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Sonntag, 12.02.2023 / 18:02 Uhr

Dem Erdbeben folgt ein politisches Beben in der Türkei

Von
Murat Yörük

Bildquelle: Wikimedia Commons, AKUT

Im Hinblick auf die kommenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen, die im Juni anstehen, dürfte das Abschneiden des staatlichen Krisenmanagements in diesen Tagen entscheidend zu deren Ausgang beitragen.

 

Nach zwei schweren Erdbeben in der Nacht vom 6. Februar im Südosten der Türkei und im Norden Syriens ist das ganze Ausmaß der vermutlich schwersten Erdbebenkatastrophe seit dem Beben in der nordöstlich gelegenen Provinz Erzincan im Jahr 1939 noch nicht abschätzbar. Erste Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO gehen von über 23 Millionen Menschen in zehn Provinzen aus, die unmittelbar oder mittelbar betroffen sind. Allein in der am schwersten betroffenen Stadt Antakya in der Provinz Hatay sind über tausend Gebäude zerstört.

Mit der steigenden Zahl der Toten und der schwindenden Hoffnung, Tage später noch lebende Verschüttete zu bergen, obgleich ad-hoc-Rettungsmaßnahmen mit internationaler Unterstützung erfolgten, steigt auch die Zahl der zusammengebrochenen Gebäude. Hieß es anfangs noch, es seien etwa fünfhundert zerstört, so korrigierte bereits am Donnerstag der türkische Katastrophenschutz AFAD die Zahl auf vorläufig über 6.400, und unabhängige Beobachter rechnen mit weit über 11.000.

Folgenlose Warnungen

Überraschend ist die Katastrophe nicht. 70 Prozent der türkischen Landmasse sind akut erdbebengefährdet. Der türkische Katastrophenschutz AFAD geht von 15.000 Erdbeben mit einer Stärke über 4,0 seit Beginn der Zählung im Jahr 1900 aus. Über 600.000 Gebäude wurden seitdem zerstört, mehr als 90.000 Menschen starben. Programme im Zusammenhang mit »städtischen Angelegenheiten und risikoorientiertem Katastrophenmanagement« sind rar, nach offiziellen Angaben betragen die Ausgaben nur etwa 0,5 Prozent des Staatshaushalts.

 

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Bildquelle: IHA-Sceenshot

 

Geologen bezeichnen das Zusammentreffen dreier tektonischer Platten als »Triple Junction«. Im betroffenen Gebiet im Südosten der Türkei treffen die anatolische, arabische und afrikanische Platte zusammen. Entsprechend warnen türkische als auch internationale Experten die türkische Regierung seit Jahren, allerdings folgenlos, so auch Hüseyin Alan, Vorsitzender der türkischen Kammer für Ingenieurgeologie. »Keines der Ämter, weder das Präsidialamt noch die lokalen Verwaltungen, haben unseren Bericht zur Kenntnis genommen, in dem wir auf die Notwendigkeit von Bodenuntersuchungen vor dem Bau von Gebäuden hingewiesen haben«, so Alan im Interview mit dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel.

AKP und der Bausektor

Das wirft bereits jetzt Fragen auf, zumal auch Gebäude zerstört wurden, die nur wenige Jahre alt sind, darunter Flughäfen, Krankenhäuser und sogar Häuser des türkischen Katastrophenschutzes AFAD selbst.

In der AKP-Ära der vergangenen einundzwanzig Jahre boomte der Bausektor, der die tragende Säule des Wirtschaftsaufschwungs war und wie kein anderer Sektor derart eng mit der AKP verbunden ist. Insbesondere im Osten und Süden der Türkei entstanden unter der Bauaufsicht der staatlichen Wohnungsbaugesellschaft TOKI Tausende von Wohnblocks, von denen viele jetzt zerstört sind. Mitunter dürfte bei der jetzigen Katastrophe auch eine Rolle gespielt haben, dass die AKP in den vergangenen Jahren dazu übergegangen ist, Gebäude ohne Baugenehmigungen nachträglich gegen eine Zahlung zu legalisieren. Betroffen sind von dieser Amnestie in der gesamten Türkei über sieben Millionen solcher Häuser, was dem Staat Einnahmen von ca. 1,25 Mrd. Euro eingebracht hat. Naheliegend ist, dass Wachstum und Profit wichtiger waren als die Erdbebensicherheit.

 

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Schlagzeile des Spiegel

 

Dafür spricht auch, was mit den Einnahmen aus der Erdbebensteuer in der Höhe von rund 43 Mrd. Euro geschehen ist, die nach dem Erdbeben von Izmit im Jahr 1999 unter der amtlichen Bezeichnung »private Transportsteuer« (Özel İletişim Vergisi) eingeführt wurde.  Wurde sie offiziell eingeführt, um den Katastrophenschutz zu verbessern und erdbebengefährdete Gebäude ausfindig zu machen und gegebenenfalls zu verbessern, gehen Kritiker mittlerweile immer öfter von einer Zweckentfremdung der Gelder aus, wofür auch die Aussage des ehemaligen Finanzministers Mehmet Simsek spricht, der 2011 in einem Video sagte: »Das Geld wird für Gesundheit, Straßen, Bahnstrecken, Luftfahrt, Landwirtschaft und für die Bildung ausgegeben.«

Anstehende Wahlen

Im Hinblick auf die kommenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen, die im Juni anstehen, aber sehr wahrscheinlich auf den 14. Mai vorgezogen werden sollen, dürfte das Abschneiden des staatlichen Krisenmanagements in diesen Tagen entscheidend zu deren Ausgang beitragen. Zwar sind die politischen Diskussionen nach der Katastrophe bislang noch sehr zurückhaltend, doch sollte es der türkischen Opposition in den kommenden Tagen und Wochen gelingen, auf eventuell vorhandene eklatante Mängel im Krisenmanagement hinzuweisen, wird die Chance auf einen Wahlsieg für den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan noch enger als bislang ohnehin schon vermutet.

Eine besondere Rolle wird das Krisenmanagement des türkischen Katastrophenschutzes AFAD spielen, einer staatlichen Behörde, die erst 2009 gegründet wurde und alle Maßnahmen in diesen Tagen zentral koordiniert. Dessen verantwortlicher Generaldirektor für Katastrophenhilfe ist Ismail Palakoglu, dessen Lebenslauf nicht gerade von jener Erfahrung zeugt, die gerade jetzt benötigt wird: Absolvent einer Imam-Hatip-Schule, Masterabschluss an einer Theologischen Fakultät, langjährige Generaldirektion der Türkischen Religionsstiftung (DIYANET) und erst seit dem 11. Januar dieses Jahres auf seinem jetzigen Posten.

Die Erfahrung lehrt, dass solch schwere Katastrophen in der Türkei durchaus wahlentscheidend sein können. Das Staatsversagen etwa im August 1999 rächte sich bei den nächsten Wahlen. 

 

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Titelseite von Rudaw

 

Nach dem schweren Erdbeben von Gölcük versagten sämtliche Behörden, nicht einmal das Militär konnte koordinierte Bergungsarbeiten durchführen, weil das dazu nötige Equipment fehlte. Auch wenn die Bankenkrise von 2001, von der viele Staatsbanken betroffen waren und die fast zu einem Staatsbankrott geführt hätte, mindestens ebenso dazu beigetragen hatte, dass die drei damaligen Regierungsparteien nicht mehr ins Parlament einziehen konnten und aus den Wahlen im November 2002 die AKP von Erdoğan als Wahlsieger hervorging, so darf doch die Rolle des Bebens von 1999 nicht unterschätzt werden.

