Alte Freaks in neuen Sakkos

Die Grünen feierten sich am Wahlabend vor allem selbst - und auch die Parteilinken wollten nicht unangenehm auffallen

Dabeisein ist alles. Zweitausend Menschen sind am Sonntag abend zur Wahlparty von Bündnis 90/Die Grünen ins Bonner Brückenforum gekommen, um mit der Öko-Partei das Ende der Kohl-Ära zu feiern. So dicht vor einer Regierungsbeteiligung im Bund stand die Partei noch nie, da will niemand fehlen. Ein Großaufgebot von Funk und Fernsehen ist angereist. Sogar das weitgehend zuschauerfreie Deutsche Welle-Fernsehen hat ein eigenes mobiles Wahlstudio aufgebaut und versucht mit rührender Ausdauer, grüne Prominenz vor die Kamera zu locken.

Von früherer Unkonventionalität ist den Grünen nichts mehr übriggeblieben. Die Freaks alter Tage sind längst von der Sakko- und Kostumträgerfraktion abgelöst worden, und nur wer über eine Eintrittskarte verfügt, darf in die Halle. Der Rest muß draußen bleiben. So warten viele wie bei einem Rockkonzert mit Schildern vor der Tür: "Noch eine Eintrittskarte übrig?" Aber im Gegensatz zur SPD-Wahlparty ist auch für sie gesorgt: Ein Bierstand ist draußen aufgebaut worden. Für vier Mark können 0,3 Liter Bier ersteigert werden. "Wie? Hier muß man zahlen? Bei den anderen gibt's das Bier für lau", beschwert sich ein Pärchen, das die Alternativen offensichtlich schon getestet hat.

In der Halle wird ohnehin der angebotene Riesling-Sekt präferiert. Doch rechte Partystimmung will auch dort einfach nicht entstehen. Die ersten Prognosen und Hochrechnungen lösen noch verhaltenen Jubel aus: Kohl ist weg und wir sind wieder im Bundestag! Aber wohl auch die PDS. Gerade sie ist hier nicht wohlgelitten. Als das ZDF eine erste Prognose vorlegt, nach der die PDS möglicherweise nur zwei Berliner Direktmandate halten kann, applaudiert der Saal schadenfroh. Doch von Hochrechnung zu Hochrechnung wird absehbarer: Egal, ob sie die Direktmandate holt, die PDS ist auf jeden Fall drin. Sie schafft die 5-Prozent-Hürde. Die PDS gefährdet Rot-Grün, da sind sich Realos und Linke einig. Wird's trotzdem für Rot-Grün reichen?

Immerhin ist es für die Bündnisgrünen diesmal keine Zitterpartie. Noch bei der Bayern-Wahl haben sie lange bangen müssen, bis ihr Wiedereinzug in den Landtag sicher war. Aber wirkliche Wahlgewinner sind die Bündnisgrünen an diesem Abend nicht, das wissen sie. Ihr Ergebnis ist wenig berauschend, sie haben Stimmen verloren, sind unter sieben Prozent gerutscht. Zwar verkünden die Parteioberen auf allen Kanälen, daß zwei ihrer drei Wahlziele erreicht seien: Kohl sei abgewählt und Rot-Grün rechnerisch möglich.

Auch das dritte, daß Rot-Grün wirklich kommt, ist in greifbarer Nähe. Und doch will nur zurückhaltende Freude aufkommen. Wieviel Sitze mehr braucht Rot-Grün, damit die SPD sich auf das Experiment einläßt? Was will die SPD überhaupt? Schröder hält alle Koalitionsfäden in der Hand. Genau verfolgen die Partygäste die Statements von Schröder und Lafontaine an den Bildschirmen. Eine Koalitionsaussage für ihre Partei hören sie von der SPD-Spitze nicht. Die Angst vor einer großen Koalition ist überall präsent. So kurz vor dem Ziel noch abgefangen, das wäre bitter. "Ich hoffe, daß die lähmende Atmosphäre, die über der gesamten Republik gelegen hat, jetzt endlich zerrissen wird", erklärt der linke Grüne Ludger Volmer. Aber sicher ist er nicht. Denn er weiß, daß der Wahlsieg für Rot-Grün dadurch erkauft worden ist, "daß die SPD selber noch tiefer in die Region rechts von der Mitte eingedrungen ist".

So ähnlich sieht das auch Wolfgang Kühr, einer der vielen anwesenden Initiativenvertreter. Bei dem Vorstandsmitglied des Bundesverbandes Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU) kann die Vorstellung, es könnte nun einen grünen Umweltminister Trittin geben, keinerlei Euphorie hervorrufen. "Das wird nicht lustig für uns", grummelt Kühr. Natürlich sei Rot-Grün besser als die bisherige Regierung, aber unter einem Kanzler Schröder wird ökologisch nicht viel zu machen sein. Und im Ökologiebereich kann man die PDS als Opposition vergessen. Das Thema interessiert sie nicht. Da sei die Aufgabe der Grünen in der Koalition voraussehbar: "Die Grünen kennen uns zu gut, die wissen genau, wie sie die Umwelt- und Naturschutzverbände gegeneinander ausspielen können." Gegen Merkel hätte man immerhin geschlossen vorgehen können.

