Fehlgeschlagener Pferdehandel

Indiens United-Front-Regierung stolperte nach 18 Monaten - über das Attentat an Radjiv Gandhi vor sechs Jahren

Was hierzulande als Kuhhandel charakterisiert wird, heißt in Indien - möglicherweise wegen der Heiligkeit der milchspendenden Paarhufer - Pferdehandel. Und grenzenloser Pferdehandel wurde nach dem Sturz der Minderheits-Regierung unter Premierminister Gujral zunächst befürchtet. Die Regierung war 18 Monate lang von einer 13 Parteien umfassenden Mitte-Links-Koalition, der säkularen United Front (UF), gestellt worden. Sie hatte die parlamentarische Unterstützung der ehemals allmächtigen Kongreßpartei, die aber bereits im April den damaligen UF-Premier Gowda zum Rücktritt gezwungen hatte. Die UF ist die Repräsentation der durch das Kastensystem überaus zersplitterten Unterklassen und Minderheiten Indiens, die sich mit der Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechts politisch - nicht sozial - emanzipierten.

Die Kongreßpartei hat schon bessere Zeiten gesehen. Sie war die Partei der Gandhi und Nehru gewesen, hatte seit der Unabhängigkeit Indiens von der britischen Kolonialmacht während 45 von 50 Jahren die Regierungen gestellt; ihr Modernisierungsmodell, das in den siebziger Jahren gegenüber wachsenden Revolten in der Industrie und auf dem Land höchst repressive Züge annahm, hat sich immer mehr den Imperativen von IWF und Weltbank untergeordnet. Doch mittlerweile ist die Kongreßpartei, welche die indische Privatindustrie und die Ober- und Mittelklassen repräsentiert, von Korruption zerfressen.

Der dritte Block mit 192 Parlamentsstimmen besteht in der rechtsextremen Hindupartei BJP, welche die sich bedroht fühlenden ländlichen sowie Teile der städtischen Mittelschichten vertritt. Sie baut auf eine mystische Hindu-Solidarität, die der realen Bedrohung durch die Krisenprozesse eine Projektion entgegensetzt: eine existenzielle Gefahr durch die "Andersgläubigen", die Muslime, Christen etc.

Nachdem Ende November das Kabinett zurückgetreten war, hatte zunächst der Pferdehandel begonnen, mit dem sich die verschiedenen Parteien einander Abgeordnete abspenstig zu machen suchten. Individuelle kurzfristige Parteiübertritte sind in Indien verboten; also wurde versucht, ganze Abgeordneten-Blöcke zu erobern, die, geht es nach dem Gesetz, mindestens ein Drittel einer Fraktion ausmachen müssen. Die Kongreßpartei versuchte sich wenig erfolgreich an der UF, die BJP wiederum am Kongreß, da die säkulare UF sich in strikter Gegnerschaft zur BJP befindet.

Ende Oktober hatte die BJP in Indiens größtem Teilstaat Uttar Pradesh mit Hilfe von Überläufern (22 kamen allein aus der Kongreßpartei) die parlamentarische Mehrheit errungen. In der entsprechenden Sitzung des dortigen Parlaments hatte sich eine unterhaltsame Schlägerei entwickelt, und in der Folge richtete der BJP-Regionalchef ein Kabinett mit 92 Ministern ein - ein kleiner Dank an die Überläufer. Kurz darauf wurde angeordnet, daß im Abgeordnetenhaus alle Gegenstände wie Stühle, Mikrofone usw., die zu handfesten Auseinandersetzungen taugen, festgeschraubt werden.

Diesmal entwickelten sich die Dinge anders: Der Pferdehandel führte zu keiner Mehrheit, die eine Regierung hätte stellen können. Am Donnerstag vergangener Woche löste Staatspräsident Narayanan das Parlament auf und ordnete Neuwahlen an, die vor dem 15. März 1998 stattfinden sollen. Die linken Parteien begrüßten die Parlamentsauflösung. Der Generalsekretär der KP Indiens (M) - M für marxistisch - sagte, BJP-Leader hätten "öffentlich zugegeben, mindestens 40 Parlamentsmitglieder gekauft zu haben"; für mehr habe es nicht gereicht. Ebenso wie die KP (M) beschuldigte die KP Indiens - ohne (M) - die Kongreßpartei, das Land in Unsicherheit und eine Krise zu stürzen. Ihr nationaler Sekretär äußerte, in der gegenwärtigen Situation könne die UF jedenfalls nicht weiter die Regierung stellen, und keine andere Partei sei in der Lage, eine Regierung bilden.

