Erinnerung an den 45. Todestag des ­Essayisten und Holocaust-Überlebenden Jean Améry

Gnade den Opfern

Am 17. Oktober 1978 starb Jean Améry. Die Erforschung des Antisemitismus als akademische Disziplin war ihm fremd, Améry versuchte, ihn aus der eigenen Leiderfahrung als Lust an der Gewalt zu begreifen.

Das Verlangen einzugreifen, um die Relativierung im Nachkriegsdeutsch­land zu stören, kennzeichnet das Werk Jean Amérys bis zum Schluss. Noch 1978 – und damit in dem Jahr, in dem er sich das Leben nimmt – meldet er sich in der Debatte über die Verjährung der NS-Verbrechen zu Wort: »Aber alles Humane fordert – nicht ›Recht‹, das es hier nicht geben kann, noch Rache, die unausdenkbar wäre! – nur daß man die Opfer begnadigt, nicht die Henker.«

Damit greift Améry in einem seiner letzten Texte einen Gedanken auf, der ihn seit seinen frühesten Versuchen, die nationalsozialistische Herrschaft und die eigene Verfolgungsgeschichte essayistisch zu fassen, beschäftigt hat: das Verhältnis von Opfern und Tätern, sowohl während des Nationalsozialismus als auch davor und danach. Sind seine Reflexionen über die deutsche Nachkriegsgesellschaft gekennzeichnet von einer ­distanziert-wachsamen Skepsis und einem bewusst gehegten Ressentiment gegen die Deutschen, nähert er sich in seinen Essays über den Nationalsozialismus der Verfolgungs- und Vernichtungspolitik durch präzise und schmerzhafte Introspektion an.

Was Améry in seinen biographischen Texten über das Verhältnis von Opfer und Täter, über das Opfersein und Opferwerden schreibt, gewährt Einsichten in die Vernichtungsmaschinerie, die weit über die subjektive Erfahrung hinausreichen. So lässt sich aus seinen Texten auch eine Beschreibung des Antisemitismus ­herauslesen, die in ihrer Klarsicht bis heute wertvoll ist.

Bereits im Juni 1945 – also wenige Wochen, nachdem er im April von britischen Truppen aus dem KZ Bergen-Belsen befreit wird – vollendet Améry seinen ersten Text über die NS-Herrschaft, der zeitlebens unveröffentlicht bleibt. In dem Aufsatz »Zur Psychologie des deutschen Volkes«, der erst in der seit 2004 erschienenen Werkausgabe der Öffentlichkeit zugänglich wurde, ist noch deutlich Amérys Prägung durch den Positivismus des Wiener Kreises erkennbar: Améry trennt in dem früheren Text scharf zwischen der »Elite«, der »Masse des Volkes« und der »Opposition«, betont die eigene Objektivität, lässt die eigene Betroffenheit und Leiderfahrung fast vollständig unberücksichtigt und geht von einer »Besserungsfähigkeit« der Deutschen aus. Der Antisemitismus als ideologischer Kern der Nationalsozialismus wird hier noch primär als Herrschafts­instrument verstanden, das vor allem durch die Propaganda in die breiten Massen der deutschen Bevölkerung gewirkt habe.

Erst in seinen späteren Essays zieht Améry seine eigene Leiderfahrung heran, um über den Nationalsozialismus und die eigene Verfolgung nachzudenken. Versucht sich Améry in seinem Text von 1945 noch an der Beantwortung der Frage, wie die nationalsozialistische »Erziehung zur Unmenschlichkeit« Judenhass in einer von Améry als nicht per se antisemitisch eingeordneten Gesellschaft verbreiten konnte, geht es ihm in dem 1966 veröffentlichten Aufsatz »Jenseits von Schuld und Sühne« um die eigene Gewalterfahrung und die Frage, wie er zum Opfer gemacht wurde. Dabei spielt für Améry, der sich in seiner Jugend weder kulturell noch religiös dem Judentum zugehörig fühlt und dem auch später eine positive Aneignung des Judentums unmöglich bleibt, der »Zwang« zum »Judesein«, die fremdbestimmte und gewaltsame Identifikation, eine zentrale Rolle.

