Der Westen an der Grenze

Ab Mai 2004 wird die polnische Ostgrenze zur europäischen Außengrenze. Die Ukraine steht zwischen Russland und der EU. von franziska bruder

D ie neue Außengrenze der EU wird ab Mai 2004 in etwa der Grenzziehung des Molotow-Ribbentrop-Paktes von 1939 entsprechen«, sagte Taras Wozniak Anfang Dezember bei einer Veranstaltung der Heinrich-Böll-Stiftung zum Thema EU-Ost-Erweiterung. Er ist Herausgeber der in L’viv (Lemberg) erscheinenden politisch-kulturellen Zeitschrift Ji. »Ist das eine Provokation, um die Diskussion zu beleben?«, fragte die Moderatorin verunsichert.

Durchaus nicht. Die neue Grenzziehung wird Herrschaftsbereiche markieren und abtrennen, die in historischer Kontinuität stehen. Diese Kontinuität wird hierzulande gern und bewusst verdrängt, in der Ukraine hingegen ist sie im Alltagsbewusstsein sehr lebendig.

Werden in Deutschland die Polen als die »armen Nachbarn« im Osten angesehen, ist die Perspektive der Ukrainer eine völlig andere: Das Wohlstandsgefälle zwischen Polen und der Ukraine ist enorm, Polen gilt als »Musterknabe«, der sich machtstrategisch geschickt einen Platz in Westeuropa erobern konnte.

Ab Januar nimmt eine neue EU-Agentur ihre Tätigkeit auf, die sich mit der Kontrolle der Außengrenze und hier vor allem mit der Abwehr so genannter illegaler Immigration befasst. Polen wird ab Mai die längste Landesaußengrenze der EU besitzen und daher besonders intensiv von der Agentur »betreut« werden – mit technischer Hilfe oder Fortbildungen in den Schulungszentren der polnischen Grenzwache in Koszalin und Kwidzyn. Operative Untereinheiten der Agentur sollen in Berlin (zuständig für Binnengrenzen), Rom (Luftgrenzen) und Griechenland und Spanien (Wassergrenzen) ihren Sitz nehmen.

Seit vergangenem Oktober gilt für die Ukrainer Visumspflicht bei der Einreise nach Polen, das im Mai diesen Jahres der EU beitreten wird, und seit November auch bei der Einreise nach Ungarn. An beiden Ländern wird die so genannte polnische Lösung praktiziert. Das bedeutet Visumspflicht nur für Ukrainer, während umgekehrt Visumsfreiheit gilt (Jungle World, 41/03).

Seit September können in den fünf polnischen Konsulaten in der Ukraine Visa beantragt werden. Seitdem stehen sich die Menschen in L’viv wegen der Nähe zu Polen – es sind nur 100 Kilometer bis zur Grenze – vor dem polnischen Konsulat die Beine in den Bauch, um das begehrte Visum zu erhaschen. Mehr als 100 000 Visa wurden bislang ausgestellt, pro Tag 700 bis 800. Dennoch stehen Hunderte in der Schlange, tagelang. Bei jedem Wetter, bei Regen und mittlerweile auch bei Schnee.

Die Visumseinführung hat den Kleinhandel in der ukrainisch-polnischen Grenzregion fast völlig zum Erliegen gebracht. Von den Zigaretten, Alkoholika, Nüssen und weiteren Produkten, die ukrainische Frauen täglich über die Grenze in das Gebiet von Przemysl hinüberschleppten und auf Märkten verkauften, profitierten nicht nur deren Familien, sondern auch die polnischen Einwohner der Grenzregion. Dort wird gerne auf billige ukrainische (Saison-)Arbeitskräfte und Waren zurückgegriffen.

Die Stimmung von Taras Wozniak auf der Veranstaltung in Berlin ist somit genauso schlecht wie die der Menschen in der Schlange vor dem polnischen Konsulat. Vorherrschend ist das Gefühl, abgehängt zu werden. Die wirtschaftliche Lage des Landes ist miserabel. In der Region von L’viv ist die Arbeitslosenquote im vergangenen Jahr von 47 auf 52 Prozent gestiegen. Viele Familien sind neben dem Kleinhandel dringend auf das Geld einzelner Familienangehöriger angewiesen, die sich im (west-) europäischen Ausland als Arbeitskräfte verdingen. Besonders beliebt ist beispielsweise Portugal, wo Ukrainer vor allem auf dem Bau arbeiten.

Während sie sich gegen Migranten abschotten, bemühen sich Polen, die EU und die Nato gleichzeitig, die Ukraine politisch, ökonomisch und militärisch in ihrem Interesse einzubinden. Westliche Firmen lassen sich in steuerbegünstigten Wirtschaftszonen in der Westukraine nieder, wo polnisch-ukrainische Einheiten gemeinsam für ihren Einsatz im Irak trainieren.

Ein strategisches Projekt ist auch die Ölpipeline, die von Odessa über Brody nach Plock verlaufen soll. Sie soll Öl aus dem Kaspischen Meer nach Polen und damit in die EU liefern. Hier prallen unmittelbar die Interessen der EU, der USA – auch amerikanische Konzerne sind in das Geschäft involviert – und Russlands aufeinander, das die Pipeline zum Transport von sibirischem Öl nutzen möchte.

Die Westorientierung wird von vielen ukrainischen Intellektuellen als Möglichkeit gesehen, den autoritären Tendenzen und mörderischen Mafiastrukturen im Lande stärker entgegenzutreten. Gewöhnlich ist nur der Name des Journalisten Georgij Gongadse bekannt, der vor einigen Jahren enthauptet aufgefunden wurde. Seit der staatlichen Unabhängigkeit sind in der Ukraine 40 Journalisten unter »mysteriösen Umständen« ums Leben gekommen.

Vor den im Herbst 2004 stattfindenden Präsidentenwahlen versucht unterdessen Staatspräsident Leonid Kutschma eine Verfassungsänderung durchzusetzen. Der nächste Präsident soll vom Parlament und nicht direkt von den Ukrainern gewählt werden – eine Maßnahme, die Kutschmas Einfluss auf die Neubesetzung des Amtes sichern soll. Zunächst wird sich allerdings Kutschma selbst für eine dritte Amtszeit zur Wahl stellen.

Von Seiten der EU und auch der USA wird scharfe Kritik daran geäußert, da die Reform als »undemokratisch« gewertet wird. Die ukrainische Opposition, insbesondere das Wahlbündnis »Nascha Ukrajina« (Unsere Ukraine) erklärt die Wahl 2004 zur Entscheidung zwischen Europa oder Eurasien, zur endgültigen Schlacht zwischen »dem Guten und dem Bösen« in der Ukraine.

So wird Kutschma seinen Versuch fortsetzen, sich gleichzeitig am Westen und am Osten zu orientieren. Voraussichtlich im nächsten Jahr wollen die Präsidenten Russlands, Weißrusslands, Kasachstans und der Ukraine konkrete Maßnahmen einleiten, um den so genannten Einheitlichen Ökonomischen Raum, eine gemeinsame Wirtschaftszone, zu schaffen.

Wird von den EU-Vertretern auf die Doppeldeutigkeit der ukrainischen Signale verwiesen, lautet die offizielle Antwort in der Regel lapidar, man orientiere sich prinzipiell in Richtung EU- und auch Nato-Beitritt, der Einheitliche Ökonomische Raum und die Zusammenarbeit vor allem mit Russland sei aber für die Ukraine eine strategische Frage, da die östlichen Märkte für sie schneller und leichter zugänglich seien. In der Bevölkerung sind die Meinungen, in welche Richtung sich das Land orientieren soll, geteilt. Bei Umfragen sprechen sich in der Ukraine ein Viertel der Befragten für einen EU-Beitritt und etwa 15 Prozent für die osteuropäische Wirtschaftszone aus.

Ende Januar findet in Brüssel das nächste Treffen zwischen EU-Vertretern und ukrainischen Politikern statt, auf dem die weitere Zusammenarbeit besprochen wird. Bis dahin und darüber hinaus werden die Menschen in L’viv weiter tagelang auf ihr Visum warten müssen.