Freitag, 24.11.2023 / 20:25 Uhr

'Internally Displaced' in Israel

Von
Gastbeitrag von Antje C. Naujoks

Straßensperre in Nordisrael, Bildquelle: Facebook

Offiziell wurden rund 130.000 Israelis evakuiert. De facto zählt das Land jedoch noch sehr viel mehr Einwohner, die nicht mehr in ihren eigenen vier Wänden leben. Es ist ein weiterer denkwürdiger Wendepunkt in Israels Geschichte.

 

Wenige Stunden nach dem Terrorüberfall vom 7. Oktober reagierten einige israelische Hilfsorganisationen darauf, dass es ersten Einwohnern des israelischen Südens gelang, der von der Hamas entfachten Hölle zu entrinnen. Der Strom der Geretteten schwoll an, als die israelische Armee nach und nach die Kibbuzim und Dörfer von den Terroristen zurückeroberte. Wegen der frühen Morgenstunde, zu der der Angriff begonnen hatte, waren viele Gerettete lediglich in Pyjamas gekleidet, nicht wenige traten den Weg barfuß an. Doch auch wer etwas geordneter aus der Kampfzone herausgeholt wurde, konnte fast nichts mitnehmen. Es galt, das bloße Leben zu retten.

Israel blickte innerhalb von wenigen Tagen zunächst auf Zehntausende gerettete Menschen, die nichts bei sich hatten, untergebracht und versorgt werden mussten. Natürlich gab es solche, die von Angehörigen aufgenommen wurden, doch angesichts der Gesamtzahl war das ein geringer Anteil. Erste Kibbuz-Gästehäuser öffneten ihre Pforten, einige Städte funktionierten ihre Gemeindezentren um. Doch der Strom der Flüchtlinge schwoll mit anhaltendem Raketenbeschuss weiter an, und da Regierungsentscheidungen ausblieben, musste der Privatsektor erneut Spenden sammeln, um Gerettete und Flüchtlinge unterbringen und versorgen zu können.

Geisterstadt Sderot

Obschon seit 2016 offizielle Schubladenpläne für Evakuierungsmaßnahmen vorliegen, dauerte es, bis der Staat eine geordnete Entscheidung fällte. Doch auch danach mussten die Ministerien ihre Hilfestellungen immer wieder nachbessern, weil die Lage falsch eingeschätzt worden war. So zeigte sich zum Beispiel, dass es nicht nur um die Evakuierung von Kibbuzim und Dörfern in wenigen Kilometern Entfernung von der Gaza-Grenze ging, sondern dass auch die Kleinstadt Sderot mit rund 30.000 Einwohnern berücksichtigt werden musste.

Sderot-Bürgermeister Alon Davidi wurde im Laufe der Tage nach dem Massaker immer deutlicher vor Augen geführt, was die Lage der Einwohner seiner Stadt anging, in der das Alltagsleben vollkommen zusammengebrochen war: »Wir sind seit Jahren Raketenbeschuss ausgesetzt, aber die Ereignisse am Schabbat [dem 7. Oktober] haben meinen Einwohnern schwer zugesetzt. (…) Die Terroristen haben unser Sicherheitsgefühl zutiefst erschüttert.«

Wer es sich leisten konnte, hatte Sderot längst verlassen. Doch allen war klar, dass Flucht keine Lösung sein konnte, die kaum eine Familie finanziell längere Zeit durchhalten werde. Zudem saßen in der Stadt rund 45 Prozent der Einwohner fest, die sich eine solche vermeintliche Lösung überhaupt nicht leisten konnten.

Viele waren tagelang ohne Strom und hatten irgendwann keine Lebensmittel mehr; alles war geschlossen und der Raketenbeschuss, der einem hier gerade einmal fünfzehn Sekunden Zeit zum Schutzsuchen lässt, hörte nicht auf. Schließlich wurde seitens der Behörden auch die Evakuierung von Sderot angeordnet, sodass die Zahl der aus dem Süden in andere Regionen des Landes verlegten israelischen Bürger auf rund 70.000 Personen anstieg.

Missachteter Notfall Ashkelon

Nach Sderot lenkte sich das Augenmerk auf Ashkelon mit seinen 140.000 Bewohnern, wobei nicht die Behörden ihre Blicke auf die Stadt richteten. Vielmehr waren es die Einwohner, die vor lauter Hilflosigkeit über die Situation und die Abwesenheit der Regierung ihre Not in den Medien herausbrüllten, denn anders fanden sie keine Aufmerksamkeit. Ashkelon führt die Statistik bezüglich des Raketenbeschusses an. Mindestens 25 Prozent aller aus dem Gazastreifen lancierten Raketen waren auf diese Stadt ausgerichtet. Allein in den ersten zehn Tagen des Kriegs schlugen 340 Geschoße im Stadtgebiet ein, 180 direkte Treffer in Wohnhäusern wurden verzeichnet.

