Freitag, 25.01.2019 / 13:00 Uhr

Interview mit SOS Méditerranée: „Das internationale Seerecht ist nicht mehr Referenzpunkt."

Mitte Dezember verlieh das Europaparlament den Sacharowpreis für Menschenrechte. Die eigentliche Würdigung erfuhr der ukrainische Aktivist und Filmemacher Oleh Senzow in Abwesenheit, er sitzt seit Jahren in russischer Haft. Doch beim Festakt in Straßburg wurden auch Finalisten um den Preis hervorgehoben. Dabei war auch ein Bündnis aus elf NGOs, SOS Méditerranée, die Seenotrettung im Mittelmeer leisten. Mit der Sprecherin der französischen Sektion der Organisation, Laura Garel , sprach Philip Klein.

 

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P. K.: Das EU-Parlament hat Eure Arbeit gewürdigt. Was bedeutet das für Euch? Verbindest Du Hoffnungen damit?

Laura Garel: Für uns ist es eine Anerkennung der Such- und Rettungsarbeit, obwohl es schon auch etwas paradox ist, wenn man bedenkt, was derzeit mit den Seenotrettungs-NGOs passiert, besonders in den letzten Monaten. Andererseits kommt das zu einer Zeit, in der wir viel zu berichten haben. Und so wollen wir die Aufmerksamkeit dieser Plattform nutzen, jetzt, da es tatsächlich immer schwerer wird, Schiffe vor Ort zu haben, um die Geflüchteten zu retten.

Es ist  im internationalen Seerecht festgelegt, dass Leute, wenn sie gerettet sind, überall auf der Welt zu einem sicheren Hafen gebracht werden müssen.

Denn es gibt immer weniger Augenzeugen vor Ort, darum ist es wichtig, dass uns hier nun jemand zuhört. Denn wir wissen, was dort los ist, wir waren über all die Monate präsent. Für mich persönlich war es wichtig, hier in Straßburg mit vielen Leuten ins Gespräch zu kommen, auch mit Journalist*Innen. Tatsächlich haben wir auf See immer welche an Bord, aber mit Parlamentsabgeordneten zu sprechen, die Gelegenheit haben wir nicht oft. Das ist interessant und war eine Ehre, gleichzeitig sind wir aber auch hier, um auf etwas anderes aufmerksam zu machen: Dass es tatsächlich die Europäische Union ist, die daran beteiligt ist, die libysche Küstenwache zu finanzieren und zu trainieren. Diese betreiben eigentlich Refoulement, also bringen die Menschen dorthin zurück, woher sie flüchten, aus Libyen.

 P. K.: Refoulement, also ein „Zurückschieben“, das die Genfer Flüchtlingskonvention eigentlich untersagt. Dass kein Vertragsstaat Geflüchtete dorthin zurückweisen darf, wo ihr Leben oder ihre Freiheit bedroht ist. Konntet ihr das zur Sprache bringen?

Laura Garel: Wir weisen gegenüber der EU nachdrücklich darauf hin, dass es hochproblematische politische Praktiken gibt, die tatsächlich humanitäre Räume verringern, während zeitgleich die Risiken für die Geflüchteten immer größer werden. 2018 sind die Mortalitätsraten gewaltig gestiegen. Und die Menschen werden genau in diese Umstände zurückgebracht, aus denen sie fliehen. Das ist eine gänzliche Verletzung des Internationalen Seerechts und des humanitären Völkerrechts.

 P. K.: Jetzt hast du Libyen bereits angesprochen, wie bewertet Ihr die Kooperationen seitens der EU?

Laura Garel: Die Europäische Kommission hat diese politische Richtung sehr deutlich seit 2017 eingeschlagen, die Finanzierung und Ausbildung der libyschen Küstenwache. Aber das Problem ist, dass das Refoulement durch einen Stellvertreter ist, durch Libyen. Im Juni wurde das Rettungsgebiet in den internationalen Gewässern vor der Küste Libyens von der International Maritime Organisation als libysche Zuständigkeit anerkannt. So obliegt Libyen jetzt die Koordination, davor war es Italien. Es gab zuerst eine Grauzone bei den Zuständigkeiten. Aber Libyen hat da nun die Verantwortung darüber. Und seit dieser Entscheidung hat sich der Informationsaustausch deutlich verschlechtert. Nun ist es deutlich schwerer, an Positionsdaten für in Seenot geratene Boote zu gelangen. Und damit werden erfolgreiche Bergungen deutlich erschwert. Im September, als wir auf See waren, passierte es, dass wir mehrere Stunden damit verbrachten, um dorthin zu gelangen, wo ein Boot kenterte. Ohne zu wissen, ob sich jemand überhaupt darum kümmern würde. Es ist wirklich unzuverlässig. Und wegen der großen Risiken, die die Leute eingehen auf diesen seeuntüchtigen Booten, sollte alles getan werden um die Rettungen schnell und effizient durchzuführen. 