Erdoğan siegte 2002 auch deshalb, weil er damals auf das Staatsversagen hinwies, Aufschwung und Transparenz versprach, der Korruption unter anderem im Bausektor den Kampf ansagte und auf die Bauaufsicht setzte. Legendär ist seine Anklage, niemand dürfe solche Erdbebenkatastrophen mit »Schicksal« erklären. Genau derselbe Erdoğan erklärt nun, einundzwanzig Jahre später, in einer Rede am 8. Februar im Bezirk Pazarcık in der Provinz Kahramanmaraş, die Erdbeben und deren Folgen seien »Dinge, die im Schicksalsplan stehen«.

Es ist aber auch vorstellbar, dass die kommenden Wahlen überhaupt nicht stattfinden und stattdessen verschoben werden. In den betroffenen zehn Provinzen wurde bereits für drei Monate der Notstand ausgerufen. Zwar erlaubt die türkische Verfassung gemäß Artikel 78 nur im Kriegszustand anstehende Präsidentschaftswahlen um maximal ein Jahr zu verschieben, verlassen kann man sich aber auf solche Regularien nicht, zumal die dritte Kandidatur von Erdoğan bereits selbst verfassungswidrig ist und der türkische Staatspräsident sich schon allein mit seinem Antreten über die Verfassung stellt.

 

Beitrag zuerst erschienen auf Mena-Watch

Donnerstag, 12.01.2023 / 20:51 Uhr

Türkei: HDP stellt eigenen Kandidaten für Präsidentschaftswahl auf

Von
Murat Yörük

Bildquelle: Acikradyo

Der genaue Termin für die kommenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen steht zwar noch nicht fest, doch die parteipolitischen Positionierungen haben schon begonnen.

 

Der heiße Wahlkampf hat in der Türkei zwar noch nicht begonnen, doch alle Parteien und Wahlbündnisse befinden sich bereits in den Vorbereitungen. Denn dieses Jahr stehen entscheidende Wahlen an: 65 Millionen Wahlberechtigte werden voraussichtlich im kommenden Juni das neue Parlament und den neuen Staatspräsidenten wählen. 

Zwar ist der genaue Wahltermin noch nicht bekannt gegeben und es wäre auch vorstellbar, dass die Wahlen, wie es Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan gerne hätte, vorgezogen werden. Doch zu einer solchen Entscheidung bedürfte es – nach der türkischen Verfassung jedenfalls – einer Zweidrittelmehrheit im Parlament und damit neben den Stimmen der Regierung auch zusätzlicher aus der Opposition, wonach es derzeit nicht aussieht.

Außer dem amtierenden Staatspräsidenten Erdoğan, der seine Kandidatur für die Volksallianz (aus seiner islamistischen AKP und der rechtsextremen MHP) bereits angekündigt hat, gibt es bislang keinen weiteren Kandidaten. Dabei wäre Erdoğans mittlerweile dritte Kandidatur äußerst umstritten und sogar verfassungswidrig. Artikel 101 der türkischen Verfassung beschränkt die Amtszeit eines Staatspräsidenten auf höchstens zwei Amtszeiten von jeweils fünf Jahren, woran sich aber Erdoğan, der bereits zweimal gewählt wurde, nicht halten will.

Das aus sechs Parteien bestehende (CHP, IYI-Partei, u. a.) Oppositionsbündnis Nationale Allianz wird nicht vor Ende Januar einen eigenen Kandidaten bestimmen. Der starke Favorit der Opposition, Ekrem Imamoglu, wurde erst im Dezember vergangenen Jahres zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und erhielt zusätzlich Politikverbot. Wird das Urteil rechtskräftig, ist eine Kandidatur seinerseits also nicht möglich. 

Im Rennen sind jedoch noch zwei weitere potenzielle Kandidaten: der Parteivorsitzende der Republikanischen Volkspartei (CHP) Kemal Kılıçdaroğlu und der populärere Oberbürgermeister der türkischen Hauptstadt Ankara, Mansur Yavaş (CHP).

Alleingang der HDP

Neben der Nationalen Allianz gibt es noch ein linkes Oppositionsbündnis, in dem die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) die größte Vertreterin ist. Die HDP hat am Wochenende nun auf ihrem Parteitag in Kars, einer nordöstlich gelegenen Provinzhauptstadt, beschlossen, einen eigenen Kandidaten für das Amt des Staatspräsidenten aufzustellen.

Die Co-Vorsitzende der HDP, Pervin Buldan, erklärte auf dem Parteitag: »Als HDP werden wir in Kürze den Namen unseres Präsidentschaftskandidaten bekannt geben. Die HDP wird bei den Wahlen mit einem eigenen Kandidaten oder einer Kandidatin antreten. Wir haben keine Gemeinsamkeiten mit der Volksallianz und der Nationalen Allianz. Wir haben jedoch Grundsätze, über die wir zu gegebener Zeit sprechen und verhandeln können. Wir sind zu einem Dialog bereit, aber jetzt haben wir uns zu einer eigenen Kandidatur entschieden.«

Diese Entscheidung kommt nicht überraschend. Zwar hoffte die Nationale Allianz – vor allem die Republikanische Volkspartei (CHP) –, die HDP würde keinen eigenen Kandidaten aufstellen und wie zuletzt bei den Oberbürgermeisterwahlen 2019 einen gemeinsamen Kandidaten unterstützen. Allerdings hätten dann alle sechs Parteien im Bündnis eine Bereitschaft signalisieren müssen, die bis zuletzt nicht erkennbar war.  Insbesondere die Vorsitzende der IYI-Partei, Meral Akşener, erklärte wiederholt, sie würde nicht an einem gemeinsamen Tisch mit der HDP sitzen, was schließlich dazu führte, dass es bislang zu keinen Gesprächen zwischen der Nationalen Allianz und der HDP kam und stattdessen Funkstille herrscht.

Königsmacherin 

Dabei ist die HDP keine zu unterschätzende Partei, weil ihr bei Wahlen regelmäßig wichtige Stimmenanteile mit weit über zehn Prozent zukamen. Ihre Entscheidung, einen eigenen Kandidaten aufzustellen, hat insofern vor allem wahltaktische Gründe. 

Aktuelle Umfragen deuten darauf hin, dass weder die Volksallianz um Erdoğan noch die oppositionelle Nationale Allianz die von der Verfassung aufgestellte 50-Prozent-Hürde überschreiten werden, um im ersten Wahlgang um das Amt des Staatspräsidenten als Sieger hervorzugehen. Die HDP kommt in verschiedenen aktuellen Umfragen auf mindestens zehn, manchmal sogar auf dreizehn Prozent. Somit wird es wahlentscheidend auf die Stimmen der HDP-Wähler ankommen, wer am Ende Staatspräsident wird: ob im ersten oder in einem zweiten Wahlgang, bei dem eine einfache Mehrheit ausreicht.

Der HDP kommt somit die Rolle der Königsmacherin zwischen zwei konkurrierenden politischen Allianzen zu, eine Rolle, der sich die HDP auch bewusst ist. »Wir haben allen gesagt, dass wir bereit sind, mit jeder Partei zu verhandeln, die an unsere Prinzipien glaubt, aber niemand hat versucht, uns zu treffen oder einen Vorschlag zu machen«, so Meral Daniş Bestaş, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der HDP.

Kurdischsprachige Kommentatoren wie Ecevit Kılıç gehen sogar davon aus, die HDP hätte noch nicht endgültig entschieden, einen eigenen Kandidaten aufzustellen. »Die HDP könnte diesen Schritt rückgängig machen«, so Kılıç, was allerdings Gespräche mit ihr voraussetze, und zwar bald. »Möglich ist das, wenn die Nationale Allianz die HDP direkt in die gemeinsamen Kandidatenverhandlungen einbezieht«, so Kılıç in einem Kommentar auf Euronews.

