Beim Spazierengehen aufs Handy starren oder sich dem Umherschweifen hingeben?

In der Betonhölle

Kolumne übers Spazierengehen. Unterwegs revolutionäre Distanz wahren oder doch lieber aufs Handy glotzen?

Mit romantischem Blick schaut man manchmal auf das Lustwandeln vergangener Zeiten zurück, in denen das Flanieren noch für Zerstreuung sorgte. Kein Wunder, beschreibt der Spaziergang doch im eigentlichen Sinne das ziellose Sich-treiben-Lassen, sich ganz der Umgebung hingeben, ohne Eile wahrzunehmen, ohne offensichtlichen Sinn.

Diese Übung ist für den Stadtbewohner gar nicht so einfach. Schon beim alltäglichen Gang von der eigenen Haustür zur Arbeitsstätte macht der Arbeitsweg – nomen est omen – seinem Namen wirklich alle Ehre, erinnert er doch an die klassischen Jump ’n’ Runs, jene Videospiele aus den Neunzigern, bei denen die Spielfigur Hindernissen gekonnt ausweichen muss. Die »Klimakleber« kommen einem da vielleicht in den Kopf, sind hier aber explizit nicht gemeint.

Eigentlich haben es die Situationisten bereits vorgemacht: Sie etablierten den Begriff des Dérive, eine neue Art, um der städtischen Umgebung durch zielloses Umherschweifen neue Beachtung zu schenken – und um sich auf revolutionäre Weise der Funktion des Stadt, nämlich dem Zwang zur Arbeit und Freizeit, zu entziehen.

Als Franziska Giffey noch als Regierende Bürgermeisterin im Roten Rathaus saß, konnte man sie – nicht selten begleitet von Kamerateams – mit ihren Termingästen beim Spazieren durch Berlins Mitte beobachten. Natürlich quietschfidel, eloquent und dynamisch.

In der Betonhölle, dort, wo laut einem S.Y.P.H.-Song »der Mensch noch Mensch« sein kann, wird man allerdings schnell von den hehren politischen Ansprüchen abgelenkt: Vor gar nicht allzu langer Zeit irritierten noch die vielen Menschen, die offenbar Selbstgespräche auf offener Straße führten – dabei telefonierten sie lediglich mit Hilfe ihrer kabel­losen Kopfhörer.

Es braucht Übung, das Smartphone in der Tasche zu lassen und die ­Ohren nicht mit Musik oder Podcasts zu malträtieren. Selbst ein harm­loser Schaufensterbummel kann, mit Handy in der Hosentasche, zur unweigerlichen Selbstoptimierung führen, blinkt doch auf dem Display nach 10.000 Schritten ein Hinweis auf, dass man sein Soll für den Tag erfüllt hat. Schöne neue Welt!

Der Spaziergang macht auch vor der Politik nicht Halt: Als Franziska Giffey noch als Regierende Bürgermeisterin im Roten Rathaus saß, konnte man sie – nicht selten begleitet von Kamerateams – mit ihren Termingästen beim Spazieren durch Berlins Mitte beobachten. Natürlich quietschfidel, eloquent und dynamisch. Etwas durchschaubar, jedoch besser als die Spatzenhirn-Gänger der Montagsdemonstrationen, die zwar orientierungslos, aber im Gleichschritt »spazieren«…