Dienstag, 05.03.2024 / 19:17 Uhr

Stimmen aus Gaza: Hamas der Hauptfeind

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Gastbeitrag von Manar al-Sharif

Gaza vor dem Krieg, Bild: Marcin Monko, Wikimedia Commons

Im Rahmen ihres kürzlich auch hier vorgestellten Projekts Voices of Gaza hat Manar al-Sharif jüngst mit zwei Menschen im Gazastreifen gesprochen, deren Identität anonym bleiben muss.

 

Manar al-Sharif hat lange selbst im Gazastreifen gelebt und sich dort im Gaza Youth Movement engagiert, bis sie von der Hamas ausgewiesen wurde. Seitdem steht sie in engem Kontakt mit unzähligen Quellen vor Ort, der auch nach dem 7. Oktober 2023 nicht abgebrochen ist. Ihr Ziel ist es seit Langem, jenseits von Hamas-Propaganda den Stimmen von Bewohnern Gehör zu verschaffen; vor allem jener, die, wie al-Sharif sicher ist, die Mehrheit der Bevölkerung repräsentieren und in meist stiller, manchmal auch offener Opposition gegen die Hamas stehen.

Gespräche sind angesichts der Lage vor Ort schwierig durchzuführen, da das Internet oft zusammenbricht und die Beteiligten außerdem Angst vor Repressionen haben müssen, wenn sie ihrem Unmut freien Lauf lassen.

Unsere Träume gestohlen

Manar al-Aharif sprach etwa mit Fatima, deren Bruder bei dem Putsch 2007, als die Hamas die Kontrolle über den Gazastreifen übernahm, hingerichtet wurde. Fatima erzählt:

»Die Hamas ist eine Organisation, die sich 2006 zur Wahl in den Legislativrat aufstellen hat lassen. Bei ihrem Putsch gegen die Palästinensische Autonomiebehörde tötete sie meinen Bruder, weil er Mitglied der Palästinensischen Befreiungsorganisation war, und richtete ihn vor aller Augen hin, obwohl sie behauptet, eine Bewegung für Wandel und Reformen zu sein.

Indem sie die Bedürfnisse der Menschen in Gaza-Stadt wie eine Ware behandelten, kaufte die Hamas die Menschen quasi im Austausch für ihre Bedürfnisse. Wer sie unterstützt, erhält materielle Unterstützung und Beihilfen, auch wenn es sich eher um Anrechte und Gefallen als um direkte Unterstützung handelt.

Aber auch das stimmt nicht, denn im Laufe der Jahre hat sie eigentlich nichts gegeben, sondern eher alles genommen, angefangen mit der Monopolisierung von Händlern und der Zentralisierung von Reisegenehmigungen, deren Preis sich vervielfacht hat. Sie tat dies, bis sie de facto alle Zugänge zu Land, See und Luft kontrollierte. Dann übernahm sie die Kontrolle über alle lokalen Medien und verbreitete fortan nur das, was sie wollte. Ihre Großzügigkeit beschränkte sich auf ihre Kinder (die Kinder und Kader der Bewegung).

Die Unmengen an Geldern, welche die israelische Armee in den Tunneln und Vorratslagern der Hamas gefunden hat, haben uns das drastisch vor Augen geführt. Derweilen hungern die Menschen noch heute.

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Leben in Luxus: Hamasführer in Qatar, Bildquelle: DV.is

 

Stattdessen haben sie unsere Kinder, unsere Seelen und unsere Träume gestohlen, weil sie sie nicht mochten. Von Anfang an hat die Bevölkerung ihren Widerstand zum Ausdruck gebracht und ein Ende des internen Konflikts und der Spaltung Palästinas gefordert. Wir baten auch darum, Raum zum Arbeiten zu bekommen, aber die Hamas reagierte auf alle unsere Forderungen mit Gewalt und der Verhaftung aller, die sich für Demokratie und Freiheit einsetzen.«

In diesem Zusammenhang haben wir Fatima gefragt, wie die Menschen im Gazastreifen Israel vor dem 7. Oktober 2023 sahen:

»Demokratie, Freiheit und Leben! Perspektiven! Vor dem 7. Oktober hatten rund 18.000 Bewohner des Gazastreifens die Erlaubnis, in Israel zu arbeiten. Diese spezielle Gruppe wurde von der Hamas verfolgt und des Verrats beschuldigt; die meisten von ihnen durften nicht mehr nach Israel zurückkehren und wurden aller Beschäftigungsmöglichkeiten beraubt. Wir erwarten daher von unserer Regierung, dass sie unser Recht auf ein menschenwürdiges Leben an die erste Stelle ihrer Agenda setzt.«

"Die Arroganz der Hamas und ihr Bündnis mit dem iranischen Daesh [arabischer Ausdruck für den Islamischen Staat], der sich in palästinensischen Angelegenheiten einmischt, hat dann zu den Ereignissen vom 7. Oktober geführt."

