Die Reformprojekte der linken ­kolumbianischen Regierung kommen nicht voran

Umstrittener Wandel

Nach anfänglichen Erfolgen steckt die Regierung des linken Präsi­den­ten Kolumbiens, Gustavo Petro, in der Krise. Ihre Reformen kommen nicht voran.

Am 20. Juni hat die vorerst letzte Demonstration gegen die Regierung von Gustavo Petro in der kolumbianischen Hauptstadt Bogota stattgefunden. »Auf der Plaza Bolívar hat sich die Menge versammelt, und es waren nicht nur die Besserverdienenden, die sich gegen die Regierung Petro aussprachen«, so Carlos Ojeda, der Direktor der Menschenrechtsorganisation Fasol (Solidaritätsfonds für kolumbianische Richter). Sein Büro liegt nicht weit von diesem Platz entfernt, der von den Gebäuden des Parlaments, der Stadtverwaltung und des Verfassungsgerichts eingefasst ist.

»Der Widerstand gegen die Regierung von Präsident Gustavo Petro nimmt zu, und dafür ist die Regierung mitverantwortlich. Sie bietet Angriffsfläche, hat einige strategische Fehler gemacht«, meint Ojeda. Das zeige der Skandal um Armando Benedetti, ehemaliger Wahlkampfmanager Petros und bis Anfang Juni Botschafter des Landes in Venezu­ela, und seine Generalstabschefin Laura Sarabia, aber auch der Streit im Kabinett.

Etwas mehr als ein Jahr nach seinem Sieg in der Stichwahl zur Präsidentschaft hat Petro vom linken Parteienbündnis Pacto Histórico (Historischer Pakt) die Unterstützung der Bevölkerungsmehrheit verloren. Bei seinem Amtsantritt im August vorigen Jahres genoss er in einer Umfrage des Instituts Invamer die Zustimmung von 56 Prozent der Befragten, im Juni waren es nur noch 33 Prozent.

Am 2. Juni traten Sarabia und Bene­det­ti zurück, nachdem öffentlich bekannt geworden war, dass sie gegeneinander einen rücksichtslosen Machtkampf geführt hatten. Unter anderem ging es um illegales Abhören und Wahlkampfspenden dubioser Herkunft. Der Skandal zeigte, dass mit der umfangreichen Kabinettsumbildung fünf Wochen zuvor keine Stabilität in der Regierung eingekehrt war.

Die Regierung steht vor der Herausforderung, ohne parlamen­tarische Mehrheit Reformprojekt für Reformprojekt durchzufechten.

Der Pacto Histórico und seine linken Verbündeten verfügen über keine ­par­lamentarische Mehrheit, Petro hatte deshalb bei seinem Amtsantritt im August vergangenen Jahres die Führung mehrerer Ministerien Politiker:innen anderer Parteien oder parteilosen Kan­di­dat:innen übertragen. Doch das Ex­periment scheiterte, Ende April mussten sieben Minister:innen, darunter fünf, die anderen Parteien angehören, nämlich im Finanz-, IT-, Agrar-, Transport- und Innenministerium, gehen. Der Auslöser war Uneinigkeit im Kabinett über eines der Kernvorhaben der Regierung: die Gesundheitsreform. Etliche der privaten Gesundheitsunternehmen, die derzeit das System tragen, sind hochverschuldet. Die Reform soll die öffentliche Kontrolle über die verwendeten Finanzmittel wiederherstellen und den Zugang zur Gesundheitsversorgung verbessern. Eine Mehrheit in den beiden Parlamentskammern, Senat und Repräsentantenhaus, kam nicht zustande, und das gilt auch für zwei weitere Reformprojekte der Regierung Petro: die Renten- und die Arbeitsmarktreform.

Diese drei Reformvorhaben bilden den Kern der sozialen Pläne, die die Regierung von Gustavo Petro vorgelegt hat – neben 31 weiteren Gesetzesprojekten. Das sei zu viel des Guten, meint Carlos Ojeda. Mehr Strategie hätte sich der Kommunikationswissenschaftler von der neuen Regierung gewünscht, die an zu vielen Stellen gleichzeitig aktiv sei und sich zu verzetteln drohe. So lassen sich die erforderlichen Mehrheiten in den beiden Parlamentskammern nicht gewinnen.

Letzteres gibt auch Alirio Uribe Muñoz, ein Abgeordneter des Pacto Histó­rico im Repräsentantenhaus, zu. Er bescheinigt der Vielzahl der Vorhaben aber auch einen positiven Effekt. »Die Regierung wollte zeigen, dass sie es mit dem strukturellen Wandel ernst meint, wollte dringende Reformen nicht auf die lange Bank schieben, sondern gleich auf den Tisch legen. Das ist ungewöhnlich, aber engagiert«, urteilt der 62jährige Menschenrechts­anwalt. Er ist froh, dass die Regierung sich nun mit einem homogeneren Kabinett neu aufstellen könne.

