Esst doch Kuchen!

Die letzte proletarische Studentin von doris akrap

Den Göttern muss verdammt langweilig gewesen sein als sie beschlossen, den Studenten zu erschaffen. Er ist eine jämmerliche Kreatur, deren Alltag von Fußnoten und deren Sprache von Kürzeln bestimmt wird. Auf die Frage nach der Art der Beschäftigung, gestellt von Behördenformularen, ehemaligen Mitschülern und Arbeitskollegen, kann er immer nur »Student« antworten und die Ermäßigung gilt ihm als Naturrecht.

In absehbarer Zeit wird es vollkommen unmöglich sein, als Lohnabhängige ein ordentliches Studium zu absolvieren. Als ich mich jedoch Mitte der Neunziger immatrikulierte, gehörte die Spezies der »Langzeitstudenten« noch nicht zur akut bedrohten Minderheit. Trotzdem wollte ich aus ökonomischen, manchmal auch aus ästhetischen Gründen nie zu dieser gehören, denn der Kampf um den Klassenerhalt war längst eingeläutet, und im Studentenmilieu gehörte ich als Kind proletarischer Eltern sowieso schon zu einer Minderheit.

Die Antwort »Studi« war in meinem Fall eigentlich immer schon falsch. Nicht etwa, weil ich in irgendwelchen Vollversammlungen rumhing, mich selber bestreikte und als völlig freiwillig Immatrikulierte die Abschaffung der Universität forderte. Wegen meines stets prekären Kontostands musste ich mich von den Büchern ab- und der Arbeitswelt zuwenden: Putzfrau beim maoistischen Motorradhändler, Zollagentin in Bukarest, Plakatkleberin in Marzahn, Bleistiftorganisation im Bundestag, Versuchsobjekt im IT-Consulting, Mystery Shopperin.

Meine ersten Semester verbrachte ich also nicht im AStA wie meine Freunde, sondern bei der Arbeitsvermittlung der Universität. Täglich von 7.30 bis 17 Uhr wartete ich darauf, einen Tagelöhnerjob abzugreifen. Meine Konkurrenten waren vor allem Migranten, die sich mit der Immatrikulation an einer deutschen Uni nicht die verlängerte Alimentierung durch die Eltern sicherten, sondern Kurzzeitjobs, deren Aufwandsentschädigung für den Lebensunterhalt reichen musste.

Die allgemeine Misere schlägt auf das Klassenbewusstsein der Studenten zurück. Für linke Studenten bildet das Proletariat nach wie vor eine wichtige Bezugsgröße. Taucht aber ein Exemplar aus der Unterschicht in ihren Kreisen auf, das sich nicht aufführt wie ein Fließbandagitator und sämtliche Betriebsräte der Stadt kennt, gilt das mittlerweile als Kuriosität. So erhielt ich als Antwort auf meine Ankündigung, möglichst schnell einen Abschluss zu machen, die lapidare Bemerkung, dass man lieber solange wie möglich an der Uni bleibe, schließlich müsse man ja sonst arbeiten gehen. »Ach so! Aber wovon zahlst du denn jetzt deine Miete?« – »Wieso, ich studiere doch noch!« Das klingt ein bisschen nach Marie Antoinettes Vorschlag, doch Kuchen zu essen, wenn es an Brot mangele.

So machen die Studenten freiwillig so viele unbezahlte Praktika wie möglich, weil sie glauben, das sei eine gute Gelegenheit, sich Einsicht in die Arbeitswelt zu verschaffen. Gleichzeitig konstatiert man in jedem Hartz-Flugblatt wie schlimm es sei, dass so viele Leute ihre Arbeitskraft billig verkaufen müssen. Schlimm, aber niemand gab mir einen Teil seines elterlichen Unterhalts, damit ich mich nicht mehr verkaufen musste.

Studenten leisten sich den Luxus zu arbeiten, weil man sonst zu sehr den Eltern auf der Tasche liegt und darüber bekommen sie dann Neurosen. Nicht etwa weil Lohnarbeit scheiße ist, sondern weil man befürchtet, das nicht zu schaffen, was die Eltern schon längst haben: ein Haus, einen Mann, ein Auto und den Beruf fürs Leben.