Sonntag, 08.07.2018 / 07:58 Uhr

Die Liebe in Zeiten der Scharia

Von
Amed Sherwan

Er spricht Englisch mit mir, er traut sich nicht, Kurdisch zu sprechen, so groß ist seine Angst davor, dass jemand ihn belauschen könnte. Das Thema ist für ihn so mit Scham belegt und er hat furchtbare Angst davor, was passieren könnte, wenn jemand seine Gedanken erfahren würde.

Er ist jetzt 17 Jahre alt und ich frage ihn, ob er eine Freundin hat oder zumindest online mit einem Mädchen chattet. Er fragt mich: „Ist das dein Ernst? Du hast Erbil vor wenigen Jahren verlassen und schon völlig vergessen, wie es hier ist? Meine Eltern würden mir nie erlauben, mich mit einem Mädchen zu treffen oder auch nur mit ihr zu schreiben.“

Ja, ich hatte es fast vergessen. Für ihn gibt es tatsächlich keine Möglichkeit, sich ohne Zustimmung der Familien mit einem Mädchen zu treffen, weil das Mädchen dafür vermutlich getötet werden würde. Es ist eigentlich unmöglich, ein Mädchen überhaupt nur kennenzulernen. Und körperlichen Kontakt hast du erst nach der Hochzeit. Deine Eltern müssen deine Braut in der Regel für dich suchen und die Ehe mit den Eltern der Frau vereinbaren.

„Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, eine Frau zu heiraten, die ich nicht kenne. Ich möchte mich verlieben – und ich möchte Liebe machen,“ er fängt an, mir ganz viele Fragen zu stellen. Ob es stimmt, dass Frauen bluten, wenn sie das erste Mal Sex haben. Ja, das stimmt wohl, ich weiß es nicht aus Erfahrung, ich war noch nie der erste. Er will auch nicht der erste Mann sein, er will lieber Frau kennenlernen, die sich auskennt.

„Aber du weißt schon, dass kurdische Männer sonst nur Frauen heiraten, die vorher kein Mann angefasst hat, “ frage ich ihn. Meine Schwester musste sich eine ärztliche Bescheinigung über ihre Jungfräulichkeit besorgen, bevor sie heiraten konnte. Klar, das weiß er, aber die Traditionen haben nichts mit seinen Gefühlen zu tun.

Jetzt erinnere ich mich wieder an meine Schulzeit. Ich hatte in in Erbil eine Lehrerin, die einen Master in Biologie aus UK hatte. Als wir das Thema Babys hatten und jemand fragte, wie Babys in die Welt kommt, antwortete sie: „Subhanallah, Allah macht das!”

Ich weiß nicht viel über Biologie, aber ich kann ich ihm viel erklären, unter anderem dass Frauen nicht einfach davon schwanger werden, mit einem Mann in einem Bett zu schlafen. Er erzählt mir, wie schwer es ist, an solche Informationen ranzukommen. Weil das Thema tabu ist. Jungs in seinem Alter reden zwar von „ficken” und haben dabei keine Ahnung, wovon sie sprechen.

So ist es nicht überall im irakischen Kurdistan. In Sulaimaniyya ticken die Uhren ganz anders. Hier sind es nicht mehr die großen Familienklans, die den Ton angeben. Hier lebt Kurdistans intellektuelle Elite, es gibt eine recht lebendige Kunstszene und langsam entspannt sich sogar die sexuelle Moral. Aber in Erbil, die Stadt aus der wir beide kommen, wird es dahingegen immer strenger.

Von der 3. Klasse an gehen Mädchen und Jungen in unterschiedliche Schulen. Und es ist nicht mal erlaubt, Mädchen aus der Verwandtschaft näher zu kommen und locker zu begrüßen, weil beide dann sofort argwöhnisch beäugt werden. Er kann mir gar nicht glauben, dass Mädchen und Jungs in der Schule zusammen Sport haben und gemeinsam zum Schwimmen oder zum Fitness gehen.

Das Schlimme ist, dass die Tabus die Frauen nicht schützen – im Gegenteil. Die Schlagzeilen in Kurdistan sind jeden Tag voll von Vergewaltigungen und Frauenmorden. Er erlebt es wie eine Hölle und hat das Gefühl am falschen Ort geboren zu sein, zu dem er sich nicht zugehörig fühlt.

Es ist das erste Mal, dass er mit jemandem über Liebe und Sex spricht, und ich darf ihn nicht verraten, weil er sonst große Probleme bekäme. Ich lege auf, fühle mich ohnmächtig und bin von unfassbarer Traurigkeit erfüllt.