Allerdings steht die Regierung weiter vor der Herausforderung, dass sie Reformprojekt für Reformprojekt durchfechten muss. Das wird dauern, denn erst am 20. Juli tritt das Parlament wieder zusammen und der Widerstand gegen die Vorhaben ist teils immens, so zum Beispiel bei der Reform des Arbeitsmarkts. »Die Unternehmen laufen Sturm, obwohl grundlegende Arbeitsrechte wie Überstundenregelungen letztlich nur an internationale Standards angepasst werden sollen, was auch die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) angemahnt hat«, so Francisco Maltés, der ehemalige Vorsitzende der CUT, des größten kolumbianischen Gewerkschaftsbunds. »Wir werden für die Arbeitsrechtsreform auf die Straße gehen.« Auch in den Gewerkschaften ist nach dem fulminanten Start der Regierung Petro mit der Verabschiedung der Steuerreform, die Reiche und Großunternehmen stärker belastet, im November vorigen Jahres Ernüchterung eingekehrt.

Die Steuerreform ermöglicht die ­Finanzierung von Projekten wie dem Bau von Krankenhäusern in abgelegenen Regionen, zum Beispiel dem an der Grenze zu Ecuador liegenden Departamento Nariño, und die geplante Wiederaufnahme des Baumwollanbaus in Kolumbien. Die Erfolge der Regierung schaffen es jedoch oft kaum in die reichweitenstarken Medien. Egal ob Zeitungen, Radio- oder Fernsehsender, die großen Medienhäuser sind in den Händen großer Wirtschaftskonglomerate, die wiederum jenen Familien gehören, die ökonomisch den Ton in Kolumbien angeben. Das wirkt sich auf die Berichterstattung aus, was Medienorganisationen wie die Stiftung für die Pressefreiheit (Flip) schon lange monieren.

Allerdings hat die Regierung selbst kein stimmiges Kommunikations­konzept. »Wir erklären zu wenig, rücken unsere Erfolge nicht in das richtige Licht. Bestes Beispiel ist die Tatsache, dass Gustavo Petro erst im April, neun Monate nach seiner Vereidigung, das neue Direktorium des öffentlichen Senders RTVC vorstellte«, sagt Uribe Muñoz. Er sieht darin ein gravierendes Versäumnis, die bisherige Bilanz der Regierung Petros bezeichnet er als durchwachsen, aber positiv.

Als Erfolg kann auch der Waffenstillstand mit dem Ejército de Liberación Nacional (ELN) gelten. Die auf 2.500 bis 3.000 Kämpfer:innen geschätzte Guerilla ist in einigen Regionen des Cauca, eines der gefährlichsten Departamentos Kolumbiens, bereits weitgehend verschwunden. Die unterhalb Calis gelegene Region ist für den Kaffeeanbau, aber auch für die Produktion von Koka und Marihuana bekannt. Auch beim Kampf gegen diese illegale Drogenwirtschaft hat die Regierung Fortschritte erzielt. Vor allem bei der Ver­arbeitung von Koka zu Kokain stockt das Geschäft. Chemikalien für die Verarbeitung seien knapp, heißt es von kolumbianischen Experten. Hinzu kommt, dass mehrere Anführer kleiner Clans und Kartelle in Kolumbien festgesetzt wurden und sich offenbar auch die Armee unter der neuen Regierung disziplinierter verhält.

Der persönliche Einsatz bringt Petro Rückhalt bei denen, die ihn und Vizepräsidentin Francia Márquez mehrheitlich gewählt haben: indigene und afrokolumbianische Menschen.

In der Region von La Sierra, rund eine Autostunde im Süden von Popayán, der Hauptstadt des Cauca, ist es während der laufenden Kaffeeernte einfacher als früher, Erntehelfer zu bekommen. »Die Pflücker kehren von den Kokafeldern zurück, weil dort weniger als früher bezahlt wird«, meint Eduard Carvajal. Er baut Avocados auf drei Hektar an, ist auf Erntehelfer angewiesen und arbeitet nebenbei für eine kleine Kaffeegenossenschaft.

Das sind kleine Erfolge, die das Leben in einigen Regionen des Landes verändern. Viele bewerten es auch positiv, dass Petro sich Ende Juni für eine Woche mit seinem gesamten Kabinett in die Region La Guajira begeben hat, um mit Hilfe von Notstandsmaßnahmen der dortigen humanitären Krise, dem Mangel an Wasser und Nahrungsmitteln, zu begegnen. Die Halbinsel im Nordosten des Landes an der Grenze zu Venezuela ist schon seit Dekaden eine Armutsregion, und der Klimawandel bereitet zusätzliche Probleme bei der Wasserversorgung. Seit Jahren hat es die omnipräsente Korruption in der Politik verhindert, dass funktionierende Wasserversorgungs- und Speichersysteme in der semiariden Region in­stalliert wurden, worunter vor allem die Ethnie der Wayuu leidet.

Der persönliche Einsatz bringt Petro Rückhalt bei denen, die ihn und Vizepräsidentin Francia Márquez mehrheitlich gewählt haben: indigene und afrokolumbianische Menschen. Doch deren Erwartungen sind hoch, weshalb die Stimmung in Kolumbien schnell umschlagen kann, wenn die Reform­politik nicht vorankommt. Auch seine Anhänger:innen gehen immer wieder auf die Straße. Doch was passiert, wenn die Opposition weitere Reformen dauerhaft blockiert? Darauf weiß auch Alirio Uribe Muñoz keine Antwort.