Vedran Džihić, Politikwissenschaftler, im Gespräch über die Protestbewegung in Serbien

»Vučić ist ein gewiefter Stratege«

In Serbien kam es im Mai nach zwei tödlichen Amokläufen zu großen Protesten gegen die Regierung. Ein Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Vedran Džihić über die Gewaltverherrlichung in Serbien sowie den autokratischen Regierungsstil von Präsident Aleksandar Vučić.
Interview Von

Am 3. Mai erschoss ein 13jähriger in seiner Belgrader Schule neun Mitschülerinnen und Mitschüler und den Schulwächter. Einen Tag später fuhr ein 21jähriger mit Schusswaffen durch zwei Dörfer nahe der Hauptstadt und ermordete acht Menschen. Wie ordnen Sie die Taten politisch und gesellschaftlich ein?
In der Regel ist es so: Wenn infolge solcher Amokläufe Proteste ausbrechen, verweisen die Gewalttaten auf ein strukturelles Problem innerhalb der Gesellschaft. In diesem Fall ist das Problem die Normalisierung und Verherrlichung von Gewalt in Serbien, aber auch in anderen Gesellschaften des Westbalkan. Das liegt unter anderem an der unzureichend aufgearbeiteten Vergangenheit: Verurteilte Kriegsverbrecher werden in Serbien bis heute glorifiziert. Hinzu kommt, dass die serbische Gesellschaft sehr patriarchal organisiert ist, es gibt ein hohes Maß an maskuliner Gewalt. Männer und Jungs, die sich stark mit Waffen zeigen, gehören zum Alltag. Es sind sehr viele Waffen im Umlauf.

Wie äußert sich das noch?
Die beiden Amokläufe sind nicht die ersten derartigen Gewalttaten. In Serbien gibt es zudem so viele Femizide wie in kaum einem anderen europäischen Land. Und: Die öffentliche Kommunikation in Serbien ist sehr gewaltgeladen. Die regimenahen Medien führen einen Diskurs, der sich auf Feindbilder stützt. Da heißt es immer wieder: »Wir sind die Guten, das sind die Schlech­ten. Die Albaner und Bosniaken sind furchtbar und wollen uns an den Kragen, wir wehren uns jetzt.« Das ist etwas, das sich in allen Teilen der Gesellschaft wiederfindet. All diese Faktoren tragen dazu bei, dass Gewalt in der serbischen Gesellschaft normalisiert ist. Die Amokläufe selbst, also den Akt an sich, erklärt das natürlich nicht. Aber es erklärt den Nährboden, auf dem solche Gewalttaten entstehen können.

Nach den Attentaten kam es im Mai es zu den größten Demonstrationen seit dem Sturz von Slobodan Milošević im Jahr 2000, dem damaligen Präsidenten der Bundesrepublik Jugoslawien, die aus den Teilrepubliken Serbien und Montenegro bestand. Mehr als 100 000 Menschen versammelten sich in Belgrad unter dem Motto »Serbien gegen Gewalt«. Wie konnten zwei voneinander unabhängige Gewalttaten eine so starke Protestbewegung auslösen?
Viele Menschen haben erkannt: »Mein Kind oder mein Freund hätte unter den Ermordeten sein können.« Der Schreckenscharakter dieser Taten ist enorm. Erst wurde die Schuld bei den Boulevardmedien und bestimmten Politikern gesucht und dann schnell das gesamte »System Vučić« in der Verantwortung gesehen. Damit zusammenhängend verurteilten die Demonstranten das autoritäre Klima, das Serbiens Präsident Aleksandar Vučić geschaffen hat.

»Man hofft in den westlichen Staaten darauf, dass solch ein prag­matischer Despot besser ist als eine fragmentierte Opposition und dass kein noch extremerer Politiker an die Macht kommt.«

Die Reaktionen von Vučić in den ersten Tagen nach den Gewalttaten haben die Wut der Protestierenden noch verstärkt. Er hat martialische Töne angeschlagen, sagte beispielsweise, er wünsche sich die Wiedereinführung der Todesstrafe, und dass man den 13jährigen Täter in einen Kerker werfen werde. Er hat kaum Einsicht gezeigt in sein eigenes Verschulden: dass er das »Klima der Gewalt«, das die Protestierenden kritisieren, weiter schürt.

Zu welchem politischen Lager gehören die Protestierenden?
Es gibt oppositionelle politische Parteien, die die Proteste unterstützen: Das ist sowohl die sozialdemokratische Demokratska Stranka als auch die links-grüne Koalition Moramo. Eine große Rolle spielt die breite Emotionalisierung. Die Menschen sind enttäuscht und voller Angst. Viele haben sich bislang nicht getraut, auf die Straße zu gehen. Aber jetzt sagen sie: »Es geht um uns, es geht um unsere Kinder.«

Was sind ihre konkreten Forderungen?
Von Beginn an ging es um den Rücktritt des Bildungsministers Branko Ružić, des Innenministers Bratislav Gašić sowie des Geheimdienstdirektors Aleksandar Vulin, des Weiteren um den Entzug der Lizenzen staatlicher Fernseh- und Rundfunksender und um die Einschränkung der Boulevardmedien. Diese, so der Vorwurf, verherrlichten Gewalt. Vučić reagierte nicht ungeschickt auf diese Forderungen. Er hat die vielkritisierte Reality-Show »Zadruga« absetzen lassen, die Gewalttaten gegen Frauen zeigte. Ružić ist zurückgetreten. Möglicherweise wird es weitere Zugeständnisse geben, um die Proteste abzuschwächen. Was aber bleibt, ist die ganz große Forderung, die sich herauskristallisiert hat: das Ende des Regimes.

