Doppelte Umdeutungen

Anti-Antifaschismus im ehemaligen Jugoslawien

Wenn am 9. Mai in Moskau der 60. Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus gefeiert wird, liegt dieses Jubiläum in Belgrad schon ein halbes Jahr zurück. Die jugoslawische Hauptstadt wurde bereits am 20. Oktober 1944 von der deutschen Besatzung befreit. Im Unterschied zu fast allen anderen osteuropäischen Ländern war es in Jugoslawien jedoch nicht die Rote Armee, sondern eine über 400 000 Kämpferinnen und Kämpfer starke Partisanenbewegung, welche die Deutschen und ihre lokalen Verbündeten besiegte. Sowjetische Einheiten unterstützten die Partisanen zwar im Kampf um Belgrad, zogen dann aber wieder ab.

War die weitgehend selbständige Befreiung von der deutschen und italienischen Besatzung im realsozialistischen Jugoslawien das zentrale Moment der Identitätsstiftung und Legitimierung des politischen Systems, steht das Gedenken an den Krieg nach dem Zerfall Jugoslawiens in seinen Nachfolgerepubliken unter den Vorzeichen einer doppelten Umdeutung.

Einerseits propagiert eine starke Rechte einen antikommunistisch begründeten Anti-Antifaschismus. Die Befreiung vom Nationalsozialismus wird so als ein lediglich zweitrangiges Ereignis interpretiert, während der Kommunismus zum eigentlichen Jahrhundertverbrechen erklärt wird. Der Anti-Antifaschismus öffnet dabei die Tür für die Rehabilitierung verschiedener Kollaborateurstruppen, die im Zweiten Weltkrieg mit den Deutschen zusammengearbeitet haben.

Andererseits erfolgt unter den Vorzeichen des Anti-Jugoslawismus eine Nationalisierung der jeweiligen lokalen Antagonisten des Zweiten Weltkriegs. So unternahm in den neunziger Jahren in Kroatien der Unabhängigkeitspräsident Franjo Tudjman, der im Zweiten Weltkrieg selbst ein Partisanengeneral war, den Versuch, die kroatischen Partisanen mit der faschistischen Ustascha-Bewegung zu versöhnen, indem er Symbole beider Bewegungen in die Inszenierung seiner Person integrierte. Das jüngste Beispiel dieser nationalen Integrationspolitik lieferte zu Beginn des Jahres Serbien: Hier wurde die antikommunistische serbisch-monarchistische Tschetnik-Bewegung per Gesetz mit den kommunistischen Partisanen gleichgestellt. Begründet wurde das im Parlament fast einstimmig angenommene Gesetz mit der abstrusen Behauptung, beide Verbände hätten für Serbien gekämpft.

Der antikommunistisch begründete Anti-Antifaschismus, die Relativierung der Verbrechen des Nationalsozialismus und die Rehabilitation von Kollaborateuren sind geschichtspolitische Elemente, die sich während des »Demokratisierungsprozesses« seit 1989 nicht nur im ehemaligen Jugoslawien, sondern in ganz Ost- und Südost-Europa mehr oder weniger deutlich durchgesetzt haben.

In Serbien zeigt sich allerdings eine Besonderheit: Russland gilt in Belgrad nicht als das absolut Böse. Auf der kleinen Gedenkfeier zum vergangenen 20. Oktober wurde sogar die russische Nationalhymne gespielt, und serbische Politiker halten sich nicht nur am 9. Mai in Moskau auf. Der Grund dafür liegt allerdings weniger im Zweiten Weltkrieg als in der Gegenwart: Der Nationalisierungprozess in Serbien hat auch die mit dem gemeinsamen orthodoxen Glauben begründete slawische Allianz zwischen Serben und Russen aktiviert. Der gemeinsame Kampf gegen vom Westen unterstützte muslimische Separatisten im Kosovo und in Tschetschenien tut das Übrige.

boris kanzleiter, belgrad