Bestaş betont, die Entscheidung ihrer Partei sei klar und für jedermann ersichtlich. »Wir wollen das Ein-Mann-Regime abschaffen und sind offen für Gespräche mit allen, die mit unseren Prinzipien sympathisieren«, so Bestaş. Unterstützung erfährt die HDP von ihrem Bündnispartner, der Türkischen Arbeiterpartei (TIP), die mit vier Abgeordneten ebenfalls im Parlament vertreten ist. »Es ist an der Zeit, dem Ein-Mann-Regime ein Ende zu bereiten«, sagte denn auch der Vorsitzende der Arbeiterpartei, Erkan Baş.

Reaktionen der Opposition

Das Oppositionsbündnis der sechs Parteien ließ auf Reaktionen nicht lange warten. Zu einer ähnlichen Einschätzung wie die Arbeiterpartei und die HDP kommt die größte Oppositionspartei, die CHP, die hinter der Erklärung der HDP ebenfalls eine Botschaft und ein Zeichen von Verhandlungsbereitschaft erkennt. Man sei zu Kompromissen bereit, so Özgür Özel, stellvertretender Vorsitzender der CHP. »Auch wir wollen Erdoğan loswerden, wir wollen keinen neuen Erdoğan-Typen«, so Özel weiter. 

Der stellvertretende Vorsitzende der einen Teil des Oppositionsbündnisses bildenden DEVA-Partei, İdris Şahin, erklärte: »Politisch gesehen ist die Botschaft der HDP vernünftig. Sie wollen uns sagen: Ihr braucht unsere Stimme bei der Präsidentschaftswahl.‹ Wir haben ein Präsidialsystem im Land mit 50 + 1 Prozent. Die HDP sendet ihre Botschaft an die Opposition, und das Beispiel Istanbul ist offensichtlich.«

Der Sprecher der Zukunftspartei, ebenso Teil des Oppositionsbündnisses und eine Abspaltung der AKP, betonte, die HDP sei eine wichtige Partei mit Masse. »Sie vermittelt auch, dass sie in der Politik Gewicht hat«, so Serkan Özcan. Auch der Sprecher der Saadet-Partei, einer islamistischen Splitterpartei und ebenso Teil des Oppositionsbündnisses, Birol Aydın, signalisierte Bereitschaft: »Wir sind offen für Verhandlungen.« Der Fraktionsvorsitzende der IYI-Partei, İsmail Tatlıoğlu, äußerte sich zur Präsidentschaftskandidatur der HDP hingegen deutlich zurückhaltender: Die HDP habe »keinen Einfluss auf unsere Prozesse. Wir haben getrennte Allianzen. Jeder arbeitet an seiner eigenen politischen Linie, auch die HDP.«

 

Beitrag zuerst erschienen auf Mena-Watch

Montag, 19.12.2022 / 21:39 Uhr

Verurteilung von Ekrem İmamoğlu: Türkische Justiz als Gefälligkeitsinstitution

Von
Murat Yörük

Bild: Thomas v. der Osten-Sacken

Das türkische Justizsystem verkommt im Vorfeld der kommenden Wahlen endgültig zu einer Gefälligkeitsinstitution des regierenden Präsidenten.

 

Es ist kein Geheimnis, dass die türkische Justiz in den vergangenen Jahren zunehmend politisiert wurde und zu einer Gesinnungsjustiz wurde, die sich immer mehr politischer Urteile bedient, um sich der herrschenden Regierung als offene Flanke anzubiedern und missliebige öffentliche Persönlichkeiten und prominente Politiker abzustrafen. 

Zuletzt traf es im August die türkische Sängerin Gülsen, die wegen eines Witzes über Absolventen türkischer Imam-Hatip-Schulen zunächst festgenommen und dann zu Hausarrest verurteilt wurde. Seit 2019 wurden auch in mehr als fünfzig Städten Bürgermeister der Oppositionspartei HDP abgesetzt, einige ihrer Abgeordneten im türkischen Parlament sind im Gefängnis.

Eine politische Justiz – noch unter laizistisch-kemalistischen Vorzeichen – bekam auch 1998 der damalige Oberbürgermeister Istanbuls Recep Tayyip Erdoğan zu spüren, als er für das Vortragen eines politischen Gedichts wegen Volksverhetzung zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt wurde und infolgedessen als Istanbuler Oberbürgermeister zurücktreten musste. 

In den Medien hieß es damals noch, mit diesem Urteil könne Erdoğan nicht einmal mehr Ortsvorsteher werden, doch nur vier Jahre später wurde er Ministerpräsident. Jahrelang hatte Erdoğan diese Bestrafung politisch ausgeschlachtet und sich als Opfer einer laizistischen Gesinnungsjustiz verkauft.

Politisches Urteil

Dass nun vierundzwanzig Jahre später der amtierende Oberbürgermeister Istanbuls, Ekrem İmamoğlu, von einer nunmehr erdoganloyalen Justiz wegen Beleidigung des Wahlrats abgestraft wird, verdeutlicht die zunehmende Angst im regierenden Lager vor den kommenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen, die voraussichtlich im Juni 2023 stattfinden werden. İmamoğlu gilt als starker Favorit der Opposition um das Amt des Staatspräsidenten, gleichwohl das Oppositionsbündnis bislang noch keinen Kandidaten bestimmt hat.

Ein Dorn im Auge Erdoğans ist İmamoğlu dennoch, dessen Wahlsieg in Istanbul für Erdoğan die größte politische Niederlage bedeutet – und das gleich zweifach: Während İmamoğlu im ersten Wahlgang Ende März 2019 noch mit einem Vorsprung von 14.000 Stimmen siegte – woraufhin die Wahl vom Wahlrat wegen vermeintlichem Wahlbetrug annulliert wurde –, gewann İmamoğlu im zweiten Wahlgang im Juni 2019 mit dem deutlichen Vorsprung von knapp 800.000 Stimmen.

Als sich İmamoğlu nach der Annullierung der Oberbürgermeisterwahl im März 2019 über deren Rechtswidrigkeit beschwerte, beschimpfte ihn der türkische Innenminister Süleyman Soylu als Idioten. İmamoğlu wiederum bezeichnete jene als Idioten, welche die Wahl annulliert hatten. Daraufhin eröffnete die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren und klagte İmamoğlu vor dem Strafgericht wegen Beleidigung der Mitglieder des Hohen Wahlrats an.

Das Verfahren zog sich einerseits in die Länge, andererseits wurde der zuständige Richter im Juni dieses Jahres strafversetzt. Wie sich zwischenzeitlich herausstellte, sah er den Tatbestand der Beleidigung als nicht erfüllt an und bereitete einen Freispruch vor. Der neu eingesetzte Richter kam zu einer anderen Einschätzung und sah die Beamtenbeleidigung als erwiesen an und verhängte in Urteil von zwei Jahren, sieben Monaten und fünfzehn Tagen mit einem zusätzlichen Politikverbot.

Reaktionen

»Ich sehe diese sinnlose und rechtswidrige Bestrafung als Belohnung für meinen Erfolg«, resümierte İmamoğlu in einer ersten Reaktion, in der er das Urteil als politisch motiviert bezeichnete. Seine Verteidiger kündigten die sofortige Berufung vor einem höheren Gericht an. Der Vorsitzende der größten Oppositionspartei CHP, Kemal Kılıçdaroğlu sprach von einem »Putsch gegen den Willen des Volkes«. 