Manchen grünen Mandatsträger bewegt unterdessen vor allem die eigene Zukunft: Reicht das Ergebnis für den persönlichen Wiedereinzug in den Bundestag? Die Augen von Gerald Häffner sind sichtlich gerötet. Der bayrische Bundestagsabgeordnete hat verloren. Die Bündnisgrünen hätten ihr Ergebnis halten müssen, damit es für ihn wieder gereicht hätte. Auch Barbara Steffens sieht nicht besonders glücklich aus. Für die nordrhein-westfälische Landessprecherin ist schon mit der ersten Prognose der Traum vom Bundestagsmandat ausgeträumt. Sie war wie Häffner bei der Aufstellung der Landeslisten schlecht plaziert worden. Für ihren Einzug hätten die Bündnisgrünen sogar noch hinzugewinnen müssen. Haben sie aber nicht. So ist die Mülheimerin nicht in besonderer Partylaune.

Plötzlich kommt allerdings kurzzeitig sogar bei ihr noch mal richtig Stimmung auf: Der Star trifft ein. Wunderkerzen werden entzündet. Joseph Fischer betritt die Bühne, hält eine kurze Rede. "Die Ära Kohl ist heute definitiv zu Ende gegangen", ruft er in den Saal. Tosender Applaus ergießt sich über den Außenminister in spe. Auch sein Aufruf, jetzt Geschlossenheit zu zeigen, findet frenetischen Beifall. Ein Realo blickt auf den Sprecher des linken Babelsberger Kreises, Frieder Otto Wolf. "An mir wird's nicht liegen", ruft Wolf ihm kleinlaut zu. Dann winkt Fischer den Rest der grünen Viererbande auf die Bühne. Arm in Arm präsentiert er sich mit Jürgen Trittin und Kerstin Müller. Gunda Röstel fehlt, sie ist nicht auffindbar, gibt wahrscheinlich gerade irgendwo ein Interview. Macht nichts. Mit einem Klatschmarsch bedankt sich das Parteivolk bei seinen Heroen.

Ausgerechnet der linke Parteisprecher Trittin übt sich dann in der Bonner Runde in etablierten Politikerritualen; dankt den Wählern, spricht von den Verdiensten Helmut Kohls und vermeidet ansonsten jegliche Aussage, die Anstoß erregen könnte. Da nützt auch, zum Amüsement der Wahlparty-Besucher, die seinen Auftritt an den Monitoren verfolgen, das intensivste Nachfragen der Moderatoren nichts. "Der ist doch nicht lebensmüde, ein falsches Wort und die Realos massakrieren ihn", erklärt ein linker grüner Abgeordneter Trittins Auftreten. Dabei wird die Parteilinke in der neuen Fraktion stärker repräsentiert sein: Mit Claudia Roth, Christian Ströbele und Jürgen Trittin sind ihre drei profiliertesten Vertreter neu mit dabei. Ob es ihr gegen Fischer etwas nützen wird?

Nach der Bonner Runde beginnt sich das Brücken-Forum zu leeren. Am späteren Abend verlassen auch Fischer, Trittin und Röstel die grüne Wahlparty. Sie fahren noch bei der niedersächsischen Landesvertretung vorbei, um sich mit der SPD-Troika Schröder, Lafontaine und Scharping zu einem ersten Sondierungsgespräch zu treffen. Nach dem Treffen hüllen sich beide Seiten in Schweigen. Nur eins ist klar: Wenn es Koalitionsverhandlungen zwischen SPD und Bündnis 90/Die Grünen gibt, werden sie hart für die kleine Partei.

"Das strukturelle Dilemma von Rot-Grün ist, daß es reine linke Mehrheiten in der Bundesrepublik nicht gibt, sondern zur Mehrheitsbildung immer Teile der rechten Mitte mit eingebunden werden müssen, die auch ihren Preis verlangen", analysiert Ludger Volmer. Der ehemalige Partei- und Fraktionssprecher weiß, daß Schröder den Bündnisgrünen diesen Preis abverlangen wird. Das wird für viel Frust sorgen. Schließlich hat die Partei in den rot-grün regierten Ländern kräftig zurückgesteckt, "weil wir gesagt haben, wir dürfen nichts aufs Spiel setzen, um die strategische Option im Bund nicht zu gefährden", stellt Volmer fest. "Viele Hoffnungen, die sich auf Landesebene nicht eingelöst haben, sind nun auf den Bund konzentriert und müssen zumindest hier teilweise eingelöst werden." Doch daran glaubt er eigentlich selbst nicht.