Auslöser für den Regierungssturz war ein Report der Jain-Kommission. Diese Ein-Mann-Kommission sollte untersuchen, ob die Organe des südindischen Teilstaats Tamil Nadu und des Zentralstaats alles getan hatten, um den Mord an dem ehemaligen Regierungschef Radjiv Gandhi zu verhindern. Dieser war am 21. Mai 1991 in Tamil Nadu bei einem Bombenanschlag, dessen Urheber die Tamil Tigers sein sollen, ums Leben gekommen. Auszüge aus dem 5 280 Seiten umfassenden Report wurden Anfang November der Zeitschrift India Today zugespielt und prompt veröffentlicht. Darin wird die südindische Partei DMK, Mitglied der Regierungskoalition, beschuldigt, den Attentätern Unterstützung geleistet zu haben.

Unter Radjiv Ghandi hatte sich der indische Staat als regionale Ordnungsmacht zu profilieren versucht und war 1987 mit einer sogenannten Friedenstruppe in Sri Lanka einmarschiert, um in den dortigen Bürgerkrieg zwischen Tamilen und Singhalesen zu intervenieren. In Tamil Nadu aber regierte die DMK, und von daher sollen, so der Report der Kommission, die Tamil Tigers Nachschub inklusive Waffen, Munition, Treibstoff usw. bezogen haben, um gegen die indische "Friedenstruppe" zu kämpfen. Zudem soll es Kontakte zwischen den Tigers und dem damaligen DMK-Regierungschef des Teilstaates, Karunanidhi, gegeben haben. Letztlich, so der Report, sei die Ermordung Radjiv Gandhis ohne die "stillschweigende Unterstützung durch staatlichen Behörden und Vollstreckungsorgane der Justiz" nicht möglich gewesen.

Ein Zwischenbericht des Reports wurde am 20. November im indischen Parlament vorgelegt, und es kam zu tumultartigen Szenen. Der Chef der Kongreßpartei, Kesri, hatte zunächst auf Zeit gespielt, da er bei einem Regierungssturz mit einer weiteren Erosion seiner Partei rechnen mußte. Nun aber forderte die Kongreßführung, daß die DMK umgehend aus der Regierungskoalition der United Front zu entfernen sei. Als sich die Regierung jedoch weigerte, herrschte Ratlosigkeit, und Kesri begann mit Sondierungen. Offensichtlich war den Kongreßabgeordneten klar geworden, daß im Falle von Neuwahlen ihre Partei zweifellos Federn lassen würde und ihr lukrativer Status gefährdet sein könnte. Aber die Suche nach einer regierungsfähigen Mehrheit blieb erfolglos, und somit blieb nur die Option der Neuwahlen, bei der sich die religiös-faschistische BJP gute Chancen ausrechnen kann.

Während auf der politischen Ebene ein eher symbolisches Hauen und Stechen zu beobachten war, kam es in dem östlichen Teilstaat Bihar zu einer Strafaktion der besitzenden Klassen. In dem Dorf Laxmanpur Bathe massakrierten etwa 250 Killer der von den oberen, landbesitzenden Hindukasten angeheuerten Privatarmee Ranvir Sena mindestens 60 Dorfbewohner, unter ihnen viele Frauen und Kinder. Diesen, Angehörigen der landlosen Unberührbaren, wurden Sympathien für die Naxaliten, eine radikale Abspaltung der KP, nachgesagt. Laut Times of India hatte die zuständige Polizei schon vor dem Massaker Informationen über geplante Attacken der Ranvir Sena. Ihr sei bekannt gewesen, daß Leader der Ranvir Sena auf einem geheimen Treffen am 25. November in Arwal beschlossen hatten, eine größere Offensive gegen Dörfer durchzuführen, die als Stützpunkte der Naxaliten im Distrikt Jehananbad gelten. Gegenmaßnahmen der Polizei seien aber ausgeblieben. Ein legaler Teil der Naxaliten, die KPI(ML)-Liberation, kritisierte nach dem Massaker die Provinzregierung, nicht gegen den sich ausbreitenden Terror der Privatarmeen vorzugehen. Weiterhin beschuldigte sie "die feudalen Kräfte unter Hegemonie der BJP", zu Morden zu greifen, um die Unterprivilegierten zu unterdrücken.