In seinen Aufsätzen »Mein Judentum« und »Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein« beschreibt Améry diesen Vorgang: Er zeichnet nach, wie er 1935 bei der Zeitungs­lektüre erkennt, dass er durch die kategorialen Bestimmungen der Nürnberger Gesetze »in aller Form und mit aller Deutlichkeit zum Juden gemacht« wurde. »Jude sein, das hieß für mich von diesem Anfang an, ein Toter auf Urlaub zu sein, ein zu Ermordender, der nur durch Zufall noch nicht dort war, wohin er rechtens gehörte, und dabei ist es in vielen Varianten, in manchen Intensitätsgraden bis heute geblieben«, schreibt er in »Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein«. Die Fremdbestimmung bedeutet für ihn nicht nur den Ausschluss aus dem ländlichen Österreich als seiner »Heimat«; in der Rückschau erkennt er auch eine direkte Linie von dem »Welturteil«, wie er die Nürnberger Gesetze umschreibt, »bis nach Treblinka«.

Entgegen seiner noch 1945 festgehaltenen Annahme einer »Besserungsfähigkeit« drückt sich sowohl in den Essays in »Jenseits von Schuld und Sühne« als auch in seinen späteren Texten zur deutschen Erinnerungskultur, zum Umgang mit der NS-Vergangenheit und zu seiner wachsenden Sorge über den Zustand der deutschen Linken die Erkenntnis aus, dass der immer latent gewaltförmige Antisemitismus nach 1945 keineswegs überwunden ist. In seinem 1969 erschienenen Essay »Der ehrbare Antisemitismus« sieht er »die Barrikade vereint mit dem Spießer-Stammtisch gegen den Staat der Juden«, wie es im Untertitel des in der Zeit erschienen Aufsatzes heißt.

In seinem 1976 erschienenen Text »Der neue Antisemitismus« verdeutlicht Améry, warum der Kampf gegen den Antisemitismus »ein Verfahren in Permanenz« bedeutet. Angewidert von einem als »Anti­zionismus« getarnten Antisemitismus sieht er sich aus der politischen Linken, der er sich zugehörig fühlte, vertrieben. Améry beschreibt, wie die deutsche Linke treffsicher genau Israel als jenen Staat identi­fiziert, den es des Fortschritts willen zu negieren gilt. Wieder geht die sich nun links gebende Feindbestimmung mit der Vorstellung und ­Legitimation von Gewalt einher.

»Jude sein, das hieß für mich von diesem Anfang an, ein Toter auf Urlaub zu sein, ein zu Ermordender, der nur durch Zufall noch nicht dort war, wohin er rechtens gehörte.« Jean Améry

Die Aktualität von Amérys Reflexionen über den Antisemitismus liegt in ihrer subjektiv-schonungslosen Annäherung an den Gegenstand, die es vermeidet, sich in Ab­straktion zu verlieren. Améry verleiht damit einer scheinbar basalen, aber stets erinnerungswürdigen ­Erkenntnis Ausdruck: Antisemitismus ist nie bloße Ideologie oder ein Denken in Vorurteilen, sondern untrennbar mit der Gewalt verbunden, die er sowohl ankündigt als auch rechtfertigt. Dabei werden in seinem Spätwerk auch die Grenzen seiner subjektiven »Phänomenologie der Opfer-Existenz« sichtbar: Wenn Améry in seinem Essayband »Über das Altern« von der »Ver-Nichtung des alternden Menschen« durch die Gesellschaft schreibt, manifestiert sich in der Formulierung zwar eine für ihn nur als Wiederholung wahrnehmbare Erfahrung von Fremdwerdung, doch birgt das zu seinen ­früheren Texten parallel anmutende sprachliche Bild zumindest die Gefahr, die ganz objektiven Unterschiede der beiden Leidsituationen zu verwischen.