Meral Akşener, Vorsitzende der İYİ-Partei, begleitete – anders als Kılıçdaroğlu – İmamoğlu zum Prozess und meinte in einer ersten Reaktion: »Hinter dieser Entscheidung steckt Angst. Die Angst vor dir, die Angst vor der Demokratie, die Angst vor dem Willen der Nation.« Der ehemalige Staatspräsident Abdullah Gül sprach in einem Tweet davon, das Urteil stelle nicht nur eine Ungerechtigkeit gegenüber İmamoğlu, sondern auch eine gegenüber der Türkei dar. Er geht davon aus, dass ein höheres Gericht das Urteil revidieren wird.

Im AKP-Lager herrscht indes geteilte Stimmung. Bülent Arınç etwa, Gründungsmitglied der AKP und zuletzt noch Berater des türkischen Staatspräsidenten, hält das Urteil für falsch und hinsichtlich der kommenden Wahlen für fatal. Dieses Urteil würde die Opposition nur stärken, so Arınç über Twitter.  Auch der sonst sehr erdoganloyale Palastjournalist Abdulkadir Selvi spricht sich gegen das im Urteil verfügte Politikverbot aus. İmamoğlus Profil als Kandidat um das Amt des Staatspräsidenten würde dadurch nur gestärkt und die Opposition ginge mit einem Vorsprung in die kommenden Wahlen, so Selvi. 

Mit anderer Zunge spricht Justizminister Bekir Bozdağ, der betont, die Rechtsprechung werde von unabhängigen Gerichten im Namen der türkischen Nation ausgeübt. Keine Behörde oder Person dürfe Richtern Anweisungen erteilen, so Bozdağ. Ähnlich Yilmaz Tunç, Fraktionsvorsitzender der AKP: »Die Behauptung, die Entscheidung sei auf Befehl der Regierung getroffen worden, ist nichts als eine Verleumdungspolitik. In eine unabhängige Justiz darf nicht eingegriffen werden.“

Verlust der Großstadtpatronage

So sehr die Reaktionen im AKP-Lager unterschiedlich ausfallen, gibt es neben der politischen Panik im Regierungslager auch andere Gründe, die zu dem Urteil geführt haben. Die verlorene Oberbürgermeisterwahl 2019 hat die Regierungspartei AKP bis heute nicht verkraften können

Doch die verlorene Liebe der Großstadt Istanbul ist nicht nur ein politischer Verlust. Seit 1994 hatten Erdoğan und die Seinen in Istanbul ein Patronagesystem aufgebaut, das unter anderem einer ganz besonderen ökonomischen Klasse hohe Gewinnanteile versprach, erwirtschaftet doch allein Istanbul etwa vierzig Prozent des Bruttoinlandsprodukts: Das grüne Kapital, vertreten durch islamische Unternehmen und Verbände, das seit der verlorenen Wahl 2019 bei öffentlichen Ausschreibungen der Verwaltung leer ausgeht. 

Konnte allein schon der politische Verlust der Großstadt nicht verkraftet werden, gilt dies umso mehr für die ausbleibenden ökonomischen Pfründe der Vetternwirtschaft. So gehörte zu den ersten Amtshandlungen İmamoğlus als Oberbürgermeister die Streichung finanzieller Zuwendungen für AKP-nahe Stiftungen wie die von Erdoğan gegründete Stiftung TÜRGEV oder die Kündigung von Leasingverträgen für Dienstwagen, die AKP-nahe Unternehmen zu deutlich höheren Preisen als üblich vermieteten. Diese Einsparungspolitik setzte sich in den vergangenen Jahren fort, zum Missfallen jener, die vom Patronagesystem profitierten.

Wahlkampf bereits begonnen

Während es noch keinen Wahltermin für die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2023 gibt, rechnen Beobachter mit einem turbulenten Wahlkampf. Entscheidend wird dabei sein, welchen Kandidaten die Opposition aufstellen und ob es ihr gelingen wird, einen gemeinsamen Kandidaten gegen Erdoğan zu bestimmen.

Die Wahlumfragen rechnen mit einem knappen Ergebnis – umso mehr wird aus Sicht der Opposition daher entscheidend sein, den richtigen Kandidaten zu finden. İmamoğlu wäre ein solch starker Kandidat, doch mit dem aktuellen Urteil könnte seine Kandidatur gefährdet sein.

 

Beitrag zuerst erschienen auf Mena-Watch

Gedenkveranstaltung am 19. Februar auf dem Marktplatz in Hanau
Inland Das Gedenken an das Attentat von Hanau wird zum Teil politisch vereinnahmt

Vereinnahmt von allen Seiten

Erneut haben unter anderem Antizionisten und türkische Nationa­listen versucht, das Gedenken an die Terroropfer von Hanau für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Von mehr...
Sonntag, 13.06.2021 / 14:42 Uhr

Gibt Sedat Peker auf?

Von
Murat Yörük

Kein Video heute; Bildquelle: Youtube

Das nächste von vielen erwartete Video des Mafiabosses kam nicht. Gibt er gar auf?

Seit Wochen ziehen die Enthüllungsvideos des Mafiapaten Sedat Peker die türkische Gesellschaft in seinen Bann. Auf inzwischen mehr als 150 Millionen Aufrufe kommen seine insgesamt neun Videos. Und Peker setzt unbeeindruckt die Themen, kommentiert fleißig über Twitter, und treibt Politik und Staat vor sich her. Sehr geschickt, könnte man mutmaßen.

Woche für Woche wartet seit Anfang Mai ein Millionenpublikum gespannt auf das neue Video. Wenn die Mafia spricht, hören alle gebannt zu – als ob niemand sonst sich zutrauen würde, die Themen, die Peker anspricht, auszusprechen. Auch das ZDF Auslandsjournal berichtet inzwischen über die schweren Anschuldigungen gegen die türkische Regierung. Heute scheint es allerdings eine Ausnahme zu geben: Kein Video wie gewohnt zur üblichen Sendezeit Sonntagmorgen. Ob Peker genug hat und zum Schweigen gebracht wurde? Dagegen sprechen zwei Gründe.

1. Erdoğan trifft Biden

Zum einen nimmt Peker weiterhin Rücksicht auf den türkischen Staatspräsidenten Erdoğan. Bislang sind die Angriffe wohldosiert allein gegen das Umfeld des Präsidenten gerichtet. Erdoğan hat sich zwar hinter seinen Innenminister Süleyman Soylu gestellt, hält sich aber sonst sehr zurück und nennt Peker nicht beim Namen.

Am 14.06 steht ein Gespräch am Rande des NATO-Gipfels in Brüssel mit US-Präsident Joe Biden an. Erdoğan hat schon länger um ein Gespräch gebeten, wurde bislang aber von Biden abgewiesen. Peker will darum nicht den Eindruck entstehen lassen, den Präsidenten in weitere Schwierigkeiten zu bringen. Zuletzt hatte er noch angekündigt, er werde die Verbindungen zwischen Erdoğan und der Mafia offenlegen. Nach dem 14.06 werde er allerdings keine Rücksicht nehmen, so zuletzt Peker.

2. Türkische Mehrheit glaubt Peker

Zum anderen dürften die bisherigen Enthüllungen in der türkischen Bevölkerung genug Resonanz erzeugt haben. Peker ist inzwischen ein Millionenpublikum sicher. Eine repräsentative Umfrage mit 3170 Teilnehmern in 27 Provinzen ergab, dass 56 Prozent die Videos kennen. 52 Prozent der Teilnehmer halten die Behauptungen von Peker für wahr. Weitere 68 Prozent gaben an, dass die Politik-Mafia-Beziehungen wie in der Vergangenheit in der Türkei noch andauern. Sogar 33 Prozent der AKP-Wähler stimmen dieser Aussage zu.

