Sonntag, 23.05.2021 / 09:32 Uhr

Elf Tage im Mai: Rückblick auf den dritten Krieg zwischen Hamas und Israel

Von
Oliver Vrankovic

Hamas Milizionär, Bildquelle: Wikimedia Commons

Eine Rekapitulation der Geschehnisse seit dem 10.05., als palästinensische Terroristen den Raketenterror gegen Israel entfesselt und arabische Israelis eine zweite Front im Land eröffnet haben.

Nach zehn Tagen militärischer Auseinandersetzung zwischen israelischen Streitkräften und palästinensischen Terroristen im Gazastreifen, trat in der Nacht von Donnerstag auf Freitag ein bedingungsloser Waffenstillstand in Kraft.


Die Vorgeschichte:

1967 eroberte Israel den bis dato von Ägypten besetzten Gazastreifen. In den 70er-Jahren arbeiteten Palästinenser aus dem Gazastreifen in israelischen Landwirtschaftssiedlungen und Städten und viele Israelis fuhren nach Gaza zum Einkaufen und an den Strand. Israelisch-palästinensische Bekanntschaften waren nicht ungewöhnlich. Mit dem Anwachsen der jüdischen Siedlungen im Gazastreifen in den 80er-Jahren änderte sich die Situation und verschlechterte sich während der ersten Intifada mit dem Entstehen der islamistischen Hamas. Palästinenser, die in Israel arbeiteten, wurden von den Islamisten bedroht und Opfer von Übergriffen. Die Situation verschlechterte sich mit der zweiten Intifada weiter. Von der Räumung aller israelischer Siedlungen und dem Abzug aller Truppen aus dem Gazastreifen 2005 erhoffte man sich »Land für Frieden« tauschen zu können, doch der Friede blieb eine Illusion.

Nachdem es 2006 im Nachgang der Wahlen zum Exekutivrat der Palästinensischen Autonomiebehörde, zum gewaltsamen Konflikt zwischen den Fraktionen Fatah und Hamas (Wahlsiegerin) kam, übernahm die Hamas 2007 die Macht im Gazastreifen, und baute ihn zu einem Terrorstützpunkt um. Während hunderte Kilometer Tunnel unter dem Gazastreifen gegraben und zehntausende Raketen fabriziert wurden, verschlechterten sich die Lebensbedingungen der Zivilbevölkerung. Raketenbeschuss wurde zur Realität der Israelis im Umland von Gaza. Die Intensivierung des Raketenterrors führte im Dezember/Januar 2008/09, im November 2012 und im Juli/August 2014 zu militärischen Auseinandersetzungen und bei den letzten beiden Auseinandersetzungen wurden Raketen auch auf die Metropolregion Tel Aviv gefeuert. Seit 2018 kommt zum Raketenterror gegen die israelischen Orte im westlichen Negev der Feuerterror. Während die antiisraelische Propaganda in Gaza auf Hochtouren läuft wird Kritik an den Machthabern der Hamas mit scharfen Repressionen begegnet.

Der israelische Premier Netanyahu hat in seiner seit 2009 dauernden Amtszeit nicht nur jedes ernsthafte Interesse an einem Sturz der Hamas missen lassen, sondern winkt auch Geldkoffer aus Katar an die Terrororganisation durch. Solange im Westjordanland eine von der Fatah dominierte Autonomiebehörde regiert und der Gazastreifen von der Hamas beherrscht wird, so die dahinter steckende Überlegung, ist eine eine Zwei-Staaten-Lösung vom Tisch. Der Ansatz, die Hamas im Gazastreifen gleichzeitig an der Macht und in Schach zu halten erwies sich als unversöhnlich mit einer für die Bewohner des westlichen Negev erträglichen Realität.

Die Auslöser:

Für den 22. Mai waren bei den Palästinensern die ersten Wahlen zum Legislativrat der Autonomiebehörde seit 2006 geplant, für Ende Juli Präsidentschaftswahlen. Entsprechend versuchten Fatah und Hamas mit antiisraelischer Rhetorik zu punkten und sich als die Beschützer von Jerusalem zu inszenieren. Zu Ramadan wurde die Lüge von einer bevorstehenden israelischen Übernahme des Tempelbergs aufgewärmt. Dazu kam in diesem Jahr die aufgestachelte Wut über die drohenden Evakuierung von vier palästinensischen Familien im Stadtteil Sheikh Jarrah in Ostjerusalem. Der Oberste Gerichtshof, bei dem der Fall inzwischen angekommen ist, verschob eine endgültige Entscheidung in der Sache, in der die jüdischen Immobilienbesitzer gerichtlich anerkannte Ansprüche anmelden und die von der palästinensischen Propaganda als ethnische Säuberung gelabelt wird.

Bei gewaltsamen Zusammenstößen mit der israelischen Polizei wurde am 9.4. der israelische Parlamentarier Ofer Cassis von israelischen Polizisten angegriffen und verletzt. Die Eignung des engen Netanyahu Vertrauten Amir Ohana als Minister für innere Sicherheit wurde von seinen politischen Gegnern lautstark in Frage gestellt. Am 13.4. sperrte die israelische Polizei erstmals überhaupt den Platz vor dem Damaskustor, wo sich Jugendliche an Ramadan nach den Abendgebeten treffen.

