontrollen von Neubauten waren selten. Die Einnahmen aus der Steuer, die insgesamt mehrere Milliarden US-Dollar betragen sollen, wurden für Straßen, Bahnstrecken oder die Landwirtschaft ausgegeben – und für das Tilgen der Schulden beim Internationalen Währungsfonds, wie der ehemalige Finanzminister Mehmet Şimşek (AKP) in einem kürzlich aufgetauchten Video von 2011 sagt. Durch schlechte Bauweise wie illegale Aufstockungen sollen sich Bauunternehmer bereichert haben, Dutzende sind mittlerweile festgenommen worden. Der Rektor der Technischen Universität Istanbul (İTÜ), İsmail Koyuncu, fasste am Samstag die Ergebnisse der Reise einer Delegation von Experten der Fachgebiete Bauingenieurwesen, Geophysik und Architektur in einem ersten Bericht zusammen. Für die so weitgehende Zerstörung von Bausubstanz seien bei vielen Gebäuden die mangelnde Qualität der Baumaterialien sowie der Fundamente und die ungünstige Bodenbeschaffenheit der Grundstücke verantwortlich. Die İTÜ-Wissenschaftler empfehlen, eine halbe Millionen Wohneinheiten im Erdbebengebiet abzureißen und die Bauaufsicht zu verschärfen.

Das Bündnis Nationale Allianz der größten Oppositionsparteien zog am Wochenende Bilanz. Dazu gehören ­federführend die Republikanische Volkspartei (CHP), die nationalistische Gute Partei (İyi Partisi) und die islamisch-konservative Glückseligkeitspartei (Saadet Partisi). Das Land bezahle die dem zentralistischen politischen System geschuldete Misswirtschaft im Bauwesen mit dem »Blut der Opfer«, teilte das Bündnis mit. Neben raschen Vorkehrungen zur Feststellung erdbebengefährdeter Gebäude im von der CHP regierten Istanbul verrät auch die Forderung nach einem Verbot des Verkaufs von Häusern in den Erd­bebengebieten an Ausländer, dass die Türkei sich im Wahlkampf befindet. In den Gebieten leben in Städten wie Adıyaman, Gaziantep und Hatay viele Syrer und andere Geflüchtete, etwa aus Afghanistan, gegen die sich diese Politik richtet.

In Istanbul, ebenfalls gefährdet durch Erdbeben, da unterm ganzen Land mehrere Erdplatten aufeinanderstoßen, bietet die von der CHP regierte Oberstadtverwaltung Hausbesitzern eine städtische Überprüfung der Bausubstanz an. »Das Problem ist nur, dass dieser Hilfsdienst von den Eigentümern angefordert werden muss«, sagt die Künstlerin Acar. Sie kaufte sich im vergangenen Jahr im Innenstadtviertel ­Cihangir eine Wohnung im Erdgeschoss eines sechsstöckigen Hauses. Nach ­ihren Erfahrungen im Erdbebengebiet möchte sie nun die Überprüfung in Anspruch nehmen, die Wirtschaftskrise in der Türkei hat Wohnraum jedoch zu einer gängigen Einnahmequelle gemacht. »Die anderen Besitzer wohnen nicht selbst in ihren Wohnungen, sie vermieten sie teuer«, sagt Acar. »Sie sperren sich momentan gegen meine Initiative, weil sie fürchten, dass das Haus eine schlechte Note bekommen könnte und dann abgerissen und neu gebaut werden muss.«

Die türkische Regierung hat im Januar die für Juni angesetzten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen auf den 14. Mai vorverlegt. Ob es bei diesem Termin bleibt, ist ungewiss, das Erdbeben verschärft die schwelenden Konflikte. 22 Studierende wurden in İzmir festgenommen, weil sie gegen die Entscheidung protestierten, die staatlichen Wohnheime für Erdbebenopfer zu räumen. Sie kritisieren, dass Studierende aus armen Familien davon betroffen seien. Die sozialen Medien werden zensiert, der Ausnahmezustand benutzt, um weitere Repression auszuüben. »Wenn das Ein-Mann-Regime nicht aus seinem Palast verschwindet, kann das Land nicht aus den Trümmern der Demokratie gerettet werden«, vermeldete am Montag die Initiative Zusammen für die Demokratie. Sie spricht vielen aus der Seele.

* Name von der Redaktion geändert.