Die Ukraine versucht, die russische Offensive zu stoppen

Festgebissen in Bachmut

Einheiten beider Seiten kämpfen verbissen um jeden Meter der ostukrainischen Stadt. Die Zahl der Toten steigt, die Munition wird knapp.

Ein Blick auf jüngste Satellitenaufnahmen zeigt das verheerende Ausmaß der Zerstörung in Bachmut. Seit August 2022 dauern die Kampfhandlungen in der ostukrainischen Stadt unvermindert an, die vor dem Krieg gut 70 000 Einwohner hatte, von denen einige Tausend noch ausharren. Weit über die Hälfte der Gebäude sind bloß mehr Ruinen. Nördlich und südlich von Bachmut gelang es russischen Truppen, in Richtung Westen vorzurücken, aber weder vermochten sie bislang, den Ort komplett einzukesseln, noch im Stadtgebiet den von Norden nach Süden verlaufenden Fluss Bachmutka von Osten her zu überqueren. Um dies zu verhindern, hatte die ukrainische Armee vorsorglich alle Brücken im Stadtgebiet gesprengt.

Durch die langanhaltenden erbitterten Kämpfe um Bachmut hat der Ort für beide Kriegsparteien eine ausgeprägte Symbolkraft entwickelt. Zwischenzeitliche Anzeichen für einen völligen Rückzug der ukrainischen Einheiten hatten sich nicht bewahrheitet. Mehrere Medien berichteten von einem schon über längere Zeit schwelenden Konflikt zwischen dem ukrainischen Präsident Wolodymyr Selenskyj und dem Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, General Walerij Saluschnyj. Selenskyj schien an der Front in Bachmut um jeden Preis die Stellung halten zu wollen. Saluschnyj hingegen plädierte für ein besonneneres Vorgehen und vor einigen Wochen sogar noch für einen Truppenabzug, um weitere Verluste zu verhindern.

Anfang März meldete Selenskyjs Pressestelle, die Armeeführung habe sich für eine Weiterführung der Verteidigung von Bachmut ausgesprochen. Das US-Forschungszentrum Institute for the Study of War (ISW) konstatierte einen taktischen Teilrückzug lediglich aus dem Ostteil von Bachmut mit dem Ziel, russische Kräfte auch weiterhin in der Stadt zu binden und aufzureiben, um über kurz oder lang die Ende Januar von Russland begonnene Offensive zu stoppen.

Der Gründer der Söldnertruppe Wagner, Jewgenij Prigoschin klagte, die ukrainische Armee beiße sich an »jedem Meter fest«.

Auf Grundlage dieser Überlegung kommt das ISW zu dem Schluss, dass die ukrainische Verteidigung aus strategischer Perspektive durchaus gerechtfertigt sei. Denn die hohen Verluste auf russischer Seite ließen es immer realistischer erscheinen, dass der schwere Kampf um Bachmut die russischen Fähigkeit zur Fortführung der Offensive schwäche, ob die russischen Streitkräfte Bachmut nun einnähmen oder nicht.

Das britische Wochenmagazin The Economist sprach Saluschnyj sogar ein Lob aus, weil er sich von der russischen Angriffstaktik nicht habe in eine Falle locken lassen. Anstatt relevante Truppen- und Materialreserven zum jetzigen Zeitpunkt an der Front zu verbrauchen, habe er entschieden, lieber einen Teil der Truppen an aus dem Westen gelieferten Waffensystemen auszubilden. Dieses Vorgehen bringe strategische Vorteile bei zukünftigen Gegenangriffen mit sich und sei somit gerechtfertigt. In Bachmut habe die russische Armee überdies weitaus mehr Tote zu beklagen als die ukrainischen Streitkräfte.

