Das Karussell der Mullahs

Vor den Wahlen ist der innenpolitische Streit im Iran eskaliert. Doch die »Reformer« sind ebenso diskreditiert wie ihre Gegner im islamistischen Regime. von wahied wahdathagh

Der Rücktritt eines Politikers bedeutet nicht immer, dass der Mann danach sein Amt aufgibt. »Eine gewisse Anzahl von Ministern und Vizepräsidenten ist zurückgetreten«, erklärte Vizepräsident Mohammed Ali Abtahi am Mittwoch der vergangenen Woche. Die eingereichten Erklärungen werden jedoch erst nach der endgültigen Entscheidung des Wächterrats über die Zulassung der Kandidaten für die Parlamentswahlen rechtskräftig, und auch das nur, wenn Präsident Mohammed Khatami zustimmt. Khatami aber möchte seine Minister nicht gehen lassen. Er selbst denkt nicht an einen Rücktritt und will seine Arbeit »auch in diesem Moment fortsetzen«.

Die Entscheidung des Wächterrats, 3 600 von 8 000 Kandidaten nicht zu den Parlamentswahlen am 20. Februar zuzulassen, führte zu einer schweren innenpolitischen Krise. Vor allem den um Khatami gruppierten so genannten »Reformislamisten« wurde die Kandidatur verwehrt, mehr als 60 vom Ausschluss betroffene Abgeordnete halten seitdem ein Sit-In in der Majlis, dem »Parlament« der Islamischen Republik, ab. Der Streit wird hitzig geführt. Rund 200 Anhänger der Hizbollah, die dem religiösen Führer Ali Khamenei nahe steht, griffen am letzten Donnerstag eine Versammlung von »Reformislamisten« an.

Es handelt sich jedoch um eine Auseinandersetzung innerhalb der islamistischen Oligarchie, die Bevölkerung hat sich nicht mit den Protesten der Abgeordneten solidarisiert. Immer weniger Menschen glauben an die Möglichkeit von Reformen im Rahmen der Diktatur. Khatami ist seit mehr als sechs Jahren Präsident, die versprochenen politischen Veränderungen aber lassen auf sich warten. Unverdrossen spricht Khatami auch jetzt von der Möglichkeit, »freie Wahlen« abzuhalten.

Die »Reformislamisten« kritisieren nur die sie betreffenden Entscheidungen des Wächterrats. Khamenei hat nun Kompromissbereitschaft signalisiert, und der Wächterrat nahm bisher 350 Disqualifizierungen zurück. Bis zur Veröffentlichung der endgültigen Wahlliste am 10. Februar können noch einige weitere Kandidaten mit einer nachträglichen Anerkennung rechnen. Doch die Prinzipien der Auswahl und die Legitimität des Wächterrats werden dadurch nicht in Frage gestellt.

Fromm ist nicht fromm genug

»Die Anhänger der westlichen Demokratie müssen wissen, dass der Iran eine Islamische Republik ist«, belehrte der Wächterrat seine Kritiker in einer Erklärung. Die offizielle Doktrin besagt, dass mangelnder Glaube an islamistische Prinzipien, an die Fundamente des religiösen Staates und an die Verfassung sowie finanzielle und »moralische Korruption« zum Ausschluss von einer Wahlkandidatur führen.

Viele Iraner vermuten, dass die Disqualifizierungen durch den Wächterrat Teil einer Strategie sind, mit der die Wahlbeteiligung gesteigert, möglicherweise sogar den diskreditierten »Reformern« ein scheinbarer Oppositionsstatus gegeben werden soll. Derzeit stellen sie die Mehrheit der 292 Abgeordneten im Majlis. Nach den Wahlen werden wahrscheinlich 200 Sitze den Hardlinern gehören, auch wenn der Wächterrat nachgeben sollte. Denn die Bevölkerung hat kaum noch Interesse an der Wahl von Khatami-Anhängern. Auch die kämpferische Pose der streikenden Abgeordneten, die ein politisches Fasten gegen ihre Disqualifizierung begonnen haben, beeindruckt sie nicht. In iranischen Zeitungen heißt es im Übrigen, dass es auf den Toiletten des Majlisgebäudes den ganzen Tag nach Essen riecht. Inzwischen fordern 54 Abgeordneten die Bevölkerung auf, die Wahlen zu boykottieren. Ihnen wird jedoch vorgeworfen, dass sie nur für ihre Interessen und ihre eigene berufliche Laufbahn kämpften, nicht aber für freie Wahlen, an denen auch Nichtislamisten teilnehmen könnten.

Der islamistische Streit über die verschiedenen Strategien der Erhaltung der Machtstrukturen hat kaum etwas mit dem Konzept der freien Meinungsäußerung oder mit der Trennung von Staat und Religion zu tun. Debattiert wird auf der Grundlage der Staatsdoktrin Khomeinis, die die Macht des religiösen Führers als Stellvertreter Gottes auf Erden in den Mittelpunkt stellt. Nicht gewählten Institutionen wie dem Wächterrat werden in der iranischen Verfassung große Befugnisse zugestanden, doch es gibt auch »demokratische« Institutionen wie das islamistische »Parlament«.

Viele Wissenschaftler und die Sympathisanten der »Reformislamisten« im In- und Ausland sprechen deshalb von einem »dualen politischen System«, einem Nebeneinander von autokratischen und demokratischen Institutionen. Die Khatami-Anhänger, so die Schlussfolgerung, sind »von unten«, also demokratisch legitimiert und müssen in ihrem Kampf gegen die Hardliner, die autokratische Institutionen wie den Wächterrat kontrollieren, unterstützt werden.

Im Auftrag Gottes

Dabei wird übersehen, dass sich hinter dem vermeintlichen Dualismus ein einheitliches islamistisches System verbirgt. Säkularisten aller politischen Richtungen sind von vornherein vom politischen Leben ausgeschlossen. Die nachrevolutionäre iranische Verfassung wurde in der ersten Fassung zwar von Säkularisten formuliert, vom Revolutionsrat unter Aufsicht von Khomeini jedoch »islamisiert«. Die Khomeinisten verhinderten die geplante Gründung einer verfassungsgebenden Versammlung, die unter Achtung der religiösen Gefühle der Iraner eine säkular-demokratische Verfassung hätte gewährleisten können. Die demokratischen Elemente in der Verfassung ersetzten sie durch die Macht von Geistlichen, die nach Khomeinis Doktrin berufen sind, den Staat zu führen.

Die zwölf Mitglieder des Wächterrats, der auch die Gesetze auf ihre Übereinstimmung mit der Staatsdoktrin überprüft, werden je zur Hälfte vom religiösen Führer und einem Obersten Rat der richterlichen Gewalt, der Vertretung der Judikative, ernannt. Der religiöse Führer ernennt auch die Mitglieder des Obersten Rates der richterlichen Gewalt. Er selbst wird für eine unbestimmte Zeit vom Expertenrat gewählt, einem Gremium, das 83 bärtige alte Männer beschäftigt. Der Expertenrat wiederum wird vom Wächterrat gewählt. Der Teufelskreis der sich selbst erhaltenden klerikalen Herrschaft ist damit geschlossen. Es handelt sich nur insofern um ein duales System, als immer wieder die gleichen Flaschen recycelt werden.

Eine strikte Zensur und ein hoch gerüsteter Repressionsapparat ergänzen das System, von dem der religiöse Führer Khamenei noch im Dezember sagte: »Der Herrscher wird von Gott gewählt. Und Gott übergibt die Macht nur den Gerechten.«

In der »Islamischen Republik Iran« wird die Volkssouveränität durch die Berufung auf einen angeblichen göttlichen Auftrag ersetzt. Diese in der schiitischen Theologie neue Doktrin wurde und wird von vielen Geistlichen abgelehnt, so dass der Khomeinismus nicht einmal eine klare religiöse Legitimation beanspruchen kann. Hojatoleslam Hossein Jussefi Eshkewari, der eine Trennung von Staat und Religion fordert, sitzt wegen säkularer Tendenzen in Haft. Die staatliche Kaste des regimetreuen Klerus unterdrückt im Namen einer pseudoreligiösen Ideologie seit 25 Jahren nicht nur die große Mehrheit der iranischen Muslime, sondern sogar einen Teil der Geistlichkeit. Härter aber trifft die Repression die Frauen und die Jugend, religiöse Minderheiten wie die Angehörigen der Baha’i werden systematisch verfolgt.

1997, als Khatami sich zum ersten Mal zur Wahl stellte, hegten viele Iraner die Hoffnung, seine Präsidentschaft werde politische Reformen bringen und die Macht des Klerus zurückdrängen. Doch schon bei den Wahlen im Juni 2001 wurde Khatami nicht mehr als Hoffnungsträger gewählt. Zuletzt wurde bei den Kommunalwahlen im Februar 2003 deutlich, dass das Vertrauen der Bevölkerung in die Reformkhomeinisten stark gesunken ist. Nur vierzehn Prozent der Wähler gingen in Teheran wählen. Die »dritte Generation« der nach der Revolution von 1979 Geborenen, die etwa 70 Prozent der Bevölkerung ausmacht, will frei leben, ohne ideologische Gängelung durch den staatlichen Klerus.

Immer wieder demonstrieren insbesondere Frauen und Jugendliche gegen die Macht der Mullahs. Im Januar 2003 warfen Frauen in einer einheitlichen symbolischen Aktion angezündete Kopftücher und Schleier auf die Straßen der iranischen Hauptstadt, um gegen die geschlechtsspezifische kulturelle Apartheidspolitik zu protestieren. Die Studentenbewegung fordert Säkularismus und das Ende der Herrschaft »der Taliban« – so nennen sie die Mullahkaste. Diese Protestbewegungen haben sich längst von den »Reformern« distanziert, die die Macht des religiösen Führers nicht in Frage stellen, sondern lediglich betonen, dass dieser als Mensch sich auch einmal irren könne.

Khomeinistische Softies wie Präsident Khatami und Mehdi Karrubi verweisen immer wieder darauf, dass die gegenwärtigen Proteste gesetzliche Bahnen nicht verlassen dürfen. Das aber bedeutet, die Entscheidungen Khameneis und des Wächterrats zu akzeptieren, wenn sie dem Appell, ihre Positionen zu revidieren, nicht folgen mögen.

Carl Schmitt für Mullahs

Zu den Strategen der gescheiterten Reformpolitik gehört der Jurist Nasser Katouzian, ein khomeinistischer Verfassungsrechtler, der in seinem Konzept der islamischen Demokratie eine stärkere Bindung zwischen Führer und Volk herstellen will. In der Zeitung Sharq forderte der Khatami nahe stehende Stratege, die »göttliche Macht« des religiösen Führers müsse von der Bevölkerung bewusst akzeptiert werden. Der Theoretiker der »Reformislamisten« will der göttlichen Herrschaft einen irdischen Charakter geben, so dass der Wille Gottes sowie des Führers und der Masse gleichgeschaltet wird.

In der »Islamischen Republik« orientiert sich Katouzian zufolge ein Teil der Gesetze am göttlichen Recht, das auch von einer Mehrheit nicht abgeschafft werden könne. Die Bevölkerung kann und sollte dem Carl Schmitt der Ayatollahs zufolge vermittelt über den religiösen Führer, die Institutionen der Geistlichkeit und den Majlis am göttlichen Auftrag teilhaben.

Der Volkswille werde zwar vom Willen Gottes beschränkt, dennoch könne die Bevölkerung neben der Geistlichkeit die zweite Säule der »Islamischen Republik« bilden. Katouzian schlägt ein aus dem Wächterrat und dem Majlis bestehendes Zweikammernsystem vor, das ein neues Gleichgewicht der Macht herstellen soll. Der islamistische Theoretiker sorgt sich vor allem um die Legitimation des politischen Systems, er warnt vor dem Wahlboykott.

Das Selbstverständnis der »Reformislamisten« macht deutlich, dass ihre Zielsetzung lediglich die Wiedergewinnung verlorener Legitimität und die Mobilisierung der Massen ist. Sie benutzen Begriffe wie Demokratie, Menschenrechte, Emanzipation und sogar Terrorismus, »islamisieren« sie aber und definieren sie neu. Den Mitgliedern des Wächterrates und anderen Hardlinern gelten sie als naive Politiker, die in die Falle der »Zionisten« und der »Imperialisten« tappen. Für Ayatollah Ahmad Jannati, den Vorsitzenden des Wächterrates, ist es klar: »Die Kandidaten müssen der Verfassung treu sein und dem fortschrittlichen Prinzip der absoluten Herrschaft des Klerus gehorchen.«

Auch aus ihrer Sicht ist Khatami gescheitert, denn er hat es nicht geschafft, die Unzufriedenen wieder an das Regime heranzuführen. Der ehemalige Geheimdienstler und Reformpolitiker Hajarian sagte: »Die Reformen sind tot, es leben die Reformen.« Doch von »islamischen Reformen« und »islamischer Demokratie« sprechen auch die Anhänger Khameneis. Unter ihnen hat sich eine neokonservative Führung etabliert, die eine illusionslose, pragmatische Strategie befürwortet. Sie wird wahrscheinlich nach den Wahlen die Politik bestimmen.

Der ideelle Gesamtislamist

Der wichtigste Vertreter der khomeinistischen Neokonservativen ist Hassan Rohani, Sekretär des Nationalen Sicherheitsrates und aussichtsreicher Kandidat für das Präsidentenamt, der die Eigenschaften diverser islamistischer Politiker vereinigt. Er kann ausdauernd lächeln wie Khatami, und wie dieser kennt er keine Scheu vor dem Dialog mit dem westlichen Feind. Auf die Beschwörung einer islamischen Zivilgesellschaft und Demokratie aber verzichtet er, denn er weiß, dass die Bevölkerung keine Hoffnung mehr auf »reformislamistische« Wunderwerke hat.

Auf den wirtschaftlichen Fortschritt dagegen ist das Regime ebenso angewiesen wie die Bevölkerung. In seiner pragmatischen Machtpolitik gegenüber dem Ausland ähnelt Rohani dem Ex-Präsidenten Hashemi Rafsanjani, manchmal aber verzichtet er auf dessen »moderaten« Ton und spricht Klartext wie der religiöse Führer selbst.

Bei den Verhandlungen mit drei europäischen Außenministern über die Zukunft des iranischen Atomprogramms versprach er, die Urananreicherung für »einen Tag, einen Monat oder auch ein Jahr« auszusetzen. Das alles sei vom nationalen Interesse abhängig. Das nationale Interesse wird aber vom religiösen Führer, dem Wächterrat und dem Nationalen Sicherheitsrat definiert. Als Vorsitzender des Nationalen Sicherheitsrates hat Rohani diese Politik selbst mitformuliert.

Mit dem religiösen Führer Khamenei und dem Sprecher des Wächterrates, Ahmad Jannati, könnte Rohani als Präsident ein Triumvirat bilden, dass die Erhaltung des innenpolitischen Status quo mit einer pragmatischen Außenpolitik verbindet. Jannati stellte allerdings beim letzten Freitagsgebet noch einmal klar, dass es nur dann bessere Beziehungen geben wird, wenn der Westen dem Regime in der Innenpolitik freie Hand lässt: »Ich schäme mich, wenn ich sehe, dass Bush befiehlt, was der Wächterrat tun soll, wenn Israel und Europa sich melden und sich in unsere Angelegenheiten einmischen. Schämen die sich denn nicht? Sie denken, dass sie jeden in den Majlis schicken können, dass sie jeden wie zu Schahzeiten zu Ministern ernennen können. Sie verstehen nicht, dass eine solche Politik zur vergangenen Geschichte gehört. Einmischungen sind verboten. Wenn wir etwas mit Europa zu tun haben, bedeutet dies keineswegs, dass sie alles tun können, was sie wollen.«

Mit den derzeitigen Auseinandersetzungen um die Wahlen scheint sich die Phase des »Reformislamismus« ihrem Ende zuzuneigen. Die erfolglosen und diskreditierten Anhänger Khatamis haben bei den Wahlen nur geringe Chancen. Neben den bürgerlichen Organisationen Nationale Front und Mellat-Partei und den Konstitutionalisten hat sogar die einzige zugelassene islamische Studentenorganisation Tahkime Wahdat zum Wahlboykott aufgerufen. Obwohl die staatlichen Medien unermüdlich zur Teilnahme an den Wahlen auffordern, dürfte die Partei der Nichtwähler die eigentliche Siegerin werden. Denn immer mehr Iraner sind sich darüber im Klaren, dass wirkliche Veränderungen ohne einen regime change unmöglich sind.