Donnerstag, 18.01.2018 / 21:53 Uhr

Multikulturalismus: 'Eine zutiefst reaktionäre Sichtweise'

Von
Aus dem Netz

Kenan Malik in einem sehr lesenswerten Interview:

Im deutschsprachigen Raum redet man gern von «Parallelgesellschaften» und stellt diese als Problem dar. Sind sie das – solange alle sich an die Gesetze halten und keiner den anderen stört?
Das Problem ist ja nicht, dass es Differenzen gibt, sondern die Basis, auf der diese auftreten und verhandelt werden. Solche Differenzen gab es immer. Nach 1918 gab es in Deutschland grosse Konflikte zwischen Kommunisten und Monarchisten. Die Unterschiede zwischen Parallelgesellschaften im Deutschland des Jahres 1918 waren sehr viel grösser, als sie dies heute sind. Aber diese Differenzen waren eben in erster Linie politischer, nicht kultureller Natur.

 

Haben die Probleme, über die wir in diesem Zusammenhang reden, nicht vor allem mit dem Islam zu tun? Niemand hier in England beklagt sich über die mangelnde Integrationsfähigkeit von Hindus oder Sikhs, in Deutschland redet keiner über Vietnamesen und in der Schweiz niemand mehr über die Tamilen.

Ja, aber vor 30 Jahren hätten die Leute in England gesagt, wir hätten kein Problem mit Muslimen, sondern mit Afrokariben, die sich nicht integrieren wollten. Im 19. Jahrhundert nannte man die Chinesen die gelbe Gefahr. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts dachte man, die Juden hätten einen Lebensstil, der mit der britischen Nation nicht vereinbar wäre. In den Dreissigern wurden in Frankreich Portugiesen und Italiener als Problem empfunden. Und nach dem Zweiten Weltkrieg galten in England Asiaten und Schwarze als Problem.

Dass sich diese Sorgen als unberechtigt herausgestellt haben, muss ja noch nicht heissen, dass es die heutigen Sorgen in Bezug auf den Islam auch sein müssen. Immerhin haben wir es mit islamistischem Terrorismus zu tun.
Einverstanden, wir haben ein massives Problem mit islamistischer Gewalt. Dennoch sollten wir nicht so tun, als hätten wir bei der Integration von Muslimen Probleme, die vollkommen neu wären. Ethnische Gemeinschaften haben sich schon immer abgeschottet – und die Mehrheitsgesellschaft hatte auch immer schon Angst vor ihnen.

Wer den Islamismus oder auch den Islam an sich kritisiert, muss sich nicht selten den Vorwurf der Islamophobie gefallen lassen.
Von diesem Begriff halte ich überhaupt nichts. Wer von Islamophobie redet, verwechselt zwei Dinge: Kritik am Islam und Hass auf Muslime. Die Kritik am Islam sollte keine Grenzen kennen, er sollte hinterfragt werden dürfen wie jede andere Religion oder jede politische Bewegung. Diskriminierung und Hass gegen Muslime gibt es natürlich, aber im Zuge von deren Bekämpfung sollten wir nicht Religionskritik unmöglich machen. Wer da nicht sauber unterscheidet, erlaubt es Rassisten, sich zu verstecken. Die können dann sagen, man wolle ihnen den Mund verbieten, dabei übten sie doch nur Religionskritik. Andererseits können Islamisten jegliche Kritik am Islam abblocken, indem sie diese als rassistisch verunglimpfen.

In Ihrem Buch nehmen Sie eine scharfsinnige Analyse vor, doch Lösungsvorschläge machen Sie keine. Auch wenn das als Intellektueller nicht unbedingt Ihre Aufgabe ist: Was würden Sie tun?
Zunächst einmal müssten wir darüber nachdenken, wie wir Freiheit und Gleichheit verteidigen können. Vor allem das Verständnis von Gleichheit hat sich in den letzten 20 bis 30 Jahren vollkommen verändert. In meiner Jugend forderten wir das Recht, trotz aller Unterschiede auf die gleiche Weise behandelt zu werden. Heute aber fordern Muslime, Schwarze oder Asiaten das Recht, eben wegen dieser Unterschiede unterschiedlich behan­delt zu werden. Dass dies eine zutiefst reaktionäre Sichtweise ist, merken die meisten von ihnen gar nicht.