Donnerstag, 12.05.2022 / 11:30 Uhr

Wer erschoss Shireen Abu Akleh?

Von
Thomas von der Osten-Sacken

Tweet von Al-Jazeera

Kaum kam die Meldung, die Journalistin Shireen Abu Akleh sei von Kufeln in Jenin tödlich getroffen, vermeldete ihr Arbeitgeber, das in Qatar ansässige Al-Jazeera, die sei „shot and killed by Israeli occupation forces“.

Ihre Leiche wurde später von palästinensischen Forensikern untersucht, die gegen Abend bekannt gaben, es sei bislang nicht möglich zu bestimmen, wer die Kugel abgefeuert hätte, ob sie von israelischen Soldaten oder palästinensischen Milizionären stammte.

"An initial autopsy of Abu Akleh’s body by Palestinian coroners found that it was “not possible” to determine yet if she was killed by Israelis or Palestinians.

“The bullet that entered her body is in our possession and has been taken to the lab for further analysis,” said coroner, Dr. Ryan al-Ali of the Pathological Institute at the a-Najah University in Nablus.

The coroner also couldn’t determine the exact distance from which the bullet was shot."

Al Jazeera klagte in der Vergangenheit oft über die Repressalien, die der Sender etwa in Saudi Arabien oder Ägypten erfahre und appellierte an Medienfreiheit und das Recht auf freie Berichterstattung.

Auch als Al Jazeera in vielen arabischen Ländern verboten war, konnte es weitgehend ungestört in Israel und den palästinensischen Gebieten arbeiten und von dort berichten, selbst wenn es nie einen Hehl aus seiner propalästinensischen Ausrichtung gemacht hatte.

Jedes Medium hat auch im Rahmen seiner journalistischen Sorgfaltspflicht ein Recht, in Konflikten parteiisch zu sein, solange es nicht zum Propagandaorgan verkommt.

Was Al Jazeera da allerdings gestern verlautbaren ließ, lässt durchaus die Frage zu, ob es sich nicht als Teil einer Partei in diesem Konflikt versteht:

"For a quarter of a century, Shireen Abu Akleh put herself in harm's way to cover wars, attacks and the aggression of the Israeli occupation against Palestinians. We condemn the heinous crime and place the responsibility on the Israeli government and its occupation forces."

Wäre es nicht wenigstens geboten, eine unabhängige Untersuchung zu fordern und deren Resultate abzuwarten, anstatt sofort einen Schuldigen zu benennen? Und stellt man so die Arbeit einer Journalistin vor? Was Al Jazeera da beschreibt scheint eher die Tätigkeit einer Aktivistin gewesen zu sein, die für eine palästinensische Menschenrechtsorganisation unterwegs war.

Aber, und genau dies ist eines der großen Probleme bei der Berichterstattung über diesen Konflikt, in ihm gelten eben nicht die Regeln, die anderswo ganz selbstverständlich sind. Sofort wird ein anderes Maß angelegt und in einem anderen, schrillen Ton berichtet. Für abertausende Leserinnen und Leser von Al Jazeera war gestern schon klar, eine ihrer Mitarbeiterinnen wurde kaltblütig von einem israelischen Soldaten ermordet. Was spielt es da für eine Rolle, dass auch 24 Stunden später noch niemand sagen kann, welche Seite sie erschossen hat?