Die Auseinandersetzungen zwischen Palästinensern und israelischen Sicherheitskräften auf dem Tempelberg und in Ostjerusalem wurden immer gewalttätiger. Auf dem Tempelberg gehortete Steine und Brandsätze zeugten von der Absicht aus der Masse der Betenden heraus Unruhe zu stiften.

Körperliche Übergriffe von jungen Arabern aus Jerusalem auf Ultraorthodoxe, die gefilmt und in sozialen Netzwerken ausgestellt wurden, ernteten die Bezeichnung TikTok Intifada und riefen am 21.4. eine Demonstration jüdischer Nationalisten auf den Plan.
Als das Pulverfass kurz vor der Explosion war, hat der rechtsradikale Parlamentarier Itamar Ben Gvir seine parlamentarische Immunität genutzt um in Sheikh Jarrah temporär sein parlamentarisches Büro zu eröffnen.

Nach den heftigsten Gewaltausbrüchen auf und um den Tempelberg wurden am 8.5. Busse mit muslimischen Gläubigen auf dem Weg nach Jerusalem gestoppt. Am 10.5. drang die israelische Polizei in die Al Aksa Moschee ein und die Hamas forderte den Abzug aller israelischer Sicherheitskräfte vom Tempelberg und aus Sheikh Jarrah. Sie stellte ein Ultimatum und feuerte nach dessen Ablauf Raketen auf Jerusalem.

Der Verlauf:

Die vierte militärische Auseinandersetzung zwischen palästinensischen Terroristen im Gazastreifen und israelischen Streitkräften folgte in mancher Hinsicht dem Plot der vorausgegangenen, wurde aber intensiver geführt. Die Hamas und der islamische Jihad feuerten beispiellos viele Raketen (4360!) und schaffte es das Raketenabwehrsystem Eisenkuppel mehrfach zu überlasten. Allein am 11.05. wurde die Stadt Ashkelon 41 Mal mit Raketen angegriffen (!). Am Abend des 11.05. wurde auch die Metropolregion Tel Aviv angegriffen und Raketen trafen einen Bus in Holon und töteten einen Menschen in Rishon LeZion womit sich eine bis dato unbekannte Situation im Landeszentrum einstellte. Bei den vorangegangenen militärischen Auseinandersetzungen konnten die Raketen auf die Metropolregion abgefangen werden, im Zuge der jüngsten Kampfhandlungen wurden Einschläge in Tel Aviv, Ramat Gan, Givatayim, Holon, Rishon, Yehud, Ramle, Lod, Hod HaSharon und Bat Yam verzeichnet.

Die israelischen Luftstreitkräfte konnten dank exzellenter Vorarbeit des Militärgeheimdienstes und einer geschickten Finte Hunderte Terroristen in Gaza in das unterirdische Tunnelsystem „Metro” locken und dieses dann aus der Luft bombardieren. Daneben wurden eine Vielzahl von Fabriken zerstört, in denen Raketen hergestellt werden und 20 hochrangige Terroristen getötet. Nach Einschätzung von Militärexperten wurden in 50 Stunden so viele Terrorziele zerstört wie in den 50 Tagen der Militäroperation 2014. In den zehn Tagen, in denen die israelische Luftwaffe angegriffen hat, wurde der Hamas nach Einschätzung der Experten ein beispiellos schwerer Schaden zugefügt. Hisbollah und der Iran, die die Zerstörung weiter Teile des Tunnelsystems in Gaza, das Wissen um die Ziele und die Wucht der Luftangriffe mitbekommen haben, werden ihre Schlüsse ziehen. Ob der Schaden, der Hamas zugefügt wurde, die Terroristen über Jahre hinweg abgeschreckt, Israel anzugreifen, ist gleichwohl fraglich. Mehr als 75% der Bewohner im Süden des Landes lehnten das Ende der Kampfhandlungen ab.

Die von der überwältigenden Mehrheit der Israelis geforderte Rückführung von zwei Leichen israelischer Soldaten und eines lebenden israelischen Staatsbürgers, der seit Jahren im Gazastreifen festgehalten wird, wurde nicht erreicht. Zwei Versuche den Oberkommandanten der Qassam Brigaden, des militärischen Flügels der Hamas, Mohammed Deif, zu töten scheiterten. Die Hamas konnte sich als Hüterin Jerusalems inszenieren und muss heute als wichtigste palästinensische Fraktion verstanden werden und Mohammed Deif gilt seit den Kämpfen in denen Hamas bis zur letzten Minute Raketen feuern konnte, als Volksheld. Gleichzeitig scheiterten eine ganze Reihe von geplanten Operationen, wie Drohnenangriffe, Angriffe mit einem ferngesteuerten Selbstmord U-Boot und Infiltrationen. Ein spektakulärer Angriff gelang der Hamas nicht.