Neue Enthüllungen

Diese Woche zogen insbesondere die jüngsten Enthüllungen Aufmerksamkeit auf sich. Peker legte offen, wie der türkische Innenminister Süleyman Soylu einem mit internationalem Haftbefehl gesuchten Geschäftsmann im Dezember 2020 zur Flucht verholfen habe. Dabei handelt es sich um den türkischen Staatsbürger Sezgin Baran Korkmaz, der im Zentrum eines US-Betrugsskandals steht. Er und weitere 17 türkische Unternehmer stehen im Verdacht, die US-Finanzbehörden um weit über 120 Millionen US-Dollar betrogen zu haben. Bis Dezember vergangenen Jahres hielt sich Korkmaz trotz eines internationalen Haftbefehls in der Türkei auf. Peker behauptet nun, der türkische Innenminister höchstpersönlich habe Korkmaz gewarnt, um der Strafverfolgung zu entgehen. Einen Tag nach einem persönlichen Gespräch im Innenministerium sei Korkmaz ins Ausland geflüchtet. Peker behauptet weiter, Videos von diesem Treffen am 4. Dezember 2020 lägen ihm vor. Und am 5. Dezember sei Korkmaz ins Ausland geflüchtet. Aufgrund dieser Brisanz fordern nun einige AKP-Abgeordnete sogar, dass gegen Soylu ermittelt wird.

Verbindungen nach Deutschland

In seinem letzten Video sprach Peker auch über seinen Kontaktmann Metin Külünk. Külünk habe ihn darum gebeten, auf Bitten Erdoğans vor dem Treffen mit US-Präsident Biden keine Videos zu veröffentlichen. Külünk ist AKP-Abgeordneter und sitzt im Parteipräsidium. Seit Jahren steht er in deutschen Sicherheitskreisen im Verdacht, in engem Kontakt zur inzwischen verbotenen Bande „Osmanen Germania“ zu stehen. Er gilt unter erdoğanloyalen Deutsch-Türken auch als der „große Bruder Europas“.

Peker behauptet nun, Külünk habe ihn darum gebeten, Geld an türkische Vereine in Deutschland zu schicken. „Es gibt diese Vereine in Deutschland. Das sind gute Freunde, ich mag sie. Er (Metin Külünk) bat mich, ihnen Geld zu senden und ich habe ihnen unter der Hand Geld geschickt, so Peker in seinem neunten Video mit inzwischen über 12 Millionen Aufrufen. 

Wie der „Tagesspiegel“ nun nahelegt, handelt es sich bei dem türkischen Verein um die „Osmanen“. Deutsche Behörden hätten bei einer Observation beobachtet, wie Külünk Geld an die „Osmanen“ übergeben habe. Die engen Kontakte seien auch durch Telefonüberwachungen belegt.

Montag, 31.05.2021 / 17:13 Uhr

Mafiaboss Sedat Peker spricht über die Verwicklungen der Türkei in Syrien

Von
Murat Yörük

Bildquelle: Youtube

In seinem achten Video beschäftigt sich Sedat Peker mit der türkischen Syrienpolitik und kündigt an, sich bald auch mit Präsident Erdogan selbst beschäftigen zu wollen

Brisante Enthüllungen versprach zuletzt der türkische Mafiaboss Sedat Peker. Er werde dem türkischem Regime „ein Arm und ein Bein herausreißen“, hieß es vergangene Woche auf Twitter, nachdem der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan vergangenen Mittwoch sein wochenlanges Schweigen brach und sich hinter den türkischen Innenminister Süleyman Soylu gestellt hat. Das war ein deutliches Zeichen an Peker, der seit Anfang Mai mit Enthüllungsvideos, die zwischenzeitlich über 80 Millionen Mal aufgerufen wurden, auf YouTube zu einem Star aufgestiegen ist. Mit Spannung wurde deshalb das achte Video des türkischen Paten erwartet. Gestern war es soweit, und innerhalb eines Tages verzeichnet es bereits 10 Millionen Aufrufe.

In den bisherigen Videos zeichnete sich zwar eine Stoßrichtung an; Folge für Folge rückte unverkennbar der türkische Präsident ins Zentrum; doch er blieb insoweit verschont, dass lediglich dessen näheres Umfeld den Angriffen ausgesetzt war. Das dürfte sich nun ändern, nimmt man Peker beim Wort. Er kündigte, ohne weiter darauf einzugehen an, dass er im kommenden Video mit Erdoğan persönlich abrechnen werde. Mit Belegen werde er unter anderem offenlegen, wann und wo sie sich kennenlernten, zu Zeiten bereits, als Erdoğan politisch schwach war, also weder Ministerpräsident noch Staatspräsident war. „Das waren Zeiten, als du ein Niemand warst, und ich war da, ohne mich in den Vordergrund zu stellen“, so Peker.

Kontake zur al-Nusra Front

Ausführlich schildert Peker im neuen Video die Verwicklungen der Türkei in den syrischen Bürgerkrieg.

„Nachdem die Lieferung der MIT (Anm.: Türkischer Geheimdienst) an der türkischen Grenze abgefangen wurde, lieferten wir an die Turkmenen aus Bayirbucak Drohnen, Kleidung, Funkgeräte, Sicherheitswesten. Mehrere LKWs. Wir sprachen mit einem befreundeten Abgeordneten, auch er hat Lieferungen über uns abgewickelt. Später sagten sie, hier sind noch weitere LKWs. Und es gibt noch andere Transporte, die über meinen Namen abgewickelt wurden. Deren Lieferungen würden an andere Turkmenen an anderen Orten gehen, sagten sie mir. In diesen Fahrzeugen waren Waffen, wir sind ja keine Kinder, wir wussten das also. (…) Es wurde von SADAT organisiert. Und unter meinem Namen geliefert. So fanden keine Grenzkontrollen statt, nichts wurde protokolliert, die Lieferung konnte sofort die Grenze passieren.“

Peker nennt Ramazan Öztürk und Murat Sancak als diejenigen, die ihn mit Wissen des Präsidentenpalastes dabei unterstützt haben sollen, eben jene Lieferungen an die turkmenischen Einheiten in Syrien zu organisieren. Peker bezichtigt sich selbst, nennt weitere Details über die Abwicklung der Lieferungen, und legt die Spur zur türkischen Organisation SADAT – eine Privatarmee Erdoğans – offen, die über ihn auch Waffen an die al-Nusra-Front geliefert habe.

„Jene Turkmenen haben sich mit Videos bei mir bedankt. Dann habe ich festgestellt: Da sprechen ja zwei Personen arabisch. Später erzählte mir ein turkmenischer Freund, die seien von der al-Nusra. Andere Freunde sagten, diese zusätzlichen Lieferungen seien an al-Nusra gegangen. Alles wurde über mich abgewickelt, aber ich habe nichts entsandt, das war die Lieferung von SADAT.“

Ein wichtiger Name sei in diesem Zusammenhang Murat Sancak, der für das Präsidentenpalast solche und ähnliche Geschäfte in Syrien mit dem Kontaktmann der al-Nusra-Front Ebu Abdurrahman koordiniere. In einem seiner Istanbuler Villen verweile auch derzeit der Schwiegersohn Erdoğans, Berat Albyarak, der nach seinem Rücktritt als Finanzminister seit Monaten untergetaucht ist.