Die notleidenden Einwohner kritisierten ihre Stadt für die seit Jahren sträflich vernachlässigten Bau öffentlicher Bunker, nicht zu reden vom desolaten Zustand der bestehenden wegen mangelnder Instandhaltung, um die sich im Laufe des Oktobers dann NGOs kümmerten. Mindestens 40.000 Einwohner der Stadt verfügen über keine Schutzräume und können zudem nicht rechtzeitig in öffentliche Schutzanlagen gelangen; sei es, weil der Weg zu weit ist, sie zu betagt sind, physische Beeinträchtigungen sie einschränken oder es sich um Mütter handelt, die allein zuhause mit drei oder vier kleinen Kindern sind. Sie alle haben keine Chance, in dreißig Sekunden in die öffentlichen Schutzräume zu gelangen.

Zwar kämpfte der Bürgermeister der Stadt Tomer Glam wie ein Löwe in den Regierungsausschüssen, aber für viele Einwohner wurde keine Lösung gefunden. Erst hieß es, das Einbeziehen von Ashkelon in den Evakuierungsplan müsse noch von diversen Ausschüssen abgesegnet werden, dann gab Finanzminister Bezalel Smotrich die erforderlichen Finanzmittel nicht frei, und als das zumindest teilweise doch noch geschehen war, hieß es lapidar: alle Hotels belegt, kein Platz für zusätzliche Evakuierte. Für viele Ashkelon-Einwohner waren die NGOs der einzige Rettungsring.

Selbes Szenario im Norden

Nicht nur in Israels Süden sind die Menschen von Raketen bedroht. Die libanesische Hisbollah stimmte schon am 8. Oktober in das Feuer der Hamas ein. Zwar wurden zunächst nur Militärstützpunkte unter Feuer genommen, doch schnell gerieten auch zivile Ansiedlungen ins Visier, was bereits etliche Zivilisten mit dem Leben bezahlten, doch auch in Israels Norden liegen Dutzende Ansiedlungen direkt an der Grenze zum Libanon, viele sogar sehr unmittelbar.

Obwohl die Regierung diese Szenarien und die Not der Einwohner wahrnahm, vollführte sie hier ein ähnliches Hickhack wie im Süden des Landes, bis es endlich zur Evakuierung ganzer Ortschaften kam. Zu diesem Zeitpunkt hatten viele bereits in Eigeninitiative die Koffer gepackt, während andere wiederum trotz der offiziellen Evakuierung vor Ort blieben.

Wie im Süden, so blieben auch Orte im Norden, die nur wenige hundert Meter südlich der von der Regierung gezogenen Evakuationslinie liegen, ohne jegliche Lösung zurück. Erst am 20. Oktober beschloss die Regierung – und dies auch nur nach massiverem Beschuss aus dem Libanon –, die 22.000 Einwohner zählende Stadt Kiryat Shmona im Norden zu evakuieren.

Präzedenzlos in der Geschichte

Somit hieß es zu diesem Zeitpunkt, dass zu den 70.000 Evakuierten aus Israels Süden nochmals 60.000 Personen aus dem Norden hinzukamen. Sie wurden von der Regierung auf 97 Ortschaften und insgesamt 225 Hotels und Gästehäuser verteilt, wofür der Staat die Kosten trägt. Evakuierten, die sich eigenständig eine Bleibe organisiert hatten, wurde pro Erwachsenem fünfzig und pro Kind fünfundzwanzig Euro je Tag zugesprochen. Zusammen mit den Hotel- und Gasthausunterbringungen kalkulierte die Regierung am 20. Oktober mit Kosten in Höhe von 150 Millionen Euro für drei Wochen.

Sieht man genauer hin, so scheint die Zahl der Israelis, die seit weitaus mehr als den projektierten drei Wochen nicht mehr in ihrem Zuhause leben, allerdings um einiges höher zu liegen. Anfang November bestätigte das Tourismusministerium, das die Koordination der Unterbringung übernommen hat, dass 88.000 Israelis in Hotels untergebracht wurden und 87.000 in Kibbuzim oder anderen urbanen Einrichtungen beherbergt werden. Dazu seien noch rund 73.000 Personen hinzuzurechnen, die bei Verwandten und Freunden untergekommen sind. Damit liegt die Zahl der Israelis, die entwurzelt im eigenen Land sind, bei 248.000 Personen.