Die vergangenen Wochen haben gezeigt haben, dass sich der Konflikt mit den Palästinensern nicht verwalten lässt und nicht auf dem Umweg über Bahrain und die
Vereinigten Arabischen Emirate gelöst werden kann.

Die "zweite Front":

Begleitet, und in der Wahrnehmung vieler Israelis überschattet, wurde der Raketenterror von den teilweise pogromartigen Ausschreitungen israelischer Araber, die über mehrere Tage hinweg arabische Städte und Straßen im Norden und Süden des Landes, die an arabischen Ortschaften vorbeiführen, zu lebensgefährlichen Fallen für Juden gemacht haben. Auch die gemischten Städte wurden von Ausschreitungen erschüttert, die letztlich erst mit Hilfe des Grenzschutz und Spezialeinheiten des Inlandsgeheimdienst niedergeschlagen werden konnten.

Welche Spuren die innerisraelischen Verwerfungen über das Ende der Ausschreitungen hinweg im Alltag hinterlassen werden ist nicht absehbar.

Nicht wenige junge Araber haben die Idee der Koexistenz aufgekündigt und haben Synagogen, Autos und Wohnhäuser in Brand gesteckt, Familien in ihren Autos angegriffen und versucht, Juden zu lynchen und in einem Fall nicht nur versucht.

In Lod, dem Epizentrum der Ausschreitungen fiel Yigal Yehoshua (56) auf dem Heimweg von der Arbeit einem arabischen Lynchmob zum Opfer. Im Gegensatz zu vielen jüdischen Bewohnern Lods hatte er sich geweigert, aus der Stadt zu fliehen. Auf der anderen Seite machte eine vergleichsweise kleine Anzahl junger jüdischer Nationalisten bei der Zerstörung der Koexistenz mit, zerstörte das Eigentum von Arabern und griff Araber an. Ein Lynchversuch von Juden an einem Araber in Bat Yam schockierte die jüdische Mehrheitsgesellschaft und wurde scharf verurteilt. Zwischen dem 10.5. und dem 16.5. haben Juden 13 Autos von Arabern abgefackelt. Im gleichen Zeitraum haben Araber 10 Synagogen abgebrannt, 849 Autos von Juden abgefackelt und 112 Häuser von Juden mit Brandsätzen attackiert. Im einzigen Haus von Arabern, dass attackiert wurde, trug ein 12jähriger Junge lebensgefährliche Verbrennungen davon. Die Angreifer, so stellte sich heraus, waren auch Araber. Die Ausschreitungen kamen in ihrer Heftigkeit und ihrer nationalistischen Färbung völlig überraschend. Die Waffen, die in der arabischen community gehortet werden und bisher bei Clankämpfen innerhalb der community Verwendung fanden, wurden nun auf israelische Sicherheitskräfte gerichtet.

Die Asymmetrie der Gewalt mag diejenigen überraschen, die in deutschen Medien von Ausschreitungen von Juden und Arabern lesen, deren Darstellung immer suggeriert, dass die Gewalt von beiden Seiten gleichermaßen ausgeht. Manche in Deutschland lebende Israelis, die es besser wissen müssen, mischen kräftig bei der Falschdarstellung mit.


Inzwischen haben sich Teile der Zivilgesellschaft vom Schock erholt und auf beiden Seiten melden sich die Stimmen, die das Zusammenleben nicht aufgeben wollen. Der Oberkommandant der Polizei Shabati versprach die Terroristen auf beiden Seiten zur Rechenschaft zu ziehen. Man darf davon ausgehen, dass die Anzahl der Festnahmen so asymmetrisch sein wird, wie die Gewalt und dann im Ausland als weiterer Beweis für die vermeintliche Ungleichbehandlung der Araber angesehen werden wird.

Wer einen Verlierer der letzten zwei Wochen sucht, der findet ihn in der Hasbara, der offiziellen israelischen PR. Unzählige Fußballstars, Models, KünstlerInnen, InfluencerInnen und populäre Bewegungen wie FFF haben den palästinensischen Narrativ adaptiert.

Die innenpolitische Auswirkungen:

Als Gewinner der letzten beiden Wochen wird Benjamin Netanyahu gehandelt, dessen politisches Schicksal bereits besiegelt schien. Eine breite Koalition aus rechten, zentristischen, linken und arabischen Parteien hatte sich auf eine Regierung des Wechsels geeinigt. Der Vorsitzende der sehr rechten Partei Yamina, Naftali Bennett, sollte Ministerpräsident werden und nach der Hälfte der Legislaturperiode von Yair Lapid, dem Vorsitzenden der zentristischen Partei Yesh Atid, abgelöst werden. Die Verschärfung der innerisraelischen Spannungen veranlassten Bennett die Koalition des Wechsels aufzukündigen und zusammen mit Netanyahu wieder nach einer Koalition rechter und ultraorthodoxer Parteien zu suchen. Diese Suche verlief in den Wochen nach der Wahl ohne Erfolg und es ist alles andere als ausgemacht, dass Netanyahu Ministerpräsident bleiben wird, aber vorerst hat er sich seine Chancen gewahrt.