Fatima betont, dass es nur einen Ausweg aus der jetzigen Situation gibt: »Die Hamas müsse Zugeständnisse machen und die Geiseln an ihre Familien zurückgeben. Es bedarf eines Dialogs und einer ernsthaften friedlichen Lösung, um der terroristischen Hamas-Bewegung ein Ende zu setzen.« Der Gazastreifen müsse unter eine zivile Verwaltung gestellt werden.

Hamas ist verantwortlich …

Khaled Barakat, der aus seiner Heimatstadt Shujaiya im Gazastreifen geflohen ist und seit Beginn des Krieges in Rafah wohnt, sagt uns:

»Das diktatorische Regime hat uns an diesen Punkt gebracht, und seitdem die Hamas durch Unterdrückung die Macht übernommen hat, haben sich die Meinungen der Bevölkerung und die der Hamas nie gedeckt, und die Hamas hat nie irgendeine Opposition akzeptiert, sodass Proteste meistens mit Morden und Verhaftungen endet.

Die Arroganz der Hamas und ihr Bündnis mit dem iranischen Daesh [arabischer Ausdruck für den Islamischen Staat], der sich in palästinensischen Angelegenheiten einmischt, hat dann zu den Ereignissen vom 7. Oktober geführt. Die Hamas versucht, alle davon zu überzeugen, dass Israel der Hauptfeind des palästinensischen Volks ist und dass sie Israel besiegen kann. Für uns Bewohner des Gazastreifens ist jedoch nicht Israel, sondern die Hamas der Hauptfeind des palästinensischen Volks, der für die Zerstörung Gazas und die katastrophale Lage verantwortlich ist: Der einzige Teil des Gazastreifens, der noch nicht zerstört ist, ist die Stadt Rafah, aber auch hier herrscht Hungersnot.«

… und gibt Israel die Schuld

Eine dritte Stimme kommt von Khaled, der meint:

»Im Gegensatz zu den Behauptungen in den Medien sind keine Bewohner des Gazastreifens in die israelischen Siedlungen eingedrungen. Es handelte sich um ein streng geheimes Projekt, die Bewohner des Gazastreifens hatten keine Ahnung davon, was die Hamas am 7. Oktober vorhatte.

Die Hamas hat keine Verantwortung für ihre Taten übernommen und behauptet, dass das Volk von Gaza die Befreiung seines Landes fordert und bereit ist, dafür zu kämpfen und zu töten. Sie behauptet, dass dies der Wille des Volks ist und dass sie, die Hamas-Bewegung, das Volk sogar heldenhaft beschützen würde. Bei denjenigen, die in die Siedlungen eindrangen, handelte es sich aber um Hamas-Mitglieder, nur teils in zivilen und teils in militärischen Uniformen. Schließlich wissen die Menschen in Gaza sehr gut, dass die Hamas Israel nicht die Stirn bieten kann. Sie mag ein paar Waffen und Raketen haben, aber das reicht nicht.«

Darüber hinaus sprach er über den aktuellen Stand der Aktivitäten der Hamas in diesen schwierigen Zeiten und über die Reaktion der Bevölkerung:

»Das Schweigen vieler Menschen wurde durch den Krieg gebrochen. Aus dem inneren Gefängnis der Palästinenser war er wie ein Weckruf. Tatsächlich gibt es eine starke Opposition, die versucht, das Verhalten der Hamas während und nach dem Krieg infrage zu stellen. Aber die Hamas unterdrückt immer noch gewaltsam die Bevölkerung, wenn sie demonstriert.

Als Zivilisten getarnt, schöpft die Hamas die humanitäre Hilfe ab und teilt sie in einen Teil für den Eigenbedarf und einen Teil für den Verkauf zu Preisen, die wir uns nicht leisten können. Dazu gehören auch Zelte, Bettzeug und Lebensmittel. Mehrere Menschen wurden vor unseren Augen ermordet, als sie mit der Hamas wegen deren Rechtsverletzungen in Streit gerieten. Und die Hamas leugnet weiterhin alles und macht dann Israel für diese Tötungen verantwortlich.«

Zum Abschluss meint Khaled, dass sich im Moment die Menschen in Gaza nichts anderes so sehnlich wünschen als eine neue, von der Hamas und ihren Kadern freie Gesellschaft.