Der Tarifabschluss in der deutschen Metallindustrie bringt Flexibilisierung

Flexibilität statt Klassenkampf

Seite 2 – Individuelle Regelungen in Tarifabschlüssen weiter verstärkt

 

Konnten bisher höchstens 18 Prozent aller Arbeitsverträge mit einer Arbeitszeit von 40 Stunden in der Woche abgeschlossen werden, können Betriebsräte künftig erst ab einer Quote von 22 Prozent Einspruch einlegen. Falls der Arbeitgeber den vielbeschworenen Fachkräftemangel nachweist, kann die Quote in einer Betriebsvereinbarung auf 30 Prozent erhöht werden; verdient mindestens die Hälfte der Beschäftigten mehr als 5 500 Euro, sogar auf 50 Prozent. Gerade in der Forschung und Entwicklung können die Unternehmen die Arbeitszeit so erheblich verlängern.

Nicht alle teilen deshalb die Begeisterung des IG-Metall-Vorsitzenden Jörg Hofmann, für den der Abschluss »einen Meilenstein auf dem Weg zu einer modernen, selbstbestimmten Arbeitswelt« darstellt. Auf Kritik stößt dabei nicht nur, dass die Arbeitszeitverkürzung der einen durch eine Arbeitszeitverlängerung der anderen ausgeglichen wird, sondern auch die stärkere Individualisierung tarifvertraglicher Regelungen. Nicht wenige befürchten, dass Beschäftigte künftig einfacher gegeneinander ausgespielt werden könnten, und w­arnen davor, die kollektive Durchsetzungsfähigkeit der Gewerkschaften zu schwächen. So kritisierten die gewerkschaftlichen Vertrauensleute des Mercedes-Benz-Werks in Bremen bereits vor dem Tarifabschluss das Vorgehen der IG Metall scharf: »Keine einheitliche Forderung mehr, jeder darf – wenn überhaupt – für seine individuellen Wünsche auf die Straße gehen. Ein Streik wird fast unmöglich, einheitlicher Manteltarifvertrag ade.« Dies sei »ein weiterer Schritt zur Selbstzerstörung unserer Gewerkschaft«.

Die fortschreitende Individualisierung und die Einführung von Wahlmöglichkeiten entsprechen allerdings den Wünschen der großen Mehrheit der Beschäftigten. Das zeigt unter anderem eine von der IG Metall vor der ­Tarifrunde abgehaltene Befragung zur Arbeitszeit, an der sich 680 000 Beschäftigte der Metall- und Elektroindustrie beteiligten. Die große Mehrheit äußerte sich dabei generell zufrieden mit ihrer Arbeitszeit.

82 Prozent der Befragten wünschten sich jedoch die Möglichkeit, diese zeitweise abzusenken, etwa um Kinder zu erziehen, Angehörige zu pflegen oder sich beruflich weiterzubilden, also die Arbeitszeit an ihre jeweilige Lebenssituation anzupassen, statt sich starren Modellen zu fügen. Die IG Metall versucht mit ihrem Tarifabschluss, diesem Bedürfnis ihrer Mitglieder nach flexibleren Arbeitszeitmodellen gerecht zu werden, ohne dabei die kollektive tarifliche Regelung der Arbeitszeit aufzugeben. Ob das gelingt, ist noch nicht abzusehen.

Die Einigung dürfte die Entwicklung hin zu individuellen Regelungen in Tarifabschlüssen weiter verstärken.

Zuletzt setzte bereits die Eisenbahngewerkschaft EVG einen Tarifvertrag mit Wahlmodell durch. Hier können sich die Beschäftigten zwischen sechs Tagen mehr Urlaub und einer Lohnerhöhung um 2,6 Prozent entscheiden. Auch in anderen Branchen wird kontrovers über eine Flexibilisierung der Arbeitszeit diskutiert. Der Abschluss der IG Metall dürfte diese Diskussionen weiter anheizen.

Profitieren werden von solchen Individualregelungen allerdings nur die Kernbelegschaften. Ihnen steht eine immer größer werdende Zahl von Leih- und Werkvertragsarbeitern gegenüber, für die Flexibilität vor allem Unsicherheit und niedrige Löhne bedeutet. Was in der gewerkschaftlichen Debatte über individuelle Möglichkeiten zur Arbeitszeitverkürzung zudem nur wenig Beachtung findet, ist die Tatsache, dass – unabhängig von flexibleren Arbeitszeitmodellen und Wahlmöglichkeiten – die generelle Reduzierung der Arbeitszeit für die Gewerkschaften immer mehr zur Existenzfrage wird. Will man das derzeitige Beschäftigungsniveau halten, führt angesichts des enormen Produktivitätszuwachses im Zuge der Digitalisierung an einer kollektiven und erheblichen Arbeitszeitverkürzung kein Weg vorbei.