Zwischenzeitlich hat Adnan Tanriverdi, der Chef von SADAT die Aussagen von Peker verneint. „In Syrien hat SADAT keinerlei Aktivitäten. Mit Sedat Peker habe ich keine Beziehungen, zu keinem Zeitpunkt jemals Kontakt.“

 

Sonntag, 30.05.2021 / 10:03 Uhr

Türkei: Ehrenmänner brechen das Schweigen

Von
Murat Yörük

Wenn es um die Ehre geht, versteht ein Mafioso keinen Spaß. Und Sedat Peker, ein türkischer Mafiaboss, der seit Anfang Mai auf YouTube bislang sieben Enthüllungsvideos veröffentlicht hat und inzwischen mit über 60 Millionen Aufrufen zum aktuell beliebtesten YouTube-Star in der Türkei aufgestiegen ist, ist nach eigenem Verständnis ein Ehrenmann.

 

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Bildquelle: Twitter

 

Er weiß, was er tut; und er kennt auch den in seinen Kreisen üblichen Ehrenkodex des Schweigegebotes. Dass er das Schweigegelübde der Mafia dennoch bricht und zugleich zeigt, dass er die Ehrenregel kennt, beweist er im ersten seiner Enthüllungsvideos: Auf dem Tisch vor ihm liegt eine türkische Ausgabe des Romans „Omertà“ von Mario Puzo.

Ein Mann der Ehre also – so will Peker seine Botschaft verstanden wissen, um nicht missverstanden zu werden. Und ein Ehrenmann kann die Regel der Regeln umgehen oder neu schreiben, wenn es dazu einen ganz besonderen Anlass gibt.

Ein Regime in Bedrängnis

Tatsächlich gab es diesen Anlass, denn was Peker in seinen Enthüllungsvideos preisgibt, ist bis auf einige Ausnahmen nicht sonderlich neu: Es geht um Erpressung im Staatsauftrag; um Korruption; um vertuschte und nie aufgeklärte Morde; um Heroin- und Kokaingeschäfte und vieles mehr.

Wer das politische Geschehen in der Türkei regelmäßig verfolgt, dürfte sich über die meisten Enthüllungen kaum wundern. Seit Jahren gibt es solche und ähnliche Vorwürfe gegen die Regierung, Konsequenzen bleiben im Regelfall aus.

Neu ist allerdings, dass ausgerechnet Peker diesen Weg geht, und damit das Erdoğan-Regime in große Verlegenheit bringt. Denn der Pate ist nicht irgendjemand: er dominiert seit den frühen 1990er Jahren die türkische Unterwelt, war mehrfach inhaftiert, wurde als einer der Hauptangeklagten gegen die angeblichen Verschwörer, die sich unter dem Namen Ergenekon gegen die Regierung verschworen hätten, zum Staatsfeind deklariert, wurde deswegen verurteilt und nach Revision der Urteile wieder freigelassen.

Nach dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli 2016 stellte der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan eine neue politische Allianz auf. Und zu dieser Allianz gehörte bis dato auch informell Sedat Peker. Insofern ist Peker ein brisanter Fall für das Erdoğan-Regime, denn er ist ein Insider.

Peker ist seit Ende 2019 aufgrund eines Ermittlungsverfahrens gegen ihn auf der Flucht. Doch bis Anfang Mai schwieg er, obwohl sich abzeichnete, dass er unter den konkurrierenden Gangs und im Buhlen um die Hand des Staates zwischenzeitlich den Kürzeren gezogen hat. So ließ Präsident Erdoğan im April 2020 nach einem Amnestiebeschluss auf Drängen seines Bündnispartners Devlet Bahceli, dem Führer der nationalistischen Bewegung MHP, den Mafiaboss Alaattin Cakici frei, ein Konkurrent Pekers.

Bereits in den 1990er Jahren waren Peker und Cakici in einen Mafiakrieg verwickelt, und obwohl sie die gleiche politische Gesinnung teilen, herrscht in Sachen Verteilungskampf unversöhnliche Konkurrenz. Die Amnestie für Cakici war insofern ein deutliches Zeichen dafür, dass im altbekannten Dreieck aus Politik-Staat-Mafia nunmehr Cakici der Vorzug gegeben wird.

Im April dieses Jahres wurde die Istanbuler Villa des flüchtigen Paten durchsucht – und das dürfte den entscheidenden Anlass dafür gegeben haben, warum Peker gerade jetzt das Schweigen bricht. Ausführlich schildert er im ersten seiner Videos, wie Truppen mit geladenen Waffen und Drogenspürhunden nachts in die Villa eingedrungen sind und seine Ehefrau und Kinder verschreckt haben. Im Ehrenkodex des Paten war dieses Eindringen in die Privaträume während seiner Abwesenheit ein Affront gegen ihn. Und so etwas kann Peker, der sich martialisch und selbstbewusst gibt, nicht gefallen lassen.

Enthüllungsvideos im Serienformat

Seit Anfang Mai schwört der geschasste Pate in seinen Enthüllungsvideos auf Rache, und teilt insbesondere gegen den türkischen Innenminister Süleyman Soylu und dessen Ziehvater Mehmet Agar aus, der ein weiterer einflussreicher Pate ist. Die Videos gehen inzwischen viral, und in der politischen Öffentlichkeit wird seit Tagen über nichts anderes geredet.

Peker will ein Massenpublikum erreichen; entsprechend sind die Videos gestaltet; sie sprechen unterschiedliche politische Spektren an, die an Serien gewohnt sind. Es ist kein Zufall, dass vieles tatsächlich an ein Serienformat erinnert, nur eben nicht auf Netflix, sondern YouTube.

Türkische Serienproduktionen haben selten ein abgeschlossenes Drehbuch; zu Beginn ist nie klar, wie viele Folgen es letztendlich geben wird – und auch Peker scheint nicht ansatzweise eine Ahnung davon zu haben, was sein Ziel ist. Gedreht werden von Peker immer zwei Folgen seiner Videos, Publikumsreaktionen und -erwartungen werden berücksichtigt, sogar auf Nachfragen geht er gelegentlich ein.

Peker baut in seinen Filmen Spannung auf, philosophiert über religiöse wie moralische Fragen, analysiert etwa das taktische Geschick von Atatürk oder Ali, dem Schwiegersohn Mohammeds. Er arbeitet sich mit rhetorischem Geschick tastend vor; referiert ausführlich etwa über Atatürk, und legt dar, wieso es klug sei, pragmatisch statt ideologisch zu denken und zu handeln; erzählt seine Fluchtgeschichte, reiht Anekdote an Anekdote aus dem Gangsterleben; wägt ab, ob es Sinn mache, ihn zu töten; und redet sich in Rage, wenn er auf seine Gegner zielt.

Die gelegentlichen Auslassungen und Andeutungen erwecken den Eindruck, als spielte er mit dem Publikum, um zwischen den Folgen das Enträtseln seiner versteckten Botschaften anzufeuern. Peker wird laut, wenn es gegen die „Ehrlosen“ geht; und dann wieder leise, wenn er einen Schluck Wasser getrunken hat, um sich zu beruhigen. Mal will er dem Innenminister ein Hundehalsband anlegen, und es wird bizarr; dann beweist er Witz und Selbstironie.

Er legt viel Wert darauf, verstanden zu werden, mischt Straßentürkisch mit Zitaten aus dem Koran; zitiert Mustafa Kemal Atatürk, Sunzi, Stefan Zweig oder Erasmus aus dem Gedächtnis. Immer sind Bücher auf dem Tisch vor ihm platziert: etwa eine Trotzki-Biografie von Isaac Deutscher, Bücher von Mario Puzo oder Dostojewski.

Die Enthüllungen selbst, auf die es ankommen soll, wirken montiert, zerstreut und selten werden sie auch tatsächlich belegt. Und dennoch ist Pekers Auftreten durch sein Sendungsbewusstsein, sein Charisma und seine Mafia-Attitüde fesselnd. So kennen türkische Zuschauer schließlich einen Paten, und die Beliebtheit von türkischen Mafia-Filmen wie „Tal der Wölfe“ oder „Cukur“ gereichen Peker zum Vorteil.

