Einsame Spitze

Die Elite ist eine der Fetischformen des Kapitalismus: Es darf nicht um Herkunft gehen, und doch dreht sich alles um sie. von felix klopotek

Da fluchte Joseph Ackermann, als er wegen der irritierend hohen Abfindungen der Mannesmann-Manager, die er als ehemaliges Mitglied des Aufsichtsrates zu verantworten hatte, vor Gericht gestellt wurde. Deutschland, so der heutige Chef der Deutschen Bank, sei das einzige Land, »wo die, die Werte schaffen, auch noch bestraft werden«.

Ein bemerkenswerter Ausspruch. Zunächst fällt das Ideologische auf, die handfeste Lüge: Wieso schafft eigentlich ein Manager Werte? Ist es nicht so, dass Ackermann davon profitiert, dass andere Werte schaffen? Aus Ackermann spricht die vulgärökonomische Ideologie, wonach es nicht die verausgabte Arbeit ist, die Wert schafft, sondern ein Geflecht aus Produktionsfaktoren. Innerhalb dieser Faktoren ist der kreative Unternehmer, der kühne Manager oder der geschickte Bankier derjenige, auf den es »im entscheidenden Moment« ankommt.

Dass dies eine Delegitimation der Arbeiterbewegung und ihrer Forderung nach höheren Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen impliziert, ist nur die eine Seite dieser Ideologie. Auf der anderen leistet es eine Bestimmung von Eliten – sie selbst definieren sich durch Arbeit. Ackermann leistet also besonders viel, setzt seinen Intellekt so kreativ ein, dass er Chef der Deutschen Bank wird und für den Reichtum der Nation eine ganz besondere Verantwortung trägt.

Joseph Ackermann zählt zweifellos zur Elite. Er begründet dies nicht durch Herkunft (Adel) oder Religion (Kaste), sondern durch Leistung, die nun mal Arbeit voraussetzt. Vom Tellerwäscher zum Millionär: Wer hart arbeitet und »was leistet«, der kann ganz nach oben kommen. Zu Zeiten des Feudalismus wäre dies keinem Adeligen in den Sinn gekommen, mit Leistung und also Arbeit wollten die damaligen Eliten möglichst wenig zu tun haben. Schlägt man in älteren Fremdwörterlexika nach, findet man noch Spuren der feudalen Naturwüchsigkeit: Elite wird mit »Auslese der Besten« übersetzt (das Wort ist französischen Ursprungs und wanderte über Österreich in den deutschen Sprachraum ein). Heute übersetzt man Elite schlicht mit »Führungskräfte«. Zur Elite gehören diejenigen, die sich in einer sozialen Position befinden, in der sie auf gesellschaftliche Prozesse dominierenden Einfluss nehmen können. Das ist die nüchterne Kurzdefinition.

Ob man zu den Führungskräften gehört, entscheidet zum einen die Stellung im Produktionsprozess. Als Manager oder Aufsichtsratsmitglied, als Justiziar eines großen Unternehmens, Bankier oder Unternehmensberater übt man Kommandogewalt über Lohnabhängige aus. Man darf sich als Motor der Gesellschaft fühlen und stellt Forderungen an die Politik, die von der Auflösung der Flächentarifverträge bis zur Errichtung von Eliteuniversitäten reichen. Bei der Tätigkeit der Manager handelt es sich ökonomisch gesehen um unproduktive Arbeit. Es ist Arbeit, die unmittelbar unter der Herrschaft des Kapitals organisiert ist, sie wirkt nicht im Produktionsprozess, sondern übt Gewalt über ihn aus. Sie sichert und erhält die spezifisch ökonomische Form der bürgerlichen Gesellschaft.