Hohe Opferzahlen
Von hohen Opferzahlen ist auf beiden Seiten auszugehen. Der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu bezifferte die Verluste bei den ukrainischen Truppen an allen Frontabschnitten zusammengenommen allein für Februar auf 11 000, was einen Anstieg von 40 Prozent gegenüber Januar bedeute. Auch wenn das nicht verifizierbar ist, spricht das doch für die Härte der Kämpfe an manchen Frontabschnitten, denn trotz der sich weit über 1 000 Kilometer erstreckenden Front sorgen begrenzte militärische Ressourcen dafür, dass intensive Kampfhandlungen nur an wenigen Stellen stattfinden.

Auch der Befehlshaber der ukrainischen Bodenstreitkräfte, Oleksandr Syrskyj, sprach von »empfindlichen Verlusten« des Gegners, betonte aber gleichzeitig, dass die Lage sehr angespannt bleibe aufgrund des Vorgehens von Sturmeinheiten der Söldner von der Gruppe Wagner, die hochriskante Angriffe unternähmen. Wagner-Gründer Jewgenij Prigoschin beklagte, die ukrainische Armee beiße sich an »jedem Meter fest«; so zitiert ihn eine Website der Nachrichtenagentur Riafan, die als mit Prigoschin verbunden gilt.

Nach wie vor fehle es an Munition, so Prigoschin. Bereits mehrfach hatte Prigoschin über ausbleibende Lieferungen aus Moskau lamentiert und der Regierung auch schon mit einem Rückzug seiner Söldner aus Bachmut gedroht. Die gesamte Front werde zusammenbrechen, wenn seine Kämpfer sich zurückzögen, warnte er in einem auf Telegram veröffentlichten Video. Zahlen über Produktionsmengen von Munition in Russland liegen nicht vor, dafür tauchen in sozialen Medien immer mehr Beschwerden von im Rahmen der russischen Teilmobilmachung eingezogenen Soldaten auf, die den Eindruck haben, ohne ausreichende Vorbereitung und Ausrüstung als Kanonenfutter verheizt zu werden.

Druck auf Prigoschin
Prigoschin hatte schon von Beginn seiner Anwerbung von Söldnern in Gefängnissen und Strafkolonien auf geringe Überlebenschancen bei den Fronteinsätzen hingewiesen. Schätzungen der US-Regierung zufolge wurden etwa 50 000 Wagner-Söldner in den Krieg in der Ukraine geschickt, und 30 000 von ihnen sind seitdem getötet oder verletzt worden, wobei angeworbene Strafgefangene den weitaus größten Teil der getöteten Söldner ausmachen. Jüngst billigte die Duma, das russische Unterhaus, ein Gesetz, mit dem Kritik nicht nur an den Streitkräften, sondern auch an Söldnergruppen – Gruppen »freiwilliger Kämpfer« in der Ukraine – bestraft werden soll. Gleichzeitig wächst der britischen Wochenzeitung The Spectator zufolge der Druck auf Prigoschin, Erfolge vorzuweisen.

Letztes Jahr hatte er Schoigu und Generalstabschef Walerij Gerassimow vorgeworfen, inkompetent zu sein – und dabei wohl Schoigus Einfluss unterschätzt. Im September entließ er General Dmitrij Bul­gakow, den stellvertretenden Minister für Logistik, der als Prigoschins Mann im Ministerium galt. Dadurch wurde Wagner der direkte Zugang zu Munition und Waffen verbaut und die Abhängigkeit von Schoigu erhöht, der auch bewirkte, dass Prigoschin nicht mehr in den Arbeitslagern rekrutieren darf.

Im Januar wurde General Surowikin, der gut mit Prigoschin zusammengearbeitet hatte, zum stellvertretenden Oberbefehlshaber degradiert und an der Spitze der russischen Streitkräfte in der Ukraine durch Gerassimow ersetzt. Wagner eröffnet jetzt Rekrutierungszentren im ganzen Land, die in direkter Konkurrenz zum Militär stehen. Aber Prigoschin braucht mehr Soldaten; ohne sie hat er nichts zu bieten. Weit vorausschauend zeigt die Wagner-Truppe inzwischen sogar Präsenz in Schulen und Sporteinrichtungen, in denen Minderjährige trainieren.

