In diesem Jahr wäre der Filmemacher Erwin Leiser 100 Jahre alt geworden

Die ständige Möglichkeit des Menschlichen

Der Filmemacher Erwin Leiser wäre am 16. Mai 100 Jahre alt geworden. Der vor allem für seine Dokumentationen über den Nationalsozialismus bekannte Leiser war nicht nur erster künstlerischer Direktor der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin, er drehte auch Porträts über Künstler und Dokumentationen über die Atombombe.

»Jedes Bild in diesem Film ist authentisch. Alles, was hier gezeigt wird, ist geschehen.« Diese Anmerkung ist dem Film »Mein Kampf« vorangestellt, dem ersten abendfüllenden Dokumentarfilm von Erwin Leiser aus dem Jahr 1960. Sie verdeutlicht, wie sehr das filmische Material aus der nationalsozialistischen Vergangenheit, das Leiser vor allem aus Archiven der DDR erhielt, damals noch der Beglaubigung bedurfte. Der Kompilationsfilm sei, wie es im Vorspann heißt, »eine Warnung an die Lebenden und mahnt uns an das Recht jedes Menschen, als ein Mensch zu leben«; und er endet mit dem eindringlichen Appell: »Es darf nicht wieder geschehen. Nie wieder.«

»Mein Kampf« montiert disparate filmische und fotografische Archivmaterialien – etwa Propagandaaufnahmen, Filmszenen aus »Triumph des Willens« von Leni Riefenstahl, Fernsehberichte oder Aufnahmen aus dem Warschauer Ghetto – mit nüchtern-sachlichem Kommentar im Versuch einer getreuen Abbildung der Vergangenheit: von der Zeit des Kaiserreichs über den Ersten Weltkrieg, die Entstehung der nationalsozialistischen Bewegung, die Machtübernahme Hitlers, den Zweiten Weltkrieg, die Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden bis zum Fall des Dritten Reichs. Neben Alain Resnais’ »Nacht und Nebel« (1955) und Michail Romms »Der gewöhnliche ­Faschismus« (1965) zählt Leisers »Mein Kampf« zu den frühesten Dokumentarfilmen über den Nationalsozialismus mit enormer Reichweite. Er wurde im Lauf der Zeit in über 100 Ländern gezeigt.

Ein Student warf Leiser im Radio vor, selbst Faschist zu sein, und ein anderer erklärte ihm, dass der Faschismus auf ihn wohl eine große Anziehungskraft ausübe, sonst würde er sich kaum so eingehend mit ihm beschäftigen.

Tatsächlich verstand Leiser seine Filme bis hin zu seinem Spätwerk zuvörderst als Versuch einer getreuen Abbildung der Wirklichkeit, weniger als künstlerisches Medium zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit denn als Medium der Aufklärung über die Vergangenheit. Er war sich jedoch der Ästhetik seiner Bilder stets bewusst – und blieb ihnen gegenüber skeptisch. Entsprechend schrieb Jean Améry 1964 in einem Zeitungsaufsatz mit dem signifikanten Titel »Die Kunst der Kunstlosigkeit«: »Leiser traut, so schien mir, der eigenen Arbeit so wenig wie den Gegenständen, die er behandelt.«

Zum Film, der das primäre Medium seiner Auseinandersetzung mit und Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in Deutschland wurde, kam Leiser jedoch eher zufällig. Er wurde am 16. Mai 1923 in Berlin-Hohenschönhausen als Sohn jüdischer Eltern geboren. Sein Vater war Rechtsanwalt und Notar, dem ab 1933 das Notariat entzogen wurde, der als Teilnehmer des Ersten Weltkriegs jedoch zunächst noch als Rechtsanwalt tätig sein durfte; seine Mutter, eine Cousine Ernst Tollers, engagierte sich in der Deutschen Liga für Menschenrechte. Leiser besucht das Berlinische Gymnasium zum Grauen Kloster, an dem er sich früh antisemitischen Ressentiments ausgesetzt sah, später die Jüdische Oberschule in der Wilsnacker Straße. Am Tag nach der Reichspogromnacht 1938 entschied er sich gegen den Rat eines Lehrers, nicht in die Schule zu gehen. Seine Mitschüler und Lehrer, die zum Unterricht erschienen, wurden am 10. November in der Schule verhaftet. Leiser versteckte sich für wenige Tage in einem Abstellraum in seinem Wohnhaus und floh im Winter nach Schweden.

Zunächst kam er in einem Kinderheim der jüdischen Gemeinde Stockholms unter, machte später sein Abitur an einer Fernschule in Malmö und begann ein Studium in Lund. Währenddessen fing er auch an zu publizieren. Nach seinem Studium und Militärdienst wurde er Feuilletonredakteur bei der sozialdemokratischen Zeitung Morgon-Tidningen, verfasste daneben Theaterkritiken und übersetzte als einziger Emigrant deutschsprachige Literatur ins Schwedische, unter anderem Ingeborg Bachmann, Bertolt Brecht, Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt, die er zu jener Zeit auch persönlich kennenlernte. Nach dem Konkurs der Zeitung 1958 arbeitete er weiterhin als freier Journalist, fuhr 1959 mit seinem Nachbar Tore Sjöberg, einem Filmverleiher, nach Paris, um ihn bei der Auswahl neuer französischer Filme zu beraten. Dort sahen sie Resnais‘ »Nacht und Nebel«. Leiser überredete Sjöberg, die Rechte für Schweden zu kaufen. Um den nur 32 Minuten langen Film als abendfüllende Vorstellung im Kino zeigen zu können, produziert Leiser spontan seinen ersten Film »Nie wieder«, einen Montagefilm über die Schlacht von Stalingrad, der in Schweden zusammen mit »Nacht und Nebel« in den Kinos gezeigt wurde.

Nach dem Film »Mein Kampf«, der zunächst in Schweden erschien, zog Leiser 1961 nach Zürich, weil er sich dort eine bessere Finanzierung seiner Filme erhoffte. Dort entstanden 1961 »Eichmann und das Dritte Reich« sowie 1963 »Wähle das Leben«, ein Dokumentarfilm über die Geschichte der Nuklearwaffen, den Abwurf der Atombombe über Hiroshima sowie die atomare Bedrohung. Nach einem Angebot des Senators für kulturelle Angelegenheiten des Landes Berlin wurde Leiser der erste künstlerische Direktor der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin, die 1966 gegründet worden war.

Leiser versuchte, die Studierenden darin zu unterrichten, den Film als ein Medium politischer Aufklärung zu nutzen, doch es zeigte nur ein geringer Teil Interesse. Die neu gegründete Akademie war institutionell noch kaum gefestigt, weshalb sie in Berlin zum bevorzugten Ort der Achtundsechziger- und Studentenproteste wurde und Erwin Leiser als Direktor schnell als autoritäre Vaterfigur in Verruf geriet. Rudi Dutschke, neben dem Leiser zu jener Zeit einmal zufällig im Flugzeug von Berlin nach Hamburg saß, warf ihm vor, die NPD zu überschätzen und überraschte ihn mit dem Satz: »Der Faschismus hat in Deutschland seine Rolle ausgespielt.« Andererseits warf ein Student Leiser im Radio vor, selbst Faschist zu sein, und ein anderer erklärte ihm, dass der Faschismus auf ihn wohl eine große Anziehungskraft ausübe, sonst würde er sich kaum so eingehend mit ihm beschäftigen. 1968 trat Leiser als Direktor der Akademie zurück.

Obwohl Leiser bis heute tatsächlich vor allem als Regisseur von Dokumentarfilmen zum Nationalsozialismus bekannt ist, behandeln nur etwa ein Drittel seiner Filme das Thema. In vielen seiner Werke, die von den siebziger bis in die neunziger Jahre entstanden, porträtierte er Schriftsteller, Schauspieler und so unterschiedliche zeitgenössische Künstler wie Hans Richter, Fernando Botero, Roman Vishniac, Willem de Kooning, Hans Fischli, James Rosenquist und Berenice Abbott.

Insbesondere jedoch seine Filme zum Nationalsozialismus dienten nie bloß der Aufarbeitung der Vergangenheit, sondern immer auch der Auseinandersetzung mit der Gegenwart. So verstand Leiser seine Filme in den neunziger Jahren auch als Reflexion der rassistischen Ausschreitungen und Mordanschläge zu jener Zeit. »Der gemeinsame Nenner für alle meine Arbeiten ist der Wunsch, in einer Welt, die immer unmenschlicher wird, die ständige Möglichkeit des Menschlichen aufzuzeigen«, schrieb er in seinen Erinnerungen, die 1993 unter dem Titel »Gott hat kein Kleingeld« publiziert wurden.

Für »Pimpf war jeder«, seinem vielleicht eindrücklichsten Film, interviewte Leiser im selben Jahr seine jüdischen und nichtjüdischen Mitschüler aus dem Gymnasium zum Grauen Kloster. Leiser, der in dem Film auch selbst auftritt, verzichtete auf einen erklärenden Kommentar oder eine moralisierende Haltung zu den Aussagen derjenigen, die ihn damals als Juden körperlich angegriffen, beleidigt und verspottet hatten, aber vor Verdrängung, Schuldabwehr und sekundärem Antisemitismus nur so strotzen. Leisers Filme, und das ist das Charakteristikum seines dokumentarischen Verfahrens, urteilen nicht unmittelbar, aber das ­Gezeigte provoziert ein Urteil des Zuschauers. Darin liegt der aufklärerische Gestus seiner Filme. Erwin Leiser starb am 22. August 1996 in Zürich.