 

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P. K.: Aber bei all den Menschenrechtsverletzungen, wie kann Libyen denn überhaupt ein helfender Partner sein?

Laura Garel: Ich spreche jetzt auch nur vom maritimen Teil. Die EU, die dabei mitmacht, die libysche Küstenwache aufzurüsten, darf Libyen nicht damit alleine lassen, sich plötzlich um dieses gewaltige Gebiet zu kümmern. Denn das zu koordinieren ist schwierig. Und selbst wenn man alle Mittel hat, heißt es noch lange nicht, dass man fähig wäre, alle zu retten. Und zu Libyen generell und diesem Teufelskreis der Gewalt, der oft beschrieben wird – wir haben es hunderte Male gehört, jedes Mal wenn wir Leute an Bord hatten, es ist verrückt, es ist wirklich traurig. Denn es sind grundsätzlich immer die gleiche Art von Geschichten: Folter, Vergewaltigung und Erpressung. Also das Filmen der Folter und das Versenden dieser Aufnahmen an die Familien. Geschichten, die ich so oft gehört habe, aber immer von verschiedenen Personen. Dennoch immer die gleichen Erzählungen. Das gibt mir einen Eindruck vom schieren Ausmaß davon, worüber wir da eigentlich sprechen. Zu wissen, dass diese Leute exakt davor fliehen und dann zurück in die gleiche Situation gebracht werden, es ist mir unbegreiflich. Erst recht in Bezug auf die Menschenwürde und die Menschenrechte, die die Europäische Union auch promotet und vor sich herträgt.

 P. K.: Was wäre da ein besserer Zugang der EU? Libyen stärker unterstützen oder eher eine Form von Kontrolle?

Laura Garel: Wir geben keine Politikberatung, das ist nicht unser Mandat. Aber was wir sagen können, ist: Wir haben die Aussagen, wir haben die Schilderungen aus erster Hand. Und wir wissen, dass das gerade so weitergeht. Die UN weiß, dass es weitergeht, die haben Berichte darüber, was in Libyen passiert. Der UNHCR berichtet darüber. Also aus unserer Sicht ist das mindeste was wir fordern, die Leute nicht dorthin zurückzuschicken. Und dann natürlich, muss die ganze Situation im Rahmen der internationalen Politik geklärt werden. Es braucht ein politisches Handeln, aber ich habe dazu nicht die Antwort. Es ist eine sehr komplexe Situation in Libyen, nach dem, was wir davon wissen. Es gibt eine große Anzahl an Fraktionen und Regierungen...

 P. K.: Und kaum eine funktionierende Staatlichkeit zur Zeit…

Laura Garel: Was aber möglich wäre, wäre das Refoulement nicht zu ünterstützen. Die Geflüchteten nicht dahin zurückschicken, wo jeder weiß, dass es schrecklich ist und die Menschen zu Tode kommen. Für uns ist das die Hauptempfehlung, weil wir eine maritime Organisation sind. Es ist  im internationalen Seerecht festgelegt, dass Leute, wenn sie gerettet sind, überall auf der Welt zu einem sicheren Hafen gebracht werden müssen. Dorthin, wo ihre Rechte und Bedürfnisse respektiert und garantiert werden. Das ist definitiv nicht der Fall in Libyen. Vor wenigen Wochen ist ein spanisches Fischerboot auf See umhergetrieben, mit zehn oder zwölf Geretteten an Bord. Und dann haben sie bei der Koordinierungsstelle nach Instruktionen gefragt und am Ende wurden sie aufgefordert, die Leute nach Libyen zurückzubringen. Meistens werden die Besatzungen dann aufgefordert, die Leute zurück zu bringen oder auf ein anderes Schiff zu übergeben, das sie dann zurückbringt.

Es ist eigentlich eine simple Verpflichtung, Leben zu retten.

Aber der Kapitän, der in seiner Funktion das internationale Seerecht kennt, sagte, er werde die Leute nicht nach Libyen zurückbringen. Er erklärte gegenüber AFP, dass die Geretteten Angst zeigten, sehr angespannt waren und auf keinen Fall zurück nach Libyen wollten. Es dauerte einige Tage für die maritimen Behörden eine Lösung zu finden. Die Lösung war eine Übergabe auf See in internationalen Gewässern und dann die Geretteten nach Spanien zu bringen. Und so haben wir das mit der Aquarius auch gesehen, seit Juni waren es jedes mal Ad-hoc-Lösungen. Das internationale Recht ist einfach nicht mehr die Regel. Es war alles konkret und präzise, weil alles darin ist. Und man kann sich einfach daran halten, dem folgen, was das internationale Seerecht einem sagt, was man tun soll. Aber jetzt ist es nicht mehr der Referenzpunkt. Das passierte wirklich schnell, es ist Realität geworden. Und wir hatten viele Fälle von Schiffen, nicht nur von NGOs, die auf hoher See für viele Tage ohne Lösung gefangen waren. Das ist nicht normal, so sollte das nicht passieren. Das betrifft ja alle Schiffe, auch Handelsschiffe. Unsere Sorge ist, dass es einen Unwillen zu retten geben könnte, obwohl das eigentlich Kapitän*Innen nie zur Disposition stellen würden. Normalerweise ist es so, wenn jemand in Seenot gerät, dann gehst du hin und rettest den.