Chaotische Kriegsverwaltung
Es liegt jedoch nicht allein am fehlenden Munitionsnachschub, dass die russische Offensive trotz immenser personeller Ressourcen keinen entscheidenden Durchbruch erzielt, sondern auch an der chaotischen Kriegsverwaltung. Russische Soldaten sind auf der Suche nach ihren Einheiten oftmals gezwungen, auf eigene Faust lange Wege zurückzulegen, einige von ihnen werden währenddessen als Fahnenflüchtige geführt.

Im Zuge der Teilmobilmachungen wurden zahlreiche Bataillone innerhalb kurzer Zeit aus dem Boden gestampft, deren Zuordnung innerhalb des Armeeverbandes blieb oft vage: Artilleristen müssen als Infanteristen kämpfen, die Kommunikation klappt nicht, ahnungslose Befehlshaber komplettieren das Chaos. All dies trifft ganz besonders auf Einheiten zu, die in den Gebieten Donezk und Luhansk gebildet wurden, deren Status de jure ungeklärt ist.

Gefangenenaustausch soll der einzige Bereich sein, in dem beide Kriegsparteien noch miteinander verhandeln.

Derweil urteilt das Oberste Gericht im annektierten Luhansk nach russischer Gesetzgebung. Drei ukrainische Kriegsgefangene wurden mit Haftstrafen zwischen achteinhalb und achtzehneinhalb Jahren belegt. Zwei der drei Verurteilten gehörten dem Asow-Regiment an, das der ukrainischen Nationalgarde untersteht und in Russland als terroristische Vereinigung eingestuft ist. Der dritte Verurteilte, Maksym Butkevych, ein in der Ukraine bekannter Journalist und Menschenrechtsaktivist, der sich voriges Jahr freiwillig zur Armee gemeldet hatte, erhielt 13 Jahre Haft. Er war als Kommandeur einer kleinen Truppeneinheit den regulären Streitkräften zugeteilt, verbrachte allerdings nur wenige Tage an der Front, bis er in russische Kriegsgefangenschaft geriet (In der Hand des Gegners: Kriegsgefangene und Kollaborationsvorwürfe in der Ukraine, Jungle World 29/2022).

Ihnen allen wurde die Anwendung »unzulässiger Methoden« und ein »brutaler Umgang mit der Zivilbevölkerung« zur Last gelegt. Butkevychs Anwalt, der für eine russische Menschenrechtsorganisation tätig ist, wurde vom Gericht über den bevorstehenden Prozess gar nicht erst informiert und erhielt auch keinen Zugang zu den Ermittlungsakten. Nur ein lokaler Pflichtverteidiger stand pro forma zur Verfügung. Butkevych soll gestanden haben, Anfang Juni 2022 mit einer Panzerfaust auf ein Wohnhaus in Sjewjerodonezk in der Oblast Luhansk geschossen zu haben, wobei zwei Frauen verletzt worden seien.

Auf einer Videoaufnahme des für den Fall zuständigen russischen Ermittlungskomitees ist dieses Geständnis festgehalten, das nicht den Eindruck erweckt, freiwillig erfolgt zu sein. Dazu kommt, dass Freunde und Verwandte über Nachweise verfügen sollen, dass Butkevych sich zum besagten Zeitpunkt in Kiew und Umgebung aufgehalten hat. Seine Einheit wurde erst Mitte Juni in den Donbass verlegt.

Dass der bevorstehende Berufungsprozess zur Aufhebung des Urteils führt, ist prak­tisch ausgeschlossen. Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass Russland daran gelegen ist, möglichst viele gefangene Ukrainer zu Haftstrafen zu verurteilen, um sie gegen in der Ukraine verurteilte russische Kriegsverbrecher zu einem späteren Zeitpunkt auszutauschen. Gefangenenaustausch soll der einzige Bereich sein, in dem beide Kriegsparteien noch miteinander verhandeln.