Erdoğan bricht das Schweigen

Bislang ist auffällig, dass Peker den türkischen Präsidenten Erdoğan noch durchaus respkethaft als großen Bruder anspricht und nicht direkt angeht. Dennoch dürfte seine Botschaft an den Präsidenten angekommen sein; dass er nämlich noch weitere Enthüllungen anzubieten hat – kaum zu zweifeln ist daran, dass auch Erdoğan selbst zum Angriffsobjekt werden könnte.

Der nahm zunächst jedoch einmal auf der Tribüne Platz, schwieg, und sah dem Hahnenkampf zwischen Peker und Soylu zu. Am Dienstag stellte sich Soylus Bündnispartner Devlet Bahceli an dessen Seite; tags darauf zog Erdoğan nach, positionierte sich nun doch und machte deutlich, dass er hinter seinem Innenminister stehe. „Wir stehen mit unserem Innenminister in seinem Kampf gegen kriminelle Banden sowie gegen terroristische Organisationen“, sagte Erdoğan.

Mit Spannung wird nun die das weitere Vorgehen von Peker erwartet. Er werde weitermachen, und für Sonntag kündigte der Pate per Twitter bereits das nächste Video an

 

Beitrag zuerst erschienen auf Mena-Watch

Montag, 24.05.2021 / 10:28 Uhr

Sedat Peker – Ein Insider des türkischen Regimes packt aus 

Von
Murat Yörük

Bidquelle: Youtube

Der Pate der türkischen Unterwelt wendet sich auf Youtube an die Öffentlichkeit mit pikanten Enthüllungen über die türkische Regierung. 

Es kommt nicht alle Tage vor, dass ein Mafiaboss, der für gewöhnlich die Unterwelt bevorzugt, die virtuelle Öffentlichkeit sucht und innerhalb kürzester Zeit zu einem Youtube-Star aufsteigt. Geht es allein nach Zahlen, sind die in den vergangenen Tagen hochgeladenen sieben Videos des türkischen Paten Sedat Peker mit insgesamt 40 Millionen Klicks nicht zu verachten. Seit Tagen spricht die politische Öffentlichkeit in der Türkei – mit Ausnahme aller staatsnahen Medien –  über nichts anderes als die Enthüllungungsvideos. Die Themen, die Peker anbietet, sind kaum überraschend, erfüllen die Publikumserwartungen und befriedigen deren Sensationsgier: Es geht um die Abrechnung mit alten Weggefährten; um das Auspacken von deren Schmutzwäsche; um Erpressungen im Staatsauftrag; um vertuschte und nie aufgeklärte Morde; um Korruption im Millionenbereich; um Menschenhandel; um die Zusammenarbeit von Staat und Mafia; um Heroin- und Kokaingeschäfte. 

Die Enthüllungen, die stellenweise durch Dokumente, Ton- und Videoaufnahmen belegt werden, dürfen allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, und Grund zur Annahme geben, da würde ein Pate nach langjährigen kriminellen Machenschaften das eigene schlechte Gewissen beruhigen wollen; oder der Unterwelt reuig den Rücken zukehren. Viel eher entsteht der Eindruck, dass der geschasste Pate, der vor den türkischen Ermittlungsbehörden Ende 2019 ins Ausland geflüchtet ist, im Buhlen um die Hand des Staates unter den konkurrierenden Gangs, die es seit Republiksgründung in der Türkei immer gegeben hat, endgültig verloren zu haben scheint. 

Pekers bisheriges Erfolgsrezept auf YouTube dürfte darum nicht allein in der Mixtur aus seinem Sendungsbewusstsein, dem Enthüllungsversprechen und der Neugier des Publikums für solche Themen liegen. Peker, der seit den frühen 1990er Jahren die türkische Unterwelt dominiert, ist fraglos eine schillernde Figur; seine zahlreichen Anhänger und Gefolgsmänner, die turanistisch, rechtsextrem-nationalistisch unterwegs sind, feiern ihn; morden und erpressen in seinem Namen; und seine langjährige Nähe zur politischen Prominenz bis in Regierungskreise stört die breite Öffentlichkeit nicht wirklich, sondern gehört sogar zum guten Ton in einer Gesellschaft, die mit Mafia-Filmen wie Tal der Wölfe aufgewachsen ist. 

Dass Peker gerade jetzt die Öffentlichkeit sucht, und mit seinen Enthüllungen insbesondere das Erdoğan-Regime in große Verlegenheit bringt, ist kein Zufall. Auslöser für die Enthüllungen dürfte ein interner Verteilungskampf um Pfründe im altbekannten Dreieck aus Politik-Staat-Mafia sein; die gängigen Floskeln der letzten Jahre zeugen von diesen klandestinen Strukturen: ob sie nun Ergenekon, Tiefer Staat, FETO oder schlicht kriminelle Organisationen des Staates heißen. 

Fraglich ist dennoch, ob Peker aus der Position der Stärke spricht, oder viel eher wie ein Gedrängter auf der Flucht. In den Videos spricht nicht bloß ein enttäuschter Pate, der auf Rache schwört, weil die eigenen mafiosen Strukturen in den Staat wegbrechen. Peker gibt sich stellenweise sogar – ganz offensichtlich unter Drogeneinfluss stehend – als den besseren Staatsmann aus und belehrt über die Ehre und Seele des türkischen Staates, die von den konkurrierenden Gangs beschmutzt worden sei. Immer wieder geraten der türkische Innenminister Süleyman Soylu und Mehmet Agar, ganz eng mit Soylu und ein anderer einflussreicher Pate in die Zielscheibe. Gegen Erdoğan, der sich zu den Enthüllungen nicht geäußert hat, hat Peker bislang kein Wort verloren. Das hat das Gerücht entstehen lassen, ob Peker ein Saubermann von Erdogans Gnaden ist, der von Soylu und Agar nicht sonderlich viel zu halten scheint. 

Bei aller Undurchdringlichkeit des Themas dürfte eines allerdings feststehen: Es rappelt im Erdogan-Staat. Und Peker dürfte die Schlammschlacht um Enthüllungen eröffnet haben.    

Thema Großtürkische Ideologie eint Aserbaidschan und die Türkei

Großmachtträume im Kaukasus

Die Türkei hat Aserbaidschan im Krieg um Bergkarabach unterstützt. Der aserbaidschanische Sieg stärkt die pan­turkistische Ideologie in beiden Ländern. Kommentar Von mehr...
Sonntag, 20.12.2020 / 22:27 Uhr

Türkei: Kapital aus Katar soll Rettung bringen

Von
Murat Yörük

Um die Währungskrise zu meistern, hat sich die türkische Führung nun erneut an den engen Verbündeten Katar gewandt.

 

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Bildquelle: TCCP

 

Katar gehört zu den wenigen Ländern, die die Türkei bislang nicht verärgert hat. Das ist insofern beachtlich, als Ankara mit so gut wie jedem Land im Nahen Osten im Dauerclinch liegt. Darum überraschte es kaum, als Ende November beide Länder eine Reihe von Vereinbarungen ankündigten, die unter anderem neue Akquisitionen vorsehen.

Hierfür trat am 26. November der katarische Emir Sheikh Tamim bin Hamad Al Thani höchstpersönlich eine Reise nach Ankara an. Dort wurde er vom türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan herzlichst empfangen, um dann gemeinsam die zehn Vereinbarungen vorzustellen, die unter anderem militärische wie wirtschaftliche Zusammenarbeit, Freihandelszonen und Investitionen vorsehen.