Hilflose Landräte, überforderte Bürgermeister

Die Landräte der betroffenen Regionalverwaltungen traten wieder und wieder vor die TV-Kameras, um auf die Not ihrer Einwohner aufmerksam zu machen. Sie sahen sich dazu gezwungen, um irgendetwas zu erreichen, denn kein Regierungsvertreter ließ sich nach dem Überfall vor Ort sehen, Anrufer in den Ministerien wurden durchwegs vertröstet. Zwar berichten Evakuierte inzwischen nicht mehr, dass ihnen die Hotels mitgeteilt hätten, sie müssten die Zimmer räumen, weil die Regierungsgelder noch nicht eingegangen waren, doch bis es zu ersten Treffen zwischen Lokalpolitikern und Regierungsangehörigen kam, war längst der November angebrochen.

Tamir Edan, Landrat der Region Sdot Negev, war Anfang November so erbost über die Reaktionen von Ministern, dass er vor laufenden Kameras seinen Parteiaustritt aus dem Likud ankündigte. Der seit 2015 als Landrat der Regionalverwaltung Eshkol amtierende Gadi Yarkoni, der im Sommer 2014 infolge eines Mörserangriffs aus dem Gazastreifen beide Beine verlor, war noch Mitte November so empört über das Missmanagement der Regierung sowohl in Sachen Versorgung der Evakuierten als auch in Sachen Entschädigung für die betroffenen Regionen, dass er aus Protest in seinem Auto vor der Knesset zu schlafen begann.

Vor ganz anderen, aber nicht weniger schwerwiegenden Problemen stehen beispielsweise die Gemeinden Eilat und Ein Bokek. Eilat, Israels südlichstes Ferienresort am Roten Meer, zählt 50.000 Einwohner, hat aber 60.000 Evakuierte aufgenommen; Bürgermeister Eli Lankri warnte wiederholt vor einem Zusammenbrechen der städtischen Dienstleistungen. Zwar fließen jetzt Regierungsgelder, doch stehen ebenso wie im ausschließlich aus Hotels bestehendem Resort Ein Bokek am Toten Meer, wo ganze Kibbuz-Gemeinschaften untergekommen sind, viele neue Aufgaben an. Die Versorgung mit Lebensmitteln und anderen Sachspenden funktioniert dank der NGOs bestens, doch Gesundheitsversorgung und Schulbesuch sind nicht leicht zu meisternde Herausforderungen.

Viel größeres Leid als überfüllte Hotels

Zehntausende mehrköpfige Familien müssen gegenwärtig in einem Hotelzimmer leben, in denen oftmals nicht nur das Sofa zum Schlafen ausgezogen wird, sondern auch noch Matratzen auf dem Boden liegen. Noch enger wird es, weil die Menschen ihre meist aus Spenden stammende Kleidung irgendwo aufbewahren müssen und die Schränke unterdimensioniert sind. Etliche Familien haben immer noch keine Koffer und Taschen.

Dass man so dicht aufeinander gedrängt leben muss, ist für Familien mit kleinen Kindern, die einander gerade ohnehin nicht aus den Augen lassen, noch gut zu bewältigen. Doch ein Ehepaar mit zwei oder drei jugendlichen oder gar volljährigen Kindern in einem Zimmer ist purer Stress für alle. Überall hört man den Satz: »Ein Sterne-Hotel ist für einen Urlaub nett, aber ein Zuhause ist es nicht.« Man beschäftigt sich, engagiert sich ehrenamtlich, stellt Initiativen auf die Beine, aber so etwas wie ein Frühstücksgespräch als Familie in der Intimität der eigenen vier Wände gibt es in den Speisesälen genauso wenig wie die Möglichkeit, sich zwischendurch etwas Selbstgekochtes zu wärmen.

Die Ungewissheit, wie es weitergehen wird, lässt keinen zur Ruhe kommen. Unendlich viele sind in Trauer um Ermordete, sorgen sich um Verwandte und Menschen, die sie kennen und in den Gazastreifen verschleppt wurden.

Während die Jugendlichen sich damit herumschlagen, dass ihre Zukunftspläne mit Fragezeichen versehen sind, plagen die Eltern andere Sorgen. Nur wenige können ihrer üblichen Erwerbstätigkeit nachgehen. Sie haben keinen Verdienst, und trotzdem sind weiterhin Rechnungen zu bezahlen. Ausgesprochene Kündigungen wurden von Arbeitsgerichten bereits für nichtig erklärt, und doch fragen sich viele: Wie lange wird dieser Zustand noch anhalten, und wird man danach noch Arbeit haben? Wer seine Landwirtschaft zurücklassen musste, der steht vor einem zusätzlichen Trümmerhaufen.

 

Beitrag zuerst erschienen auf Mena-Watch