 

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P. K.: Eure Sorge ist also auch, dass das Gebot der Seenotrettung innerhalb der kommerziellen Schifffahrt aufweicht? Dass der Zeitdruck in der Logistik die Schiffsbesatzungen vom Retten abhalten würde?

Laura Garel: Ja, genau das ist unsere Sorge. Denn das internationale Recht sagt auch, dass Kapitän*Innen in ihrer Verantwortung so schnell wie möglich entlastet werden müssen. Wenn die Rettung vollzogen und die Menschen sicher an Bord sind, dann müssen die Behörden so schnell wie möglich dafür sorgen, diese zusätzliche Ladung wieder vom Schiff zu nehmen. Das ist normalerweise die Regel. Zum Beispiel könnte es sein, dass die Behörden einen Transfer zu einem anderen Schiff anordnen, damit der eigentliche Kurs schnell wieder aufgenommen werden kann. Also eigentlich gibt es Wege, das zu organisieren. Die Priorität ist eigentlich die Rettung und dann die Schnelligkeit, aber immer mit Fokus auf Sicherheit. Aber das wird komplett in Frage gestellt. Für meine Kolleg*Innen, die alle viele Jahre Seeleute sind, ist das komplett unglaublich.

 P. K.: Ein sehr umstrittener Akteur ist ja auch Frontex, die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache. Wie gestaltet sich Eure Beziehung zu dieser Organisation?

Laura Garel: Über zwei Jahre war es normal, dass jedes Schiff, das auf dem zentralen Mittelmeer in internationalen Gewässern unterwegs war,  zusammenarbeitete und sich abstimmte. Und so waren Schiffe von Frontex auch beteiligt. Die waren gewöhnlich etwas weiter weg, als in den von uns patrouillierten Gebieten aber sie haben viele Rettungen durchgeführt oder uns oder der italienischen Küstenwache die schiffbrüchigen Geflüchteten übergeben. Also es gab auf jeden Fall eine Zusammenarbeit, aber seit im Juni die Häfen in Italien geschlossen wurden, konnten wir keine Frontexschiffe auf See mehr sehen. Die sind abgezogen worden.

 P. K.: Und für Euch als NGO, wie ging das zusammen, mit Frontex zusammenzuarbeiten?

Laura Garel: Also eigentlich steht das ganze Thema Seenotrettung in der ganzen Seefahrt und für Seefahrer*Innen überhaupt nicht zur Debatte. Für uns ist das unser Schwerpunkt, für Frontex hingegen ist es eine ihrer Aufgaben. Es ist eigentlich eine simple Verpflichtung, Leben zu retten. Unabhängig davon, ob Frontex oder Handelsschiff, für alle Schiffsbesatzungen war es zu mindestens lange üblich, Personen die dabei sind zu ertrinken, eine Hand zu reichen. Frontex hat auch ein Mandat für Seenotrettung, auch wenn deren vorrangige Aufgabe Grenzschutz und Schmugglerkontrolle ist. Aber definitiv gab es seit dem Beginn eine enge Zusammenarbeit, aber das hat sich nun geändert.

 P. K.: Und hier in Straßburg – hattet Ihr bei den Gesprächen den Eindruck, dass Ihr die Menschen erreichen konntet?

Laura Garel: Also heute Morgen als wir im Parlament erwähnt wurden, während der Zeremonie war das sehr eindrucksvoll für uns, denn fast alle EU-Abgeordneten haben stehend applaudiert. Das schien mir schon symbolträchtig. Es ist eine große Anerkennung, über die ich mich sehr freue. Und ja, ich glaube, dass der Umstand, dass wir berichten und mit den Entscheidungsträger*Innen reden können, könnte etwas bewegen – wenn auch nicht sofort. Es geht darum, unsere Sichtweise zu erklären, weil wir da draußen auf See sind. Und so ist es für uns wichtig, hier in Straßburg zu sein. Denn wir sind Europäer*Innen, gefördert von europäischen Bürger*Innen. Wir repräsentieren, was die europäische Zivilgesellschaft sagen will, indem sie uns unterstützt. Und die wichtigste Forderung ist, voranzuschreiten und tatsächlich die Priorität auf Seenotrettung zu setzen. Und zwar bevor wir all die Debatten führen, ob oder wie wir die Ankommenden willkommen heißen. Zuallererst sollten wir sie nicht ertrinken lassen.