Die Achse Katar-Türkei

Beide Länder verbindet eine strategische Partnerschaft, die insbesondere durch die gemeinsame Unterstützung der Muslimbruderschaft zusammengehalten wird. Sie intensivierte sich insbesondere nach dem Sturz des Führers der ägyptischen Muslimbruderschaft Muhammad Mursi und nahm 2017 eine neue Qualität an, als eine von Saudi-Arabien geführte Gruppe arabischer Länder die diplomatischen Beziehungen zu Katar abbrach und den Waren- und Personenverkehr massiv einschränkte.

Die Türkei eilte zur Hilfe und bot eine Luftbrücke an, um die Versorgung zu gewährleisten. Als Dank bekam der türkische Präsident 2018 einen 400-Millionen-Dollar-Privatjet geschenkt, eine Erklärung darüber hat Ankara bis heute nicht abgegeben. Die Türkei betreibt seit 2016 eine Militärbasis mit etwa 5000 Soldaten in Katar. Im Gegenzug ist Katar einer der größten Abnehmer der türkischen Waffenindustrie. Nachgefragt sind insbesondere TB2-Drohnen, Panzerfahrzeuge und Altai-Panzer.

Die finanziell angeschlagene Türkei ist auf solche Hilfen aus Katar dringend angewiesen.

Mit dem neuen Abkommen dürfte sich die wirtschaftliche Zusammenarbeit in Zukunft weiter vertiefen, zumal sich die Türkei im Streit unter den arabischen Staaten auf die Seite von Katar gestellt hat, und nicht müde wird, insbesondere die Vereinigte Arabische Emirate zu verdächtigen, den Putschversuch vom 15. Juli 2016 unterstützt zu haben.

Petrodollars für Ankara

Ganz neu ist die finanzielle Unterstützung durch Katar allerdings nicht. In jüngerer Zeit zeigt sich eher, wie bemüht sich Katar sogar gibt, um der krisengeschüttelten Türkei unter die Arme zu greifen. Als spätestens im August 2018 die türkische Währung kräftig einbrach – im Vergleich zum Jahresbeginn ergab sich ein Wertverlust von etwa 40 Prozent –, sich der Streit mit den USA um den in der Türkei in Hausarrest festgehaltenen Pastor Andrew Brunson zuspitzte, und US-Präsident Donald Trump daraufhin Sanktionen ankündigte, sicherte das Golfkönigreich für das noch laufende Jahr Investitionen von 15 Milliarden US-Dollar zu.

Die finanziell angeschlagene Türkei ist auf solche Hilfen aus Katar dringend angewiesen. Allein die katarischen Direktinvestitionen sind in den vergangenen zwei Jahren deutlich gestiegen. Lag sie in den Jahren 2002 bis 2017 insgesamt bei etwa 1,8 Milliarden US-Dollar, so stiegen die Investitionen in Banken und ausgesuchte Wirtschaftsprojekte im Jahr 2019 auf 22 Milliarden US-Dollar.

Die türkische Opposition beklagt bereits den Ausverkauf des Landes, nachdem bekannt wurde, dass Katar in die türkische Börse einsteigt.

Das ist eine beachtliche Summe, zumal Ankara gegenwärtig jeden Dollar benötigt, seitdem die türkische Währung seit 2018 immer weiter an Wert verliert und immer mehr ausländisches Kapital das Land verlässt, womit die Türkei nun umso mehr darauf angewiesen ist, dass Fremdwährungen ins Land fließen. Da sind Petrodollar aus Katar tatsächlich wie ein Segen.

Steht ein Ausverkauf türkischer Unternehmen an?

Die türkische Opposition beklagt bereits den Ausverkauf des Landes, nachdem bekannt wurde, dass Katar in die türkische Börse einsteigt. „Warum verkaufen Sie die Börse? Katar kann die Aktien an der Börse kaufen, aber aus welchen Gründen verkaufen Sie die Börse?“, klagte Kemal Kılıçdaroğlu, der Vorsitzende der Republikanischen Volkspartei (CHP).

Die Sorge der Opposition ist berechtigt. Im kommenden Jahr droht vielen türkischen Unternehmen eine Pleitewelle. Darum gehört zu den jüngsten Vereinbarungen mit Katar auch der Einstieg in die Börse in Istanbul. Katar hat sich mit einem Anteil von zehn Prozent in die wichtigsten türkischen Unternehmen, die an der Börse vertreten sind, eingekauft.

Um Pleitewellen vorzubeugen oder angeschlagene Unternehmen zu retten, investiert Katar auch zunehmend in türkische Unternehmen, die auf ausländische Direktinvestitionen dringend angewiesen sind. Bislang hatte Doha es noch auf türkische Banken wie Finansbank oder Abank abgesehen. Nun geht das Interesse aber weit darüber hinaus, wie das Beispiel des Instinye Park zeigt.

Die Qatar Holding soll einen Vertrag von über einer Milliarde US-Dollar abgeschlossen haben, um 42% des türkischen Istinye Park, eines der bekanntesten Einkaufszentren des Landes, zu kaufen, berichtet die Daily Sabah. Der Istinye Park befindet sich in Istanbul in der Nähe der „Qatar Street“ und ist mit 300 Geschäften eines der größten und meistbesuchten Einkaufszentren in der Türkei.

Swaps für Ankara

Auch die Türkische Zentralbank darf sich freuen. Gerade weil in den vergangenen zwei Jahren gegen die Lira-Abwertung Dollarreserven von weit über 110 Milliarden in den Markt gepumpt wurden, sich aber zugleich zeigt, wie wirkungslos dieser Aktionismus ist, da sich der Lira-Verfall auf diesem Weg nicht wirklich stoppen lässt, gehen der Zentralbank allmählich die Reserven aus besseren Tagen aus.

Katar bietet nun sogenannte Währungsswap an, um den schwindenden Devisenreserven der Zentralbank Abhilfe zu schaffen. Der Swap-Handel ist für die Türkei enorm wichtig, um finanzielle Risiken zu verringern. Dabei werden gegenläufige Zahlungsströme – meist Forderungen und Verbindlichkeiten – unter den Marktteilnehmern getauscht. Da weder die US-Notenbank noch die Europäische Zentralbank einem solchen Swap-Handel zustimmten, freut sich Ankara jetzt über Katar und die Bindung an den katarischen Rial, der eine deutlich „härtere Währung“ als die türkische Lira ist.

Bereits im August 2018 kam es zu einem ersten Swap-Deal über 3 Milliarden US-Dollar mit Katar. Im November 2019 wurde er auf 5 Milliarden US-Dollar erhöht. Im Mai dieses Jahres verdreifachte Katar das Limit des Swap-Deals auf umgerechnet 15 Milliarden US-Dollar.

Obwohl der Swap-Handel kein langfristiges Mittel ist, hilft er der Türkischen Zentralbank doch, um kurzfristig über die Runden zu kommen. Wie lang dies noch gut geht, ist äußerst fraglich; zumal auch unterschiedlichste Zahlen zu den Dollarreserven der Zentralbank vorliegen, und solche Reserven im internationalen Handelsgeschäft deutlich risikofreier bewertet werden als riskante Swaps.

Letzte Woche hat der Präsident Erdoğan darum seine Landsleute dazu aufgerufen, ihre Fremdwährungsreserven zu verkaufen, um die türkische Lira und die Wirtschaft zu unterstützen. Ob seine Staatsbürger dem Aufruf folgen werden, wird sich zeigen. Allein im vergangenen Jahr haben türkische Staatsbürger laut Angaben der türkischen Zentralbank etwa 30 Milliarden US-Dollar zu ihren Deviseneinlagen hinzugefügt.

 

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