Vuić und seine Gefolgsleute kontrollieren die meisten Medien, die Justiz und einen Teil der Wirtschaft, Kritiker werfen ihm einen autoritären Regierungsstil vor. Vučić verkündete schließlich, er ziehe sich vom Vorsitz seiner Serbischen Fortschrittspartei (SNS) zurück. Was hat es damit auf sich?
Das ist eine politische Finte. Er weiß ganz genau, dass er der starke Mann der SNS bleiben wird. Mit diesem Schritt will er sich von den Schwächen seiner Partei und ihren Fehlern distanzieren, damit diese nicht direkt auf ihn zurückfallen. Außerdem kündigte er Pläne zur Gründung einer neuen überparteilichen Bewegung in Serbien an.

»Volksbewegung für den Staat« nannte Vučić sie Anfang des Jahres; er wolle damit gezielt Menschen außerhalb der Parteien ansprechen und die serbische Bevölkerung einen, hatte er einem serbischen Fernsehsender gesagt. Kritiker werfen ihm vor, er plane das politische System in Serbien noch stärker auf seine Person zuzuschneiden.
Solche Bewegungen bekommen Legitimität dadurch, dass sie als neu und unbelastet auftreten. Aber es ist paradox, Vučić war ja die ganze Zeit schon da. Dahinter steckt eine autoritäre und populistische Gleichsetzung seiner selbst mit der gesamten serbischen Bevölkerung. Und wieder nutzt er dabei die Einteilung der Bevölkerung, die üblicherweise Populisten verwenden. Diejenigen, die der Bewegung beitreten, gelten als Patrioten, Kritiker hingegen gelten als schlechte Serben.

Am 26. Mai hatte Vučić zu einer Gegenkundgebung in Belgrad aufgerufen, an der Hunderttausende teilnahmen. Kurz davor sprach er von der »größten Kundgebung in der Geschichte Serbiens«. Mitarbeiter in staatlichen Betrieben und der Verwaltung bekamen dafür den Tag frei. Einige sagten allerdings, ihnen sei mit dem Verlust ihres Arbeitsplatzes gedroht worden, sollten sie nicht an der Kundgebung teilnehmen.
Die mächtige Regierungspartei SNS hat 800 000 Mitglieder. Die oppositionelle Parteiorganisierung hingegen kann allein solch eine große Menschenmasse nicht auf die Straße bringen. Zuerst hat Vučić versucht, die Massenproteste der Opposition zu diskreditieren. In den Boulevardmedien saßen dann sogenannte Experten, die erklärten, dass hinter den Demonstrationen ausländische Geheimdienste steckten und dass die Protestierenden keine guten Serben seien. Die zweite Masche ist die Gegenmobilisierung, die Vučić auch schon in der Vergangenheit öfters angewendet hat. Menschen nahmen teilweise gegen Bezahlung an der Gegenkundgebung teil. Die Boulevardmedien zeigen dann: »Hinter unserem Präsidenten steht eine breite Masse.« Die Propagandamaschinerie macht die Kundgebung noch größer, als sie tatsächlich ist, während sie versucht, die Opposition kleinzureden. Und tatsächlich hat die von Vučić organisierte Kundgebung letztlich die oppositionellen Proteste zahlenmäßig nicht übertroffen.

Wie schätzen Sie den Druck auf Vučić ein?
Das Regime ist zäh. Vučić übt weiterhin die Kontrolle über die Institutionen aus und hat dadurch finanziell und strukturell große Macht. Er kontrolliert die Medien und kann dadurch den öffentlichen Diskurs bestimmen. Und der Westen akzeptiert ihn weiterhin als Stabilitätsfaktor. Es gibt die These der »Stabilokratie«.

Ein Neologismus für einige Staaten des Balkan, die zwar keine Dikta­turen sind, in denen aber um einer vermeintlichen Stabilität willen ­demokratische und rechtsstaatliche Standards dauerhaft verletzt werden …
Vučić zeigt sich in bestimmten Dingen pragmatisch, wie bei der Lieferung von Munition an die Ukraine. Man hofft in den westlichen Staaten darauf, dass solch ein pragmatischer Despot besser ist als eine fragmentierte Opposition und dass kein noch extremerer Politiker an die Macht kommt. Auch die Unterstützung aus dem Westen verleiht Vučić also Macht.

Zugleich verschärft sich derzeit die Situation in jenen Gemeinden im Norden des Kosovo, in denen Serben die Mehrheit stellen. Diese hatten die Kommunalwahlen boykottiert. Ende Mai protestierten serbische Demonstranten gewaltsam gegen die Einsetzung der albanischen Bürgermeister, die aufgrund des Boykotts mit einer Wahlbeteiligung von kaum drei Prozent gewählt worden waren.
Die Situation dort kommt Vučić zugute. Er ist ein gewiefter Stratege: Denn jetzt kann er abermals die nationalistische Schallplatte auflegen und von den Massenprotesten im eigenen Land ablenken.

Was ist Ihre Prognose für den weiteren Verlauf der Proteste?
Es wäre ein starkes Zeichen der serbischen Opposition, wenn die Beteiligung an den Protesten trotz der Kosovo-Frage hoch bleibt. Sollte das der Fall sein, ist meine Prognose, dass Vučić noch nervöser wird. Infolgedessen wären Neuwahlen denkbar oder gar ein Sturz des Regimes. Das wünschen sich viele demokratisch eingestellte Serben.