Die Reform ist da

Ärger über Praxisgebühr von philipp steglich

Das nennt man perfektes Timing. Von der nasskalten, winterlichen Witterung in Scharen in die Arztpraxen getrieben, müssen die gesetzlich Versicherten erstmals die neue Praxisgebühr zahlen und höhere Zuzahlungen leisten. Doch nicht nur die neuen Kosten sorgen für Unmut, vielen ist auch unklar, wie das gesamte Prozedere abläuft. Die großen Boulevard-Zeitungen wie Bild und die B.Z., die zuvor nicht genug kriegen konnten an Reformen, bieten ihren Lesern inzwischen Telefonberatungen an, um ihnen ein wenig Orientierung im Reformchaos zu geben.

Fragen gibt es genug: Warum werden nicht rezeptpflichtige Medikamente gar nicht mehr erstattet? Zählen Diabetiker als chronisch Kranke und müssen deshalb weniger zuzahlen? Zahlt man auch bei der Notaufnahme im Krankenhaus die Praxisgebühr? Der Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) und ihrem kongenialen Partner Horst Seehofer (CSU) gelang es, das System der gesetzlichen Krankenversicherung deutlich komplizierter zu gestalten. Jetzt wird es an Rätselhaftigkeit und sozialer Ungerechtigkeit nur noch vom Steuersystem übertroffen.

Die bis zuletzt angewandte Regelung der Zuzahlungen bei Medikamenten, die 1983 vom damaligen Arbeits- und Sozialminister Norbert Blüm (CDU) wieder eingeführt wurde, leitete den Ausstieg aus der paritätischen Finanzierung der Krankenversicherung ein. Aber es war noch verhältnismäßig einfach, sich wegen eines geringen Einkommens für eine gewisse Zeit von Zuzahlungen befreien zu lassen. Zu einfach für Schmidt und Seehofer, weshalb sie nun von jedem den Obolus fordern, auf dass durch diese volkserzieherischen Maßnahme die viel gescholtene Selbstbedienungs- und Vollkaskomentalität der Bevölkerung sich ändere.

Nun, drei Wochen nach dem Inkrafttreten der Reform fällt auf, dass etwa pflegebedürftige Heimbewohner, denen monatlich nur 50 Euro Taschengeld von ihrer Sozialhilfe übrig bleiben, diese im Januar für Zuzahlungen zu Medikamenten und für die Praxisgebühr vollständig an die Krankenkasse entrichten müssen. Für den armen Teil der Bevölkerung hat sich die gesundheitliche Versorgung deutlich verteuert. Selbst wenn jetzt Härtefallregelungen eingeführt werden sollten, brächten sie nur wenig Erleichterung. Und wohl auch nur dem, der in der neuen Beleg- und Zettelwirtschaft die Übersicht behalten kann.

Die unsoziale Ausrichtung der Reform ist so offensichtlich, dass sich sogar ein Teil des Establishments überrascht zeigt. Plötzlich geriert sich die FDP, der sonst jeder soziale Gedanke fremd ist, als Anwalt des kleinen Mannes. In einer von der FDP-Fraktion beantragten Aktuellen Stunde im Bundestag forderte die Partei am vergangenen Donnerstag die »umgehende Abschaffung« der Praxisgebühr. Die Generalsekretärin Cornelia Pieper hält es für »unumgänglich, die Menschen, die von Sozialhilfe leben, von der Zuzahlung zu befreien«. Man reibt sich die Augen und fragt verdutzt, was geschehen sein mag. Sind das die neuen Themen, die die Liberalen zur Volkspartei machen sollen? Oder ist nur den Ärzten in der Wählerschaft der FDP das direkte Abkassieren ihrer Patienten zu bürokratisch und schlicht zu unfein?

Der jetzigen Gesundheitsreform wird eine weitere folgen. Möglicherweise wird dann die Einführung der so genannten Kopfpauschale durch die Union und die FDP als großer Befreiungsschlag verkauft und damit der endgültige Abschied von der solidarischen Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung vollzogen. Alleiniger Urheber ist dann selbstverständlich wieder der Sachzwang. Die Allparteienkoalition arbeitet dran.