Zum anderen gibt es die Elite, die es in die Staatsapparate verschlagen hat. In der Politik, der Justiz, an der Spitze der öffentlichen Verwaltung und erst recht im Bildungssystem übernehmen die Eliten das, was in der kritischen Gesellschaftstheorie herrschaftssichernde Staatsarbeit heißt. Diese Eliten sorgen »von oben« für die gesamtgesellschaftliche Reproduktion, vermitteln den Interessenausgleich zwischen den wirtschaftlichen Eliten. Wenn Ackermann vor Gericht steht, dann erinnert die Staatselite die Wirtschaftselite daran, dass sie ihren hemmungslosen Egoismus nicht zu weit treiben darf. Die Staatsanwälte hätten Ackermanns Fluch bedenkenlos aufgreifen können: »Kassier nicht so viel ab, leiste lieber was!« Ideologisch betrachtet läuft dieser Vorgang mustergültig ab: Es besteht der Verdacht, dass Ackermann & Co über die Stränge schlugen, diesem Verdacht wird ordnungsgemäß nachgegangen, und am Ende wird verurteilt oder, wie in diesem konkreten Fall, freigesprochen.

Nicht zur Verhandlung steht die Legitimation der Eliten – im Gegenteil, sie soll bekräftigt und gegen etwaige Übeltäter aus den eigenen Reihen verteidigt werden! Der Widerspruch der kapitalistischen Eliten ist, dass sie sich als radikal gesellschaftlich verstehen (es gibt keine natürliche Auslese) und sich gleichzeitig gegen gesellschaftliche Zumutungen (z.B. die Ansprüche der Arbeiterbewegung) ebenso radikal abdichten. Die Elite ist eine der Fetischformen des Kapitalismus: Es darf nicht um Herkunft gehen, und doch dreht sich alles um sie. Dieser Prozess der gesellschaftlichen Renaturalisierung lässt sich empirisch aufzeigen. In seiner großen Studie »Die amerikanische Geldaristokratie« beschreibt Kevin Phillips, wie die bürgerlichen Eliten, die sich gerade vom Adel emanzipiert hatten, die Riten des Adels adaptierten. Dass es Dynastien gibt (Rockefeller I bis III), Politiker stolz auf ihren Stammbaum (John Kerry) bzw. ihren Familienclan (George W. Bush) sind, ist heute noch Indiz für die Existenz eines spezifisch kapitalistischen Adels. Auch dieser Adel zeichnet sich durch Selbstreproduktion aus. Keine Elite kommt ohne die Elemente Kontinuität, Geschlossenheit und Abgrenzung aus. Es gibt durchlässige Bereiche, gerade auf dem Feld der Politik, denn irgendwo müssen es die Leute vor Augen geführt bekommen, dass auch ein Arbeitersohn Minister werden kann.

Es ist eine Fehldeutung der Arbeiterbewegung gewesen, diese Renaturalisierung vom gesamtgesellschaftlichen Produktionsprozess zu trennen. Realsozialisten und Sozialdemokraten galt der Produktionsprozess als prinzipiell neutral, der halt falsch geleitet sei, nämlich von den Agenten des Privateigentums. Würde man sie davonjagen bzw. durch egalitäre (Aus-) Bildung überflüssig machen, ergäbe sich der Rest quasi von selbst. Die schizophren anmutende Doppelkonstruktion, dass die Eliten einerseits dem Produktionsprozess gegenüber stehen (die Staatseliten) bzw. über ihn herrschen (die Wirtschaftseliten) und doch direkter Ausdruck des Kapitals sind, dem Produktionsprozess entspringen, ist den meisten Vertretern der alten Arbeiterbewegung entgangen.

Im Realsozialismus hat die Partei die Kapitalisten davongejagt und die Eliten, die aus dem »Bündnis von Intelligenz und Arbeiterklasse« resultierten, privilegiert. Die einstige Avantgarde verschanzte sich schließlich paranoid hinter ihrem Elitenbegriff und war von den Verwerfungen um 1989 herum völlig überrumpelt. Im Westen waren es die Sozialdemokraten, die über den Weg der Bildung das Elitensystem durchlöchern wollten. Als die Sozialdemokraten in den Siebzigern die Bildungsreform angingen und die Universitäten öffneten, griffen sie aber nicht Machtpositionen des Kapitals an, sondern exekutierten qua staatlicher Bildungspolitik einen Modernisierungsschub in der Entwicklung der Produktivkräfte. Es ist wohl die Ironie der Geschichte, dass es eine sozialdemokratisch geführte Bundesregierung ist, die heutzutage mit diesen Bildungsidealen, ihren eigenen, bricht.