Reiht euch ein!

Bevor Demonstrationen etwas verändern, werden sie verboten. Eine kleine Demonstrationsgeschichte von georg fülberth

Es gibt vier verschiedene Arten von Demonstrationen: verbotene, erlaubte, befohlene und erwünschte. Sie lassen sich noch einmal in zwei Hauptgruppen einteilen: affirmative und revolutionäre. Letztgenannte entstehen, wenn überhaupt, aus verbotenen.

Als Erste erkannte dies einst Rosa Luxemburg. In Preußen waren Demonstrationen der Untertanen gegen die Obrigkeit verboten. Als die SPD zu Kundgebungen gegen das Dreiklassenwahlrecht aufrief, wurden sie von der Polizei mit dem Säbel auseinandergetrieben. Daraufhin lud die Partei 1910 zu »Wahlrechtsspaziergängen« in einen öffentlichen Park ein. Die Beteiligung war groß, die Polizei machtlos, und Rosa Luxemburg fragte, wie es weitergehen solle. Ihre Antwort lautete: Auf die Demonstrationen müsse der Massenstreik folgen, und aus diesem könne eine revolutionäre Situation entstehen. Darüber erschrak Karl Kautsky, der Chefideologe der Partei. Er besänftigte: Damit solle man aber noch ein bisschen warten.

Was Rosa Luxemburg gemeint hatte, zeigte sich im Februar 1917 in Petrograd. Auf dem Newskij Prospekt demonstrierten die Massen gegen den Krieg. Natürlich war auch das verboten. Der Zar schickte Militär, das aber nicht einschritt, sondern schließlich sogar mitdemonstrierte. So entstand die Februarrevolution. Von da an waren Demonstrationen in Russland erlaubt. Wenn sie zu heftig und revolutionär zu werden drohten, stand manchmal ein Schutzmann an der Kreuzung und winkte in eine bestimmte Richtung, in der sich ein Schnapsladen befand. Dann war wieder für ein paar Stunden Ruhe.

Die Bolschewiki allerdings blieben nüchtern und stürmten im Herbst 1917 an allen Schnapsläden vorbei direkt in den Winterpalast, den Sitz der provisorischen Regierung. Das war zwar wiederum verboten, doch aus der Übertretung entstand die Große Sozialistische Oktoberrevolution.

Ein Jahr später wurde in Deutschland der Kaiser gestürzt, es kam zu Demonstrationen, Streiks und dem Matrosenaufstand. Danach waren Massenumzüge legal, es sei denn, sie waren kommunistisch und der Polizeipräsident war Mitglied der SPD. Dann konnte es schon einmal geschehen, dass sie verboten wurden. So war es am 1. Mai 1929 in Berlin. Der sozialdemokratische Polizeipräsident Karl Zörgiebel ließ schießen, 31 Arbeiter kamen ums Leben.

Die erlaubten und befohlenen Demonstrationen gibt es schon viel länger. Dazu gehören im Grunde schon die kirchlichen Prozessionen im Mittelalter sowie die Militärparaden. In Deutschland wurden diese ab dem Jahr 1933 wieder üblich, zum Beispiel am 1. Mai. Es war fast schon verboten, nicht zu demonstrieren.

Die zwar nicht befohlene, aber erwünschte Demonstration finden wir nach 1945 in Westberlin und in der Bundesrepublik. Hierzu gehören die Kundgebungen, in denen der Regierende Bürgermeister von Berlin, Ernst Reuter (SPD), die Völker der Welt aufforderte: »Schaut auf diese Stadt!« Von ähnlichem Zuschnitt war der vom Senat angeregte Auflauf, in dem im Februar 1968 die städtischen Bediensteten Westberlins sich gegen eine Anti-Vietnamkrieg-Demonstration wehrten, die leider nicht hatte verboten werden können. Der damalige Regierende Bürgermeister Klaus Schütz (SPD) empfahl seinen Mitbürgern: »Seht Euch diese Typen an!« Er meinte die Langhaarigen, die anschließend in die U-Bahn-Schächte geprügelt wurden.

Die Schlesiertreffen mit bis zu 400 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern gehörten zu den erwünschten Demonstrationen, bekräftigten sie doch seit den fünfziger Jahren den Anspruch der BRD, wieder zu einem Deutschland in den Grenzen von 1937 zu werden.

Verboten dagegen war eine so genannte Friedenskarawane der Freien Deutschen Jugend am 11. Mai 1952 in Essen. Die Polizei erschoss den 21jährigen Philipp Müller. Damit solche Opfer in Zukunft nicht wieder zu beklagen seien, wurde die FDJ 1954 verboten.

Nachdem oppositionelle Kundgebungen etwas aus der Mode gekommen waren, erregte ihre Wiederaufnahme durch die Apo ab dem Jahr 1967 Aufsehen. Das lag daran, dass man sich freiwillig in eine Art Verbotszone begeben hatte. Herablassend blickte man auf die braven Ostermärsche der Atomwaffengegner (ab 1960) herab, die als Latschdemos durch relativ unbewohnte Gegenden führten. Aufmerksamkeit versprach dagegen die so genannte begrenzte Regelverletzung. Hierzu gehörten auch die Blockaden gegen die Auslieferung der Springer-Presse an Ostern 1968 nach dem Attentat auf Rudi Dutschke. In vielen deutschen Städten wurden Verlagseinrichtungen und Druckereien des Springer-Konzerns blockiert, die Auseinandersetzungen kosteten drei Menschen das Leben.

Manche zunächst unerwünschten und oppositionell gedachten Demonstrationen erhielten im Nachhinein Akzeptanz und gewannen so eine affirmative Spätwirkung. Dies gilt für die Kundgebungen gegen die Stationierung neuer Mittelstreckenraketen in den Jahren 1981 bis 1983. Erstmals erreichten sie Teilnehmerzahlen, die vorher nur von den Schlesiertreffen bekannt waren. Sie richteten sich gegen die eigene Regierung, der aber letztlich nur Folgsamkeit gegenüber den USA vorgeworfen wurde. Dabei hatte der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) die Raketen 1977 in einem Vortrag vor dem Londoner Institut für Strategische Studien selbst bestellt.

Bald wurde der Ruf nach »Äquidistanz« zwischen Ost und West laut. So waren diese Demonstrationen schließlich die ersten Manifestationen der selbstbewussten, sich 1990 sogar wieder vereinigenden Nation geworden. Sie fanden ihre legitime Nachfolge in der Berliner Kundgebung gegen die Kriegspläne der USA gegen den Irak am 15. Februar 2003. Die Linke versammelte sich affirmativ hinter ihrem Friedenskanzler.

In der DDR waren oppositionelle Demonstrationen verboten. Sie ließen sich am 17. Juni 1953 beseitigen, im Herbst 1989 nicht mehr. Es ist umstritten, ob daraus eine Revolution oder eine Konterrevolution wurde – je nachdem, wie man ein größeres kapitalistisches Deutschland einstuft. Dass die Durchbrechung von Aufmarschverboten konterrevolutionären Zwecken zu dienen vermag, lässt sich am Beispiel der NPD zeigen.

In dem Maße, in dem das Fernsehen in Gebrauch kam, war nicht mehr nur die Zahl der Teilnehmer an einer Demonstration wichtig, sondern auch die Frage, ob ihr Tun gefilmt und gesendet wird. Auch hier nahm die Kirche wieder eine Vorreiterrolle ein. Als bei einem Besuch des Papstes Johannes Paul II. in Wien nur relativ wenige Gläubige kamen, wurden sie an einem Durchlass am Rande des Heldenplatzes gestaut und in der so erzeugten überfüllten Ecke gefilmt. Das sah in der Übertragung nach einem Massenauflauf aus. Demonstrationsprofis in den USA und Deutschland bemühen sich deshalb um Kooperation mit den Fernsehmenschen, die es schaffen, aus wenig viel zu machen.

Die Kameras können einen Auflauf nicht nur vergrößern, sondern auch verkleinern. Selbst durch korrekte Wiedergabe vermögen Fernsehjournalisten die Intentionen der Veranstalter zu behindern, wenn sie etwa betonen, dass deren Demonstration diesmal kleiner war als vergangenes Jahr oder vorige Woche. Dies widerfährt nun auch den Demonstrationen gegen Hartz IV. Ihre Dynamik verstärkt sich nicht. So wird jetzt eben ständig gemeldet, sie würden kleiner.

Wir kommen zum Schluss: Mochte früher bereits die Durchbrechung eines Verbots zu einer Revolution führen, so genügt dies heute nicht mehr. Vielmehr müssen zusätzlich die